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27. Auf der Flucht

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Im November 1969 verwarf der BundesgerichtshofBundesgerichtshof die Revision des BrandstifterurteilsKaufhausbrandstifter-Prozeß. Damit war das Frankfurter Urteil rechtskräftig. Baader und Ensslin hatten zwar kurz zuvor ein Gnadengesuch eingereicht, waren ihren polizeilichen Meldeauflagen – eher schlecht als recht – nachgekommen, mussten nun aber täglich mit der Aufforderung zum Strafantritt rechnen. Sie beschlossen, zusammen mit Proll erst einmal unterzutauchen. In der Tiefgarage des »Hertie«-Kaufhauses stiegen sie in den Wagen eines Freundes, der sie nach Hanau brachte. Dort wechselten sie das Auto und fuhren nach Saarbrücken. Ein weiteres Fluchtfahrzeug stand bereit und brachte sie über die Grenze nach Frankreich. Einer der Fluchthelfer fuhr voraus und machte Quartier im lothringischen Forbach. Ohne Zwischenfälle erreichte die Gruppe Paris; kein Wunder, denn zu dieser Zeit wurde keiner der KaufhausbrandstifterKaufhausbrandstifter überhaupt gesucht.

Wochenlang lebten sie in der Pariser Wohnung des französischen Schriftstellers und Revolutionstheoretiker Régis DebrayDebray, Regis, Kampfgenosse Che GuevaraGuevara, Ches. 1967 war Debray in Bolivien gefangen genommen und zu dreißig Jahren Haft verurteilt worden. 1970 wurde der Sohn einer einflussreichen französischen Familie freigelassen. Fotos: Baader-Ensslin in Paris

Die Wohnung im Quartier Latin galt als sicher. »Hierher kommt keine Kripo«, erzählte Gudrun EnsslinEnsslin, Gudrun durchgängig erwähnt einem Besucher, »weil der Vater von Régis Politiker ist.« Telefonisch hielten die drei Flüchtlinge Kontakt zu ihren Freunden in Deutschland. Eines der ersten Gespräche führte Andreas BaaderBaader, Andreas durchgängig erwähnt mit der Schwester Thorwald ProllProll, Thorwalds, AstridProll, Astrid. Sie sollte Bücher, Papiere und einen in einer Frankfurter Werkstatt zurückgelassenen Mercedes nach Paris bringen.

Ihr Bruder Thorwald erwartete sie – inmitten parkender Streifenwagen – vor dem Polizeipräsidium und lotste sie zur DebrayDebray, Regis-Wohnung. In den darauffolgenden Tagen durchstreifte das Quartett die Stadt. In einem Café fotografierten sie sich gegenseitig. Baader ließ die Bilder entwickeln, während Gudrun ihr Archiv, einen Koffer voller Zeitungsausschnitte, vor allem über den BrandstifterprozessKaufhausbrandstifter:Prozeß, ordnete.

Irgendwann tauchte eine Delegation von FürsorgezöglingFürsorgezöglingen auf, die wollte, dass sie zurückkämen. »Sie wollten nicht einsehen, dass wir uns diese IllegalitätIllegalität als Ziel gesetzt hatten«, erinnerte sich später Thorwald ProllProll, Thorwald. »Sie wollten, dass wir zurückkommen, und es wäre doch alles ganz harmlos, und sie bräuchten uns. Wir waren eben so eine Raumstation für sie. Da konnten sie sich alles vorstellen mit uns. Dann haben wir sie verlassen, und da fühlten sie sich verlassen.«

Die Gruppe beratschlagte, was nun zu tun sei. Einer kam auf die Idee, in den Nahen Osten zu fahren und sich dort bei El FatahEl Fatah, einer bewaffneten Gruppe innerhalb der PLOPLO Palästinensiche Befreiungsorganisation, umzusehen. Gudrun EnsslinEnsslin, Gudrun durchgängig erwähnt dagegen neigte eher zu einer ruhigen Phase. Sie wollte ein Buch über die Frankfurter Lehrlingskampagne schreiben. Die meisten der gesammelten Unterlagen, Flugblätter, Personalakten von Heimzöglingen, Briefe und Tonbandinterviews waren aber in der Hektik des Aufbruchs in Frankfurt geblieben, sodass aus der schriftstellerischen Arbeit nichts wurde.

