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21. Eine ganz heilige Selbstverwirklichung
ОглавлениеNach der Urteilsverkündung interviewte ein Reporter des Fernsehmagazins »Panorama«Panorama NDR-Magazin VaterEnsslin, Helmut Ensslin. »Verurteilen Sie Ihre Tochter?«, fragte er.
»Die Brandlegung verurteilen wir«, antwortete der Pfarrer. »Wir sind dankbar, dass Gudrun während der Verhandlung selbst Abstand genommen hat von der BrandlegungKaufhausbrandstiftung als Mittel, sich Gehör zu verschaffen.« Seit sich seine Tochter in Untersuchungshaft befinde, habe er begonnen, sich in ihre politische Gedankenwelt zu vertiefen. »Gudrun ist von Anfang an ein Mädchen gewesen, das sehr selbständig seinen Weg gegangen ist. Als Eltern konnte man Freude daran haben. Sie war begabt und ein fleißiges Menschenkind.«
»Wie war Ihr Verhältnis zu ihr vor der Tat, und wie ist es jetzt?«
»In Berlin hat sie einen Lebensstil entwickelt, der für unsere ältere Generation nicht mehr verständlich war. Mit dieser Brandlegung wollte sie wohl den Standpunkt linksgerichteter Studenten in dieser Gesellschaft aufzeigen. Es ist ihnen die Stelle als Taugenichtse, als Möchtegern-Kriminelle, als Vaterlandsverräter angewiesen worden. Und sie wollten wohl sagen: Seht, da stehen wir, dorthin habt ihr uns gebracht, das ist der Ort, an den ihr uns gestellt habt.«
»Als VaterEnsslin, Helmut von Gudrun gehören Sie ja zu der Generation, die sie mit ihrer Tat mahnen wollte. Sehen Sie denn die Begründung dafür ein?«
»Also, ich würde mich – mit der ganzen Bundesrepublik – weigern, mich auf diese Weise mahnen zu lassen. Was sie sagen wollte, ist doch dies: Eine Generation, die am eigenen Volk und im Namen des Volkes erlebt hat, wie KonzentrationslagerKonzentrationslager gebaut wurden, Judenhass, Völkermord, darf die Restauration nicht zulassen. Darf nicht zulassen, dass die Hoffnungen auf einen Neuanfang, Reformation, Neugeburt verschlissen werden. Das sind junge Menschen, die nicht gewillt sind, diese Frustration dauernd zu schlucken und dadurch korrumpiert zu werden. Für mich ist erstaunlich gewesen, dass Gudrun, die immer sehr rational und klug überlegt hat, fast den Zustand einer euphorischen Selbstverwirklichung erlebte, einer ganz heiligen Selbstverwirklichung, so wie geredet wird vom heiligen Menschentum. Das ist für mich das größere Fanal als die BrandlegungKaufhausbrandstiftung selbst, dass ein Menschenkind, um zu einer Selbstverwirklichung zu kommen, über solche Taten hinweggeht.«
Die Tat als Mittel zur Selbstbefreiung und einer »ganz heiligen Selbstverwirklichung«. Auch Gudrun EnsslinEnsslin, Gudrun durchgängig erwähnts MutterEnsslin, Ilse hatte das nachempfinden können, als sie sich in der Untersuchungshaftanstalt mit ihrer Tochter über die Brandstiftung unterhielt.
