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Eine Reise ins Herz der Finsternis

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Die großen Tiernarrative der Moderne lassen sich auf zwei wesentliche Formeln bringen: Tiere sind dem Menschen Sinnbild für die pure Lebendigkeit, die überbordende Fülle und wilde Freude des Lebens, die glückselige Unmittelbarkeit jener Gebundenheit an den Pflock des Augenblicks, von der Nietzsche beinahe sehnsüchtig sprach.4 Zugleich konfrontieren sie ihn mit dem Schrecken der Kontingenz, der Leere und der Auslöschung des Lebens. Unter den Händen sterben uns die Tiere weg, widersetzen sich dem Wunsch selbst der ihnen wohlgesonnenen Menschen; eine letzte Spritze vom Tierarzt ins Herz einer Katze, und was zuvor lebte, ist vergangen. Ein solches Verschwinden ist selbst fast ein Nichts, das Wegbrechen des Lebendigen innerhalb eines einzigen Augenblicks; und wer erst einmal erlebt hat, wie jemand derart ins Nichts verschwindet, dem ist eben dieses Nichts bereits auf den Fersen.

Den horror vacui, das Entsetzen angesichts eines solchen Nichts, hat niemand eindrucksvoller beschrieben als Joseph Conrad: Sein wohl bekanntester Kurzroman „Herz der Finsternis“ (1899) trägt ein Bild für jenes Grauen vor dem Abgrund des Nichts im Titel.5 Er schildert die Begegnung mit der afrikanischen Wildnis, die sich trotz all ihrer anfänglichen Schönheit jeglichem Sinn konsequent entzieht. Conrads Protagonist, der Seemann Marlow, soll entlang des Kongos einen Mann namens Kurtz ausfindig machen. Der ehemalige Menschenfreund gilt mittlerweile als brutales Ungeheuer: „Unter den Teufeln des Landes hatte er einen der obersten Plätze eingenommen“6 – tyrannisch, durchtrieben und mit unvorstellbarer Gewalt regiert er das von ihm eroberte Gebiet. Die Eingeborenen, die Kurtz trotz – oder wegen? – seiner Grausamkeiten als einen Zauberer verehren, wollen ihn zunächst nicht gehen lassen. Kurtz stirbt schließlich auf der beschwerlichen Rückreise und haucht mit einem Fensterblick in die Wildnis seine letzten – berühmt gewordenen – Worte: „Das Grauen, das Grauen!“7 Die jahrelange Konfrontation mit der Wildnis im tiefsten Herzen Afrikas hat, so deutet es Marlow halb beängstigt, halb beeindruckt, offenbar Besitz von Kurtz ergriffen. Man missversteht diese Übereignung aber, wenn man sie so auffasst, dass Kurtz ganz einfach Kultur gegen Natur, Zivilisation gegen Wildnis eingetauscht und demnach einen bloßen Wechsel des Herrschaftsprogramms vollzogen hätte. Es ist komplizierter: Das Grauen, das Kurtz ergreift, ist das schiere Entsetzen angesichts einer Wildnis, die in all ihrer lebendigen, farbenfrohen Vielfalt jeglichen Sinn verweigert. Ihr beständiges Raunen, Plätschern, Zirpen und Rufen ist für Kurtz nicht mehr als ein nur oberflächlich überspieltes Schweigen, und die Kontingenz, die Nicht-Notwendigkeit dessen, was in ihr ist, nur die grausige Kehrseite dieser lebendigen Vielfalt. So sieht es schließlich auch Marlow:

„Ich glaube, am Ende wusste er davon – erst ganz am Ende. Aber die Wildnis hatte ihn frühzeitig erkannt, und sie hat für die groteske Invasion furchtbare Rache an ihm genommen. Ich glaube, sie hatte ihm Dinge über sich selbst zugeflüstert, von denen er nicht wusste, Dinge, deren er sich nicht bewusst war, bis er mit dieser tiefen Einsicht zu Rate ging – und dies Flüstern hatte eine unwiderstehliche Faszination auf ihn ausgeübt. Es hallte dröhnend in ihm wider, denn er war im Innern hohl.“8

Kurtz, der der Wildnis so lange gelauscht hat, ist in gewissem Sinne nur das konsequente, zugleich wahnsinnig gewordene und doch geistig vollkommen klare Ergebnis jener ungezähmten Wirklichkeit, die in ihrem Herzen, im tiefsten Grund ihres Seins, das Nichts in sich trägt und bisweilen freizügig offenbart. Sie, die zum Subjekt evolvierte Natur, spiegelt jenes Sinnvakuum, das auch im Menschen entdeckt werden kann. Sie ist frei von jeder Botschaft, jeglichem tieferen Sinn, einzig pure Kontingenz, die demjenigen, der nur lang genug lauscht, auf erschütternde Weise mitteilt, dass sie ihm rein gar nichts mitzuteilen und zu bedeuten hat. Die natura loquitur, die sprechende Natur, von der vor allem das Mittelalter noch so verzückt war, wird spätestens bei Conrad einem Fundamentalverdacht ausgeliefert: Was wäre, wenn die Natur zwar spricht, aber nichts zu sagen hat?

Was fehlt, wenn uns die Tiere fehlen?

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