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Die Schuld der Zurückgebliebenen

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Gibt es also noch Hoffnung für die Tiere, für die uns gleichermaßen so fremden und so vertrauten Wesen? Von Franz Kafka ist der Satz überliefert: „Es gibt unendlich viel Hoffnung, nur nicht für uns.“24 Hoffnung gibt es strenggenommen immer nur für die je Anderen. Ich möchte das gern so verstehen: Die Hoffnung, die wir als Menschen für uns haben, kann es nur geben, wenn sie die Anderen gleichermaßen einschließt. Eine individualisierte Hoffnung führt nur zu jenem leeren Himmel, von dem zuvor schon die Rede war. Hoffnung für die Anderen zielt aber auch auf eine ethische Perspektive, wie sie insbesondere der französische Philosoph Emmanuel Levinas vertreten hat. Hoffnung ist für ihn keine Jenseitsdimension, sondern etwas Lebensweltliches und durchaus Handfestes: Ob man Hoffnung hat, ist ablesbar am Leben der hoffenden Person.

Aus diesem Grund hat Levinas auch die Kontingenzfrage grundlegend anders gestellt: Die entscheidende metaphysische Frage sei nicht mehr die, warum es überhaupt etwas gebe und nicht vielmehr nichts, sondern er fragt: Warum gibt es Übles und nicht vielmehr nichts?25 Damit rückt er die Dinge ins rechte Licht, wie mir scheint: Es kommt gar nicht so sehr auf die Seinsleere, die Kontingenz an, die uns in den Texten von Reinhold Schneider und Joseph Conrad beschäftigt hat. Die Angst vor einem Mangel an Sein überdeckt allzu oft jenes Böse, das aus der Angst erwächst, dem aber entschieden zu begegnen ist. Die Kontingenz, die Sinnleere lässt sich durchaus auch ethisch lesen: als Freiheit zur Entscheidung. Die Wahrnehmung von Kontingenz drängt eben nicht zur Willkür á la Kurtz, sondern zur verantworteten Entscheidung.26 Folgt man Levinas, so ist der Horizont dieser Entscheidung, sofern sie im Horizont der gemeinsamen Hoffnung stattfindet, die Transzendenz. Wörtlich bedeutet Transzendenz: das, was das Seiende übersteigt – das, was mehr ist als das, was es schon gibt. Transzendenz muss kein nachtodliches Jenseits sein, sie zeigt sich immer schon da, wo sich das Seiende selbst überschreitet, wo in der scheinbar reinen Natur, im Sein, ein Sollen aufbricht: die Wahrnehmung, dass etwas Erkanntes nicht so sein soll. Den Mangel im Sein, dieses ontologische Defizit, das schon Conrads Kurtz beim Blick in die Wildnis verspürt hat, kann man eben auch anders deuten: nicht notwendigerweise als sinnwidrige Kontingenz, sondern als Offenheit, als ein Sollen, eine Aufforderung zum Handeln, ein Noch-nicht, aber vielleicht irgendwann einmal. Und wo wird man dieser Erkenntnis ansichtiger als im Leiden der Tiere, im Leiden aller Kreaturen?

Und dennoch: Die Angst vor der Kontingenz findet sich doch immer wieder bei uns ein. Weil wir den eigenen Tod nie erleben werden, ist stets nur der Tod der Anderen die ultimative Ängstigung. Eine ungeheure Möglichkeit, ein Grenzgänger unseres Verstehens deutet sich an. Deswegen liegt eine erschütternd trostlose Einsicht darin, den anderen zu überleben, ungefragt zurückzubleiben: der erste Sommer nach dem Tod des Hundes, dann weitere, womöglich viele. Zu ahnen, dass alle Erinnerungen schon im nächsten und übernächsten Sommer dämmerig sein werden. Es gibt in der Tat auch im Angesicht der toten Tiere diese Schuld der Zurückgebliebenen. Ihr Überleben ist ein Bruch in der eigenen Biografie, kein freudiges Ereignis, sondern etwas, das sich vom Moment des Erlebens als Stachel ins Fleisch des Lebendigen bohrt, das nun nämlich zweierlei weiß: Schon morgen kann es mich treffen – heute aber hat es mich nicht getroffen, sondern den anderen. Diese Schuld liegt abseits des moralischen Versagens und drückt sich aus in der unerträglichen Frage: Warum lebe ich, und nicht der andere? Emmanuel Levinas spricht zu Recht davon, dass uns das Sterben anderer Wesen zutiefst erschüttert, es ist nie nur eine neutrale Tatsache. Wir sehen im Sterben der anderen eine brutale Un-Endlichkeit, so formuliert es Levinas, weil das Leben, während es endet, nicht endet.27