»Ich spüre, dass sie mit ihrer Tat auch etwas Freies bewirkt hat, sogar in der Familie«, sagte Mutter Ensslin dem Reporter. »Plötzlich, seit ich sie vor zwei Tagen in der Haft gesehen habe, bin ich selbst befreit von einer Enge und auch Angst, die – vielleicht zu Recht oder Unrecht – mein Leben hatte. Vielleicht auch kirchliche Konvention. Das alles hat Gudrun immer sprengen wollen, und ich habe es verhindern wollen. Dass es Menschen gibt, die weitergetrieben werden, aus der Konvention heraus, zu Taten, die ich nicht übersehen kann, vielleicht aber in zehn Jahren als berechtigt anerkennen muss. Das wäre mir vor einem Jahr oder vielleicht noch vor einer Woche unmöglich gewesen zu sagen. Aber sie hat mir eine Angst genommen, und sie hat mir den Glauben an sie nicht genommen.«
Der Fernsehreporter durfte an diesem Tag auch Gudrun EnsslinEnsslin, Gudrun durchgängig erwähnt selbst befragen. Ohne Kamera, aber Tonbandaufnahmen waren gestattet. Der Journalist baute das Gerät auf und sagte: »Ein Grund, warum man glaubt, Sie nicht verstehen zu können, ist, dass Sie sich nicht zu Ihrer Tat bekannt haben.«
Gudrun EnsslinEnsslin, Gudrun durchgängig erwähnt widersprach. Sie hätten sich zu dem BrandanschlagKaufhausbrandstiftung bekannt, allerdings erst zu einem Zeitpunkt, als es ihnen sinnvoll erschienen sei. Ein solches Bekenntnis habe ohnehin zweitrangige Bedeutung. »Es geht nicht darum, der Gesellschaft irgendwelche Helden oder Märtyrer zu liefern. Man muss zeigen, dass man in einem ganz normalen Zustand, ohne heldische Euphorie, das, was man denkt, kurz begründet.«
Das hätten Baader und sie im ProzessKaufhausbrandstifter:Prozeß getan.
»Aber selbst wenn wir zwei Stunden lang geredet hätten, wäre hinterher immer noch gesagt worden, es ist zweifelhaft, dass das Überzeugungstäter sind. Die tun jetzt nur so. Sie wollten halt ihren Spaß haben. Die waren rücksichtslos. Die haben sich nichts dabei gedacht. Das wäre auf jeden Fall die Argumentation der Gegenseite gewesen.«
»War denn die Tat richtig?«
»Es war richtig, dass etwas getan wurde. Dass wir das Falsche gemacht haben, das haben wir deutlich genug gesagt. Aber wir haben keinen Grund, darüber mit der Justiz oder mit dem Staat zu diskutieren. Das müssen wir mit Leuten diskutieren, die so denken wie wir.«
Es wäre eben sinnlos gewesen, den Richtern länger als fünfzehn Minuten die Motive der Brandstiftung erläutern zu wollen. »Sie sind wie alle, die in diese Gesellschaft integriert sind. Sie können nicht tun, was sie wollen, denn sie wollen nur das, was sie sollen.«
»Würden Sie widersprechen, wenn man Ihre Tat als eine – in der Ausweglosigkeit der Situation – befreiende Tat bezeichnen würde?«
»Ja. Ganz entschieden. Es gibt inzwischen eine ganze Menge Leute, die wirklich das tun, was sie denken, und das denken, was sie tun. Diese bürgerliche Schizophrenie, dauernd zu tun, was man nicht meint, geht so weit, dass man eine demokratische Gesellschaft will und gleichzeitig eine faschistische Gesellschaft zimmert.