Astrid und ein Begleiter erhielten den Auftrag, nach Amsterdam zu reisen, um dort bei einem in linkeLinken Kreisen bekannten Experten falsche Papiere anfertigen zu lassen. Als verloren gemeldete Reisepässe deutscher Genossen sollten mit neuen Fotos ausgestattet werden. Bevor die beiden Amsterdam wieder verließen, sahen sie sich noch die amerikanische Originalfassung von »Easy Rider« mit holländischen Untertiteln an. Dann fuhren sie zurück nach Paris.

Als seine Schwester Astrid wieder auf der Bildfläche erschien, wurde Thorwald ProllProll, Thorwald »ersetzt«, so jedenfalls empfand er die Situation: »Ich verlor einfach den Anschluss. Es hing mit dem Warten zusammen. Dann kam die Erlösung. Aufbruch. Und jetzt?«

Thorwald ProllProll, Thorwald hatte gedacht: »Wir fahren, wir bewegen uns immer weiter.« Als Astrid aber da war, mit dem Auto, fühlte er sich nicht in der Lage, weiterzumachen. »Ich wollte das nicht, fühlte mich isoliert. Es war vielleicht meine Schwäche. Jedenfalls bin ich dageblieben, und meine Schwester hat den Platz eingenommen. Sie ist das Auto gefahren.«

Thorwald blieb in der Wohnung: »Es war ein etwas trauriger Moment. Es war einsam.«

Er hatte darauf gewartet, dass Andreas sagen würde: »Du spinnst. Was soll das? Das ist doch ein blödes Geschwisterspiel.« Aber Andreas hatte es nicht gesagt. »Und dann hieß es: Du gehst jetzt nach England, und dann kommst du wieder, aber das sagt man nur so. Und da weißt du nicht, ob das so wahr ist. Aber dies ist alles sehr persönlich und sehr psychologisch. Davon hängt das Schicksal der RevolutionRevolution nicht ab.«

Thorwald ProllProll, Thorwald stellte sich später, wie auch der vierte Kaufhausbrandstifter Horst SöhnleinSöhnlein, Horst, zum Strafantritt. Beide tauchten nie wieder im Zusammenhang mit der Baader-Ensslin-Truppe auf.

Baader, Ensslin und Astrid ProllProll, Astrid reisten weiter nach Italien. Dort kamen sie bei Bekannten aus Berlin unter, besuchten auch die Schriftstellerin Luise RinserRinser, Luise, die später an die Familie Ensslin schrieb: »Gudrun hat in mir eine Freundin fürs Leben gefunden.«

Währenddessen versuchte Rechtsanwalt Horst MahlerMahler, Horst, eine Kampftruppe aufzustellen. Dazu flog er nach London und besuchte Rudi DutschkeDutschke, Rudi, was er erst Jahre später, nachdem er von der Linken auf die extreme Rechte übergewechselt war, selbst schilderte. Bevor das »Experiment« – wie er die Gründung der RAFRAF nannte – beginnen sollte, habe er mit Rudi DutschkeDutschke, Rudi »eine lange Diskussion über den bewaffneten Kampf« geführt: »Ich wusste, dass er in dieser Frage kein orthodoxer Leninist war und bewaffnete Aktionen kleinerer Gruppen als Fortsetzung dieser Revolte nicht ausschloss.« Diese Frage habe er in DutschkesDutschke, Rudi selbstgewähltem Exil diskutieren wollen. Doch der, gerade von seiner Schussverletzung halbwegs genesen, winkte ab: »Er hat mir dringend von meinem Vorhaben abgeraten, weil die Voraussetzungen für einen Erfolg nicht gegeben wären.« MahlerMahler, Horst musste sich nach anderen Kampfgenossen umsehen; und die waren gerade auf der Flucht vor der Justiz.

