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1.1.2.2 Erwartungshaltung als Wahrnehmungsfilter

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Der nächste Schritt von Bewusstmachung ist da erforderlich, wo es um die angeblich unvoreingenommene In-Augenschein-Nahme geht, um sich selbst ein Bild zu machen. Das gibt es praktisch nicht. Egal, ob wir jemanden direkt fragen, ob wir irgendwohin reisen, um etwas zu überprüfen, oder ob wir Medien konsumieren, wir haben das bereits Vorgewusste – die Vorurteile – als strukturierendes Moment unserer Wahrnehmung immer mit dabei. Erwartungen fungieren wie ein Wahrnehmungsfilter und lassen uns Erwartetes (vor)schnell akzeptieren und als Bestätigung werten, während wir Überraschendes oder gar Widersprüchliches nur widerwillig miteinbeziehen und möglichst aussortieren. Wer dies vertiefen möchte, kann sich mit Prototypentheorie und Framingforschung eingehender befassen. Frames sind einmal etablierte Bezugs- und Deutungsrahmen (siehe oben), die natürlich auch Medienschaffende verinnerlicht haben und deren Wahrnehmung beeinflussen. Sie erklären das, was man in der Psychologie als »Confirmation Bias« bezeichnet, ein viel weiter verbreitetes Phänomen als gemeinhin angenommen.

Unsere Erwartungen wirken als unbewusste Auswahlmechanismen, wie oben beschrieben, und der Pars-pro-toto-Effekt trägt dazu bei, dass wir uns mit einem bestätigenden Beispiel schnell zufriedengeben. Tatsächlich ist die Neigung groß, ein einziges Beispiel für den Beweis des großen Ganzen zu halten, während wir uns sehr schwer damit tun, widersprechende Fakten überhaupt zu erkennen.

Gelingt konterkarierenden Fakten dennoch das Vordringen durch unseren Wahrnehmungsfilter, dann haben wir einige »Reparaturmechanismen« parat, um unser (Welt)Bild möglichst nicht zu gefährden – denn Orientierung und Konstanz ist evolutionär wichtig und löst eine Art Verteidigungsreflex aus. So bieten sich (Um)Interpretationsmöglichkeiten an, etwa das Beobachtete zur Ausnahme zu erklären, welche ja »die Regel« bestätigen würde. Dieses aus der Prototypenforschung15 bekannte Verhalten beschreibt beispielsweise die Fachfrau für Geschlechterforschung an der Universität Frankfurt, Helma Lutz. In Bezug auf das verfestigte Bild, das muslimische Frauen im Mediendiskurs einnehmen, nennt Lutz den vielfach beobachtbaren Reflex »Ins stereotype Licht zurückrücken«. Dieser Mechanismus lässt sich gut am Beispiel Benazir Bhuttos erläutern. 1988 war es nicht nur für Pakistan ungewöhnlich, dass eine Frau Ministerpräsidentin wurde, aber das Faktum widersprach vor allem dem hiesigen Bild »der unterdrückten muslimischen Frau«. Erklärungen wie, dass der Analphabetismus der Leute, das Erbe ihres Vaters Zulfikar Bhutto oder gar eine besondere Wahlstrategie der Schiiten ihre Wahl ermöglicht hätten, halfen dabei, die eigene Vorstellung von der Befindlichkeit (aller) muslimischer Frauen nicht revidieren zu müssen.16

Natürlich ist das Phänomen nicht auf Islam- und Frauenbilder beschränkt, es lässt sich beispielsweise auch in Bezug auf das Afrika-, Russland-, Israel- oder DDR-Bild feststellen und in Magazinsendungen, dem Auslandsjournal oder auch den Nachrichtenformaten in TV, Radio oder Print finden – wie gesagt, wenn überhaupt Informationen, die nicht den gängigen Frames entsprechen, durchdringen.