Die Tat hat etwas mit einer Entwicklung zu tun. Und die Einsicht, dass es nicht das Richtige war, hat nichts Schändliches, sondern etwas, das man selbst, ohne rot zu werden, sehr laut sagen kann.«
Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Irgendjemand hat gesagt, bei uns handelt es sich um Irre, die glauben, man könne mit irgendeiner gloriosen Tat der Geschichte den Weg verwehren, die Geschichte in andere Bahnen zwingen. Das weiß niemand besser als wir selbst. Aber mit diesem furchtbaren Schreckgespenst, mit dem der Bürger hausieren geht, dass wir Vorstellungen hätten, als könnte irgendeine Gruppe von zwanzig TerroristenTerrorismus die Macht im Staat an sich reißen durch irgendeinen Putsch oder irgendeinen Handstreich, mit dem haben wir absolut nichts zu tun …«
Das Thema Befreiung stand damals ganz oben auf der revolutionären Agenda. Eine Gefängnisstrafe galt als Bestätigung für die politische Entschlossenheit. Das ahnte auch Vater EnsslinEnsslin, Helmut. Einem Reporter sagte er über die Auswirkung der Haftstrafe auf Gudrun: »Sicherlich wird sie nicht aus dieser konsequenten Linie ausscheren, und es wird auch das Gefängnis nicht fertigbringen, sie da irgendwie beirren zu können. Sie hat diese ganze Tat merkwürdig gesund und befreit – persönlich – überstanden. Und wird auch die Gefängnis- und Zuchthausstrafe, bin ich ganz gewiss, gut überstehen.«
Horst MahlerMahler, Horst, der ebenfalls Gudrun EnsslinEnsslin, Gudrun durchgängig erwähnt als Anwalt vertreten hatte, ahnte, dass es nicht bei der KaufhausbrandstiftungKaufhausbrandstiftun g bleiben würde: »Als wir so ein längeres Gespräch hatten, verabschiedete sie sich so mit einem Lächeln von der Seite her. Und sagte: ›Na ja, Sie werden auch noch mal die Kalaschnikow in die Hand nehmen.‹«
Nach dem Urteil beantragten die Verteidiger eine Revision des Verfahrens und versuchten, Haftverschonung für die Angeklagten durchzusetzen. Das dauerte.
Anfang 1969 löste sich die Beziehung zwischen Baader und ElloM., Ellinor mehr und mehr auf. In den Briefen war viel von Trennung die Rede – als hätte er sich nicht schon längst Gudrun zugewandt. Baader schrieb der einstigen Geliebten: »Es ist klar, dass mich quält, wenn andere mit dir schlafen. Ich will nicht, dass du aus dieser Trennung und aus unserer Sache so brutal wie möglich einen Haufen Dreck machst, und deswegen schreib ich dir, und deswegen will ich dich ab und zu sehen.«
Die gemeinsame Tochter Suse sollte nun bei EllosM., Ellinor früherem Partner, dem Maler Manfred H.Henkel, Manfred, aufwachsen. Baader fand das »natürlich schlecht«. Dann wäre M., EllinorEllo als Erziehungsberechtigte besser, »egal wie viel Pillen und Schwänze« ihr Problem seien.
Es fiel Baader immer schwerer, die Haft zu ertragen. Mehr und mehr suchte er Streit mit der Vollzugsleitung und stellte immer wieder neue Forderungen. Er benötige ein gut gefülltes Bücherregal und aktuelle Zeitungen. Er beschwerte sich, dass seine Zigaretten auf der Suche nach verbotenen Substanzen aufgeschnitten worden waren, und darüber, dass »ein schwitzender Beamter« ihn »zehn Minuten betastet« habe, »was kein Spaß« sei. In einem Brief an Rechtsanwalt MahlerMahler, Horst deutete BaaderBaader, Andreas durchgängig erwähnt an, einer der zuständigen Richter sei Autor eines Buches über Tierschutz. Er habe da eine Idee, wie man den Richter treffen könnte: »Sicher hat er einen Köter, an dem sein Herz hängt. Wir werden ihn anzünden, wenn er dann noch lebt.« Er verlangte, in eine andere Anstalt verlegt zu werden, und drohte: »Sie werden mich durch die träge Behandlung meiner Beschwerden zu Aktionen zwingen, die für Sie lästiger sind als Worte.«
Tatsächlich wurde Baader nach Kassel verlegt, und er durfte sogar mehrmals seine Freundin und Mitangeklagte Gudrun EnsslinEnsslin, Gudrun durchgängig erwähnt in der Haftanstalt Frankfurt-PreungesheimJustizvollzugsanstalten:Frankfurt-Preungesheim besuchen. So etwas war bis dahin in deutschen Gefängnissen unmöglich gewesen, aber die Direktorin der Frauenhaftanstalt, die linkeLinke Sozialdemokratin und Justizreformerin Helga EinseleEinsele, Helga, schätzte Gudrun Ensslin sehr. Die immer wieder kolportierte Geschichte, die Vorzeigegefangene und ihr Liebhaber hätten auch gemeinsam in einer Zelle übernachten dürfen, ist aber unbewiesen.