Im Januar 1970 besuchte einer aus dem Frankfurter LehrlingskollektivLehrlingskollektiv Ulrike MeinhofMeinhof, Ulrike Marie durchgängig erwähnt bis Seite 73 in Berlin. Sie bereitete gerade die Dreharbeiten für ihren Fernsehfilm »Bambule«Bambule vor. Im Herbst hatte sie sich das Zöglingsprojekt in Frankfurt angesehen, hatte versucht, Ratschläge zu geben, und mit Baader und Ensslin lange Diskussionen über deren Arbeit geführt. Jetzt, da nach dem Untertauchen der wichtigsten Organisatoren das Projekt auseinanderzufallen drohte, sollte die Journalistin dazu bewegt werden, nach Frankfurt zu kommen und die Lehrlingsarbeit weiterzuführen. Aber Ulrike Meinhof lehnte ab. Sie war vollauf mit ihrem Film beschäftigt, darüber hinaus hatte sie ihre beiden Töchter zu versorgen. Sie erklärte sich aber bereit, ein Gnadengesuch für die Kaufhausbrandstifter zu unterstützen: »Ich kenne HeinemannHeinemann, Gustav [damals Bundespräsident] gut von früher, als er noch Gesamtdeutsche Volkspartei war.«

Auch andere, wie der Leiter des Frankfurter Stadtjugendamtes Herbert FallerFaller, Herbert, schrieben Briefe an Regierungsmitglieder und baten um eine Begnadigung der KaufhausbrandstifterKaufhausbrandstifter:Prozeß. Faller lobte vor allem die Lehrlingsarbeit der Gruppe, die ohne sie nicht weitergeführt werden könne.

Anfang Februar 1970 lehnte der hessische Justizminister HempflerHempfler, Kurt das Gnadengesuch ab. Die Gesuchten erfuhren davon in Italien. Gudrun rief in Frankfurt an und erkundigte sich nach den Einzelheiten: »Wir haben hier unten im Radio etwas in Sachen Gnadengesuch gehört, es aber nicht genau verstanden.« Ihr Gesprächspartner bestätigte, dass ihr Gesuch abgelehnt worden sei. »Na, dann müssen wir weitermachen«, antwortete Gudrun.

Wie sie weitermachen könnten, hatte ihnen kurz zuvor ein Italienreisender aus Berlin vorgeschlagen. Sie sollten doch zurückkommen und sich einer im Aufbau befindlichen militanten Gruppe anschließen. Der Tourist hieß Horst MahlerMahler, Horst.

In Rom wurde ein weißer Alfa Romeo gestohlen, in dessen Handschuhfach die Kraftfahrzeugpapiere lagen. Astrid ProllProll, Astrid wollte damit nach Deutschland fahren. In Österreich fuhr ihr im starken Schneegestöber ein anderer Wagen in die Seite. Die Scheibe platzte, und die Tür wurde eingebeult. Astrid fuhr zu Freunden aus früheren Zeiten, die in der Nähe wohnten. Auf einer Feuerwehrwache half man ihr mit etwas Plastikfolie aus, um das Fenster abzudichten. Ohne Schwierigkeiten kam sie mit dem gestohlenen Wagen über die deutsche Grenze und fuhr zunächst nach Frankfurt.

Andreas BaaderBaader, Andreas durchgängig erwähnt und Gudrun EnsslinEnsslin, Gudrun durchgängig erwähnt verließen Italien einige Tage später. Mitten in der Nacht standen sie vor dem Stuttgarter Pfarrhaus. Gudruns überraschter VaterEnsslin, Helmut beschwor die beiden, ihre Reststrafe zu verbüßen. »Geht doch hin und reißt die zehn Monate ab«, sagte er, stieß aber auf taube Ohren. »Wir gehen nicht in den Knast«, erklärte Gudrun kategorisch. »Nein, wir gehen nach Berlin, tauchen dort unter und wollen mal weitersehen.« Nachdem sie geduscht und gegessen hatten, fuhren sie noch in derselben Nacht weiter.

Der Baader-Meinhof-Komplex

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