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I. Begriff des Beschuldigten

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1. Die StPO bezeichnet denjenigen, gegen den das Strafverfahren betrieben wird, je nach Lage des Verfahrens unterschiedlich:

Beschuldigter ist er während des gesamten Verfahrens[1], er heißt jedoch

Angeschuldigter, wenn gegen ihn die öffentliche Klage erhoben ist (§ 157 1. Alt. StPO), dh wenn die Anklageschrift eingereicht worden ist (§ 170 I StPO) und

Angeklagter, wenn die Eröffnung des Hauptverfahrens beschlossen ist (§ 157 2. Alt. StPO).

Während der Beschuldigte im gemeinrechtlichen Strafprozess noch als Objekt des Verfahrens eingestuft wurde, ist er nunmehr Verfahrenssubjekt, das mit erheblichen Rechten ausgestattet ist und den Verfahrensgang beeinflussen kann[2]. Gerade diese rechtlich geschützte Position des Beschuldigten macht es erforderlich, fassbare Kriterien für die Begründung der Beschuldigtenstellung herauszuarbeiten, um zu verhindern, dass die Strafverfolgungsorgane einem Verdächtigen die Beschuldigteneigenschaft „vorenthalten“, um so die ihm zustehenden Rechte zu unterlaufen[3]. Leider ist der Begriff des Beschuldigten weder in § 157 StPO noch anderswo in der StPO definiert. Diese Aufgabe fällt deshalb Rspr und Schrifttum zu.

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2. Denkbar ist es, die Beschuldigtenstellung einer Person allein vom objektiv gegen sie bestehenden Tatverdacht abhängig zu machen[4]. Da jedoch auch das Gesetz in den §§ 55, 60 Nr 2 StPO davon ausgeht, dass es tatverdächtige Zeugen gibt, dh der bloße Tatverdacht gegen eine Person diese nicht automatisch zum Beschuldigten macht, muss nach zutreffender und ganz hA zum Tatverdacht ein Willensakt der Strafverfolgungsbehörde hinzutreten, in dem zum Ausdruck kommt, dass sie das Strafverfahren gegen den Verdächtigen als Beschuldigten betreiben will[5] (subjektiv-objektive Beschuldigtentheorie). Unzweifelhaft liegt dieser Willensakt dann vor, wenn ein förmliches Strafverfahren gegen eine Person als Beschuldigten eingeleitet oder sie ausdrücklich als Beschuldigter vernommen wird. Die Verfolgungsbehörde ist verpflichtet, einen Verdächtigen formell zum Beschuldigten zu erklären, wenn die gegen ihn vorliegenden Verdachtsmomente sich zu einem Anfangsverdacht verdichtet haben (§ 152 II StPO), dh wenn konkrete tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen, die nach den kriminalistischen Erfahrungen die Beteiligung des Betroffenen an einer verfolgbaren Straftat als möglich erscheinen lassen[6]. Hierbei steht der Strafverfolgungsbehörde nach heute hA ein Beurteilungsspielraum zu[7] (vert. Rn 311). Zwecks Vorbereitung dieser Entscheidung sind in sehr eingeschränktem Maße sog. „Vorermittlungen“ zulässig (s. dazu Rn 479).

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Inzwischen ist allgemein anerkannt, dass die Begründung der Beschuldigteneigenschaft auch konkludent zum Ausdruck kommen kann[8]. Insoweit ist der Rechtsgedanke des § 397 I AO heranzuziehen[9]. Dementsprechend wird ein Verdächtiger dann unabhängig vom Willen der Strafverfolgungsorgane konkludent zum Beschuldigten erklärt, wenn gegen ihn eine Maßnahme angeordnet oder beantragt wird, die nur gegen einen Beschuldigten zulässig ist, wie zB Haftbefehl (§§ 112 ff StPO)[10], vorläufige Festnahme (§ 127 II StPO)[11], Untersuchungen und erkennungsdienstliche Behandlung nach §§ 81a, 81b StPO[12] oder Antrag auf Vernehmung eines Zeugen durch den Ermittlungsrichter in dieser Sache[13].

Mit den genannten Grundsätzen nicht zu lösen sind jedoch diejenigen Fälle, in denen sich infolge der Ermittlungen der Tatverdacht auf eine oder mehrere Personen konzentriert, es aber an Zwangsmaßnahmen fehlt, die diese konkludent zu Beschuldigten erklären könnten. Nach der Rspr erhält ein Verdächtiger auch dann den Status eines Beschuldigten, wenn ihm dieser willkürlich vorenthalten wird, um Beschuldigtenrechte zu umgehen[14]. Das Erfordernis des Willensaktes eines Strafverfolgungsorgans wird somit ab einem bestimmten Verdachtsgrad für die Begründung der Beschuldigtenstellung aufgegeben. An dessen Stelle tritt eine Wertung nach objektiven Kriterien. Diese Inkonsequenz ist zum Schutz der Beschuldigtenrechte durchaus akzeptabel.