In diesem »Reparatur«-Mechanismus kann ein Teil der Begründung dafür liegen, was in Mediendiskursen immer wieder als Doppelmaß auszumachen ist. Man bewertet Fakten nicht gleichwertig, sondern im eigenen Modell – entweder man ordnet sie als zentral und bestätigend an oder man verweist sie auf den Platz eines Randphänomens, das mit zusätzlichen Erklärungen plausibel dorthin verwiesen wird. Während man umgekehrt bevorzugte Fakten als Beweis für die eigenen Vorannahmen wertet.

Diese auf der individuellen Ebene beobachtbaren Abläufe werden begünstigt durch ständige Wiederholungen der immer gleichen Ausschnitte, deren Einordnung und Interpretation. So entstehen auch kollektiv verankerte Kategorien und Wahrnehmungsraster. Nicht geprüfte Fakten im Sinne der Aufklärung bilden demnach Wahrheit(svorstellungen), sondern das vielfach Wiederholte. Auch dies ist ein Grundprinzip menschlicher Wahrnehmung: Wiederholen ist Überzeugen.

So entstehen aus einmal erfahrenen Halbwahrheiten Wahrnehmungsframes, die das Annehmen weiterer Fakten begünstigen oder erschweren; und somit entstehen kohärente Systeme, die nach eigenen (oder kollektiv-kultivierten) Vorlieben und nicht nach rationalen Betrachtungen organisiert sind – gemäß der Erkenntnisse von Prototypentheorie und Framingforschung und entgegen dem, was man für »aufgeklärt« und »rational« hält. Und dies trifft auf alle Menschen zu – auf im Journalismus Tätige ebenso wie auf Medienkritiker. So kann sich jeder sein eigenes, in sich plausibles System bilden.

Der (unbewussten und reflexartigen) Suche nach Bestätigung kann nur durch gezieltes Überprüfen von Gegenthesen begegnet werden – eine Übung, die nicht nur im Journalismus, sondern auch in den Wissenschaften mehr Förderung bedarf, damit nicht Affirmation vor Aufklärung wirkt und man sich nicht zu schnell mit gefundenen Belegen zufriedengibt, statt sie mit Widersprüchen zu konfrontieren und unter Einbeziehung weiterer Interpretationsmöglichkeiten zu überprüfen.

Kohärente Systeme entstehen im langen Prozess des Hineinwachsens in eine Gesellschaft (durch die Sozialisation), wozu neben Alltagserleben und Schulbildung auch Belohnungssysteme und Trauma-Erfahrungen gehören. Und natürlich gehören dazu auch vielfache Medieneindrücke, von Bilder- und Schulbüchern über Games- und Lernsoftware bis hin zu Social Media, Influencern, Apps und Chatgruppen, Nachrichten via TV, Radio und Prints, ob on- oder offline. So unterschiedlich die individuelle Umgebung und Mediennutzung auch sein mag, das Hineinwachsen in kohärente Bewertungssysteme bleibt effektiv – rassistische Stereotype sind beispielsweise so weit verbreitet und Teil des kollektiven Gedächtnisses, dass sie auf allen Kanälen weitervermittelt werden. Der Literaturwissenschaftler Jürgen Link hat mit seinem Schema zur Kollektivsymbolik die Bewertungskategorien unserer Gesellschaft nachgezeichnet.


www.diss-duisburg.de/wp-content/uploads/2014/06/Bild-1-Kollektivsymbole.jpg (aufgerufen am 10.09.2020).

Seine Grafik zeigt im Grunde das auf, was auch Lakoff & Johnson als Grundgerüst unserer Bewertungsmaßstäbe ausmachen: Orientierungskategorien wie »Innen ist besser als Außen«, »Oben ist besser als Unten«, »Entwicklung findet von links nach rechts statt« und so weiter. Wichtig ist zu erkennen, dass es sich nicht um eine natürliche Ordnung handelt, sondern eine soziale unter dem Einfluss von Bewertung.

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