Der US-amerikanische Philosoph Samuel Scheffler hat sich 2012 im Rahmen der Tanner-Lectures zum Thema des nachtodlichen Lebens geäußert.28 Es geht ihm dabei ausdrücklich nicht um irgendeine Form des individuellen Fortlebens nach dem eigenen Tod; diese Vorstellung lehnt er sehr grundsätzlich ab. Das nachtodliche Leben – im englischen ist die Rede vom „Afterlife“ – bezieht sich vielmehr auf das Leben der zurückgebliebenen Wesen. Er schlägt dazu auch ein Gedankenexperiment vor: Was wäre, wenn wir die Gewissheit hätten, dass wenige Wochen nach unserem eigenen Tod die gesamte Menschheit durch eine Katastrophe ausgelöscht würde? Wie würden wir uns angesichts dieser unveränderbaren Tatsache innerhalb dieses Gedankenspiels verhalten? Scheffler will mit diesem Experiment vor allem eins zeigen: Es gibt etwas Schlimmeres als den individuellen Tod. Selbst wenn uns die Vernichtung der Menschheit gar nicht mehr zu eigenen Lebzeiten ereilen würde, hätte ein solches Ereignis unmittelbare Auswirkungen auf unser Selbstverständnis. Scheffler ist in seinem Argument vollkommen unverdächtig, eine neue Theologie etablieren zu wollen, aber er zeigt doch, dass es in gewissem Sinne einen säkularen Glauben an ein nachtodliches Leben gibt bzw. geben muss – die Hoffnung, die sich hierin zeigt, sind wieder einmal die Anderen. Scheffler zeigt mit diesem einfachen Beispiel, dass wir ohne die Anderen kein sinnvolles Leben führen können – wie wichtig ihr Überleben für uns ist. Ihr Tod, besonders im denkerischen Extremfall eines Aussterbens der gesamten Menschheit, ist hinsichtlich unserer Sinndimensionen, die der gelebten Gemeinschaft bedürfen, nahezu identisch mit dem eigenen Tod. Schefflers Beobachtungen stehen quer zu einem kulturellen Mainstream, in dem die individuelle Selbstverwirklichung in weiten Teilen noch immer darin besteht, sich gegen die eigene Sterblichkeit nach Kräften abzusichern und so unter der Hand das Tote zu kultivieren. Er legt hingegen nahe, dass die eigene Lebendigkeit, das Erlebnis wirklich am Leben und lebendig zu sein, wesentlich mehr vom Leben und der Lebendigkeit der anderen Wesen abhängt, als wir oft glauben. Der Neutestamentler Fridolin Stier, in dessen tagebuchartigen Aufzeichnungen sich immer wieder neue Verbindungen zwischen den Themen des Sterbens und der Tiere auftun, schreibt in seinem Eintrag vom 2. Januar 1972:

„Ich kann […] sehr gut ohne alle Unruhe bei mir denken, wenn ich tot bin, so ist es aus. Das bekümmert mich wenig, aber unendlich, wenn ich denke, dass es nun auch mit allen, die ich liebe, so sein soll. Das geht nicht, heißt es dann in mir …“29

Und warum sollte Ähnliches nicht auch für die Tiere gelten? Das Beispiel aus der theologischen Tradition hat bereits darauf verwiesen, dass uns ein Himmel, der mit Ausnahme der Menschen von allem sonstigen Lebendigen wie leergefegt ist, nur noch wenig verheißungsvoll erscheint. Man muss aber nicht – um ein unschönes Wort dafür zu verwenden – „gläubig“ sein, um diesen Gedanken nachvollziehen zu können, schließlich kündet bereits das zunehmende Verschwinden und Aussterben der Tiere von einem ähnlichen Verlustgefühl. Die Frage ist nicht nur, ob wir ohne die Tiere weiterleben wollen – sondern auch, ob wir es überhaupt können. Was Scheffler und Stier verbindet, ist die sicher sehr wahre Einsicht, dass uns stets nur die Lebendigkeit der anderen rettet.

Was fehlt, wenn uns die Tiere fehlen?

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