Als Herrin des Ermittlungsverfahrens hat die StA im Rahmen ihrer Leitungs- und Kontrollbefugnisse (o. Rn 132, 161) darauf hinzuwirken, dass dem Status des zu Vernehmenden und etwaigen daraus abzuleitenden Belehrungspflichten gerade auch bei Ermittlungen der Polizei Rechnung getragen wird[15].

Beispiel (nach BGHSt 51, 367)[16]: Ehefrau G und Tochter J sind plötzlich spurlos verschwunden. Nach mehreren Monaten verdichtet sich bei der Kriminalpolizei immer mehr der Verdacht, dass der Ehemann A beide getötet hat. Um in dieser „Vermisstensache“ Klarheit zu bekommen, vernimmt die Polizei in einer fast 10-stündigen, nur von kurzen Pausen unterbrochenen „Zeugenvernehmung“ den A. Hierbei werden ihm die „Schwachstellen“ seiner bisherigen Auskünfte in eindringlicher Form vorgehalten und er wird aufgefordert, eventuell zu sagen, wo die Leichen sind, und es wird die Zustimmung zur Untersuchung seines Hauses mit Leichensuchhunden gefordert, die A auch erteilt.

Lösung: Da es der Polizei erkennbar insbesondere darum geht, den A mit Ungereimtheiten seines bisherigen Aussageverhaltens und zuletzt direkt mit dem Vorwurf von Tötungsverbrechen zu konfrontieren, ist angesichts der Stärke des Tatverdachts und der Begleitumstände der Vernehmung (Leichensuchhunde) die Vorenthaltung der Beschuldigteneigenschaft willkürlich. Hier liegt also keine „Zeugen-“, sondern eine „Beschuldigtenvernehmung“ vor. A hätte gem. § 136 I StPO über den Tatvorwurf und das Recht der Verteidigerkonsultation etc. belehrt werden müssen (zur Verwertungsproblematik s.u. Rn 179, 210 und 237).

▸ Weiterer Beispielsfall bei Beulke, Klausurenkurs III, Rn 331.

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3. Häufig ist die Frage, ob eine bestimmte Person, die sich den Strafverfolgungsorganen gegenüber äußert, als Beschuldigter eingestuft werden muss, auch deshalb schwer zu beantworten, weil der eigentlichen Beschuldigtenvernehmung uU noch „Vorstadien“ der Ermittlungstätigkeit vorausgehen können:

Bei sog. Spontanäußerungen – das sind Äußerungen, die gegenüber einem hinzukommenden Strafverfolgungsorgan ohne Befragung erfolgen – fehlt es an einer „Beschuldigteneigenschaft“, sodass auch keine speziellen Beschuldigtenrechte eingreifen.

Bei der sog. informatorischen Befragung werden die Strafverfolgungsorgane zwar aktiv, sie verdächtigen aber noch keine konkrete Person, sondern orientieren sich erst über das Geschehen, zumeist unmittelbar nach Ankunft am Tatort. Mangels eines (konkreten) Anfangsverdachts handelt es sich dabei noch nicht um eine Beschuldigtenvernehmung[17]. In welchem Ausmaß die Beschuldigtenrechte eingreifen, ist im Einzelfall umstritten.

Erst wenn sich (zB auf Grund einer informatorischen Befragung) ein Anfangsverdacht (dazu ausführlich Rn 479) ergibt, wird die Beschuldigteneigenschaft durch ausdrücklichen oder schlüssigen Willensakt der Strafverfolgungsorgane begründet. Es gelten dann die Regeln über die Beschuldigtenvernehmung[18].

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4. Der Anfangsverdacht (Möglichkeit der Tatbegehung) ist nicht identisch mit den intensiveren Verdachtsgraden, die an anderen Stellen von der StPO gefordert werden.

Ein hinreichender Tatverdacht ist Voraussetzung der Anklageerhebung (§ 170 I iVm § 203 StPO); unter hinreichendem Tatverdacht ist die Wahrscheinlichkeit zu verstehen, dass der Beschuldigte eine strafbare Handlung begangen hat und verurteilt werden wird (dazu Rn 548).

Ein dringender Tatverdacht ist Voraussetzung einer Reihe einschneidender Zwangsmaßnahmen wie zB der Verhängung von U-Haft (§ 112 I 1 StPO). Dringender Tatverdacht ist gegeben, wenn nach dem gegenwärtigen Stand der Ermittlungen die hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass der Beschuldigte Täter oder Teilnehmer einer Straftat ist (dazu Rn 320).

Somit entsteht – dem Verdachtsgrad nach – die folgende Stufenleiter[19].

Übersicht 3:

Verdachtsformen


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§ 7 Der Beschuldigte, seine Vernehmung (Grundzüge) und seine Rechte und Pflichten › II. Die Vernehmung des Beschuldigten (Grundzüge)

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