Читать книгу Was fehlt, wenn uns die Tiere fehlen? - Simone Horstmann - Страница 11

Das tote Tier

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Ihr graubraunes Fell war makellos. Ein verheißungsvoller Aprilwind strich darüber und teilte es so, dass das weiße Unterfell sichtbar wurde. Während ich mich zu der Maus auf die moosbewachsene Waldlichtung kniete, musste ich daran denken, dass ein solch perfektes Fell schon bei gesunden Mäusen selten zu finden ist. Meist sind die Tiere, wenn auch nicht überdeutlich, doch erkennbar von ihrer Umwelt und bisweilen von ihrem Alter gezeichnet. Wer nach einem futterlosen Tag bereits dem Hungertod nahe ist, mag andere Sorgen haben als ein glänzendes Fell. Die kleine Maus vor mir jedoch schien äußerlich perfekt.

Mein Hund war beim Spaziergang durch den Wald auf sie gestoßen. Wie immer lief er mehrere Meter vor mir her, sodass ich mit einigen Schritten Abstand nur beobachten konnte, wie er kurz an etwas auf dem Boden roch und dann weiter trottete. Ich blieb stehen, erkannte die Maus und hockte mich vor sie, ließ sie nicht aus den Augen. Ich konnte nicht sofort erkennen, ob sie tot war oder lebte, zumindest so gerade noch. Vorsichtig berührte ich die Tasthaare an ihrer Nasenspitze. Keine Reaktion. An ihr gab es keinerlei äußerlich erkennbare Verletzungen, keine Wunden oder Bissspuren, wirklich nichts, was etwa auf einen Angriff durch ein anderes Tier hingedeutet hätte.

Etwas an der Situation ließ mich plötzlich unsicher werden. Mir fiel auf, wie sehr ich mich für so vieles schämte, was ich gerade dachte – dass ich mich überwinden musste, sie zu berühren, aufgrund einer diffusen, frühkindlichen, vielleicht nie wirklich ausgesprochenen, aber auch deswegen umso wirkungsvolleren Regel: Fasse nichts Totes an. Ich schämte mich auch, als ich einige Blüten und Zweige neben ihr drapierte. Was sollten andere Waldspaziergänger denken, wenn sie das sahen? Kein Grab, eher eine Aufbahrung der Leiche. Dann wieder: Die Scham, sich zu schämen, es war doch gut gemeint. Aber wie war es eigentlich genau gemeint?

Ich bin aufgewachsen in einer Tradition, in der solch eine Situation stets von den schulmeisterlichen Worten eines Großvaters begleitet wurde, die im getragenen Ton einer Moll-Melodie über den Lauf der Dinge, das Geborenwerden und Sterben, Entstehen und Vergehen sinnierten. Dieser Großvater ist prototypisch, wir alle kennen ihn. Er begleitet seine Enkelkinder durch den Wald, lehrt die Zusammenhänge der Natur, er spricht die Vertonungen der endlosen Tierverfilmungen, kommentiert zurückgelehnt das Zerfleischen eines Zebras durch afrikanische Löwen. Noch während sie ihre Reißzähne in das zuckende Fleisch rammen, spricht der Großvater die tröstenden Worte, die große Erzählung vom Kreislauf der Natur. Bis heute weiß ich, dass es mir und allen aufgegeben ist, einen Reim darauf zu finden. Während ich auf dem Waldboden neben der toten Maus in der Hocke saß, fand ich keinen. Bestenfalls war da ein kleiner Binnenreim, die Wiederholung von etwas Größerem, das noch fehlte. Die großen Erzählungen der Natur ließen mein Bestattungsflorilegium tatsächlich wie das Werk eines weltfremden Kauzes erscheinen. Ich war in diesem Moment sicher: Wenn ich mich umdrehen würde, gerade in diesem Moment, ich müsste dort die zigtausend Vorgänger dieser Maus sehen, ihre Myriaden an längst toten Verwandten. Wie eine Mauer würde die Masse der Toten hinter mir jenes Recht einklagen, das ich nun jener einen winzigen Maus und ihrem Tod zugestand.

Die Individuen in dieser Mauer schienen dem Großvater Recht zu geben. Sie bezeugten, dass auch der Aufstand gegen den Naturverlauf einstmals vor eben dieser Natur zu kapitulieren hätte. Ich habe mich an diesem Tag nicht umgedreht. Hermes, mein Hund, war daran wie so oft schuld, aber es war auch meine Entscheidung. Und es war das makellose Fell der kleinen Maus. Erst als wir den Wald bereits hinter uns hatten, fiel es mir plötzlich ein: Corpus incorruptum – der unverweste Leichnam – ist ein Kriterium kirchlicher Heiligsprechungsverfahren. Die kleine Maus war dem Kreislauf der Natur nicht entkommen, sie war ganz eindeutig tot. In ihrem perfekten Fell aber sah ich den Beginn einer neuen, unerzählten Geschichte: vom schlimmsten Raubtier schlechthin, das seine Beute urplötzlich verschont.

Religion beginnt im Ernste doch erst dort,

wo aller Grund vorhanden scheint, sie aufzugeben.

JOSEPH BERNHART

Was fehlt, wenn uns die Tiere fehlen?

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