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26. Peter-Jürgen BoockBoock, Peter-Jürgen

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Seine Eltern hatten eine Kneipe, irgendwo hinterm Deich in Schleswig-Holstein, als Peter-Jürgen BoockBoock, Peter-Jürgen am 3. September 1951 geboren wurde. Gerade zwei Jahre zuvor war sein Vater aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekommen. Er bewarb sich bei der neugegründeten Bundeswehr, wurde aber nicht genommen und ging stattdessen zur Bundespost nach Hamburg. Peter blieb für zwei Jahre bei seiner Großmutter, dann holten die Eltern ihn nach. Die Kleinstadt, die ihm vorgekommen war wie der »größte Spielplatz der Welt«, musste er nun gegen eine Trabantenstadt am Rande von Hamburg tauschen. Zwischen hochaufragende Wohnblocks für Sozialhilfeempfänger hatten die Stadtplaner eine Reihenhauskolonie für Staatsdiener gesetzt.

Hier wuchs Peter auf, unauffällig bis in die wilden sechziger Jahre. Ein Biologielehrer, der in der »Jailhouse Jazzband« spielte, machte ihn mit der musikalischen Untergrundszene bekannt. Doch dann wurde auch Boock von der allgegenwärtigen Politisierung gepackt. Mit knapp fünfzehn Jahren gründete erBoock, Peter-Jürgen ein »Aktionszentrum unabhängiger und sozialistischer SchülerSchüler, Manfred«, abgekürzt AUSS, die Schülerorganisation des SDS. Die Eltern hatten bald den Eindruck, LeninLenin, Wladimir Iljitsch persönlich sei bei ihnen eingezogen, die Konflikte eskalierten, und eines Tages beschloss Peter, in die DDR zu gehen. Bei Lauenburg schlich er sich durch den Minengürtel ins Arbeiter- und Bauernparadies. Er wollte zu seinem Onkel, brachte es aber nur bis in ein Auffanglager der DDR. Weil er noch nicht sechzehn war, schickte man ihn zurück in den Westen. Wäre er älter gewesen, hätte er bleiben dürfen.

Nach der Rückkehr besserte sich das Verhältnis zum Vater nicht gerade. Der sprach – als Ausgleich für die eher langweilige Schaltertätigkeit bei der Post – abends gern dem Alkohol zu. Dann wurde er nicht selten grob. Inzwischen war die Großmutter ins Haus der Familie gezogen. Sie hatte Rheuma, und als sie begann, unter den massiven Schüben der Krankheit zu leiden, übernahm Peter die Pflege. Er liebte die alte Frau, aber die Vollpflege fiel ihm schwer. Hin- und hergerissen zwischen Pflichtgefühl und Ekel, dachte er nicht selten: Wenn sie stirbt, dann bin ich schuld, dann hänge ich mich auf.

Ein gutes Vierteljahr hatte BoockBoock, Peter-Jürgen in der Schule durch den DDR-Ausflug verloren. Er hatte den Anschluss verpasst und beschloss, nach der mittleren Reife abzugehen. Schule und Karriere waren damals kein Ziel für Jugendliche, die den Nerv der Zeit in sich spürten. Beim Sternmarsch nach Bonn, der MassendemonstrationNotstandsdemonstration gegen die NotstandsgesetzeDemonstrationen:Notstandsgesetze, hatte Peter die Leute der »Kommune I« kennengelernt, LanghansLanghans, Rainer und TeufelTeufel, Fritz und die Mädchen.

BoockBoock, Peter-Jürgen hatte eine Lehre begonnen in einer Firma, die große Drehbänke herstellte. Aber mehr und mehr bestimmte die außerparlamentarische Politwelt sein Leben. Und immer wieder traf er auf Leute, die später seinen Weg in den Terrorismus kreuzten. Karl Heinz RothRoth, Karl Heinz zum Beispiel, einen hochbegabten Medizinstudenten, der den Hamburger SDS anführte und später untertauchte, weil er glaubte, von der Polizei gesucht zu werden. Oder Margrit SchillerSchiller, Margrit, die in der Anfangsphase zur RAFRAF RotenArmeeFraktion stieß.

Und er machte noch eine andere Bekanntschaft, so wie viele junge Leute zu dieser Zeit: Zunehmend stieg die Szene vom Rotwein auf Shit um, auf Haschisch.

Peter-Jürgen BoockBoock, Peter-Jürgen verabschiedete sich wieder einmal von zu Hause. Diesmal sollte es nach Holland gehen, in jenes fortschrittliche Land, von dem die Späthippies schwärmten wie sonst nur von Nepal.

Doch die Aufbruchstimmung der späten Sechziger war in eine tiefe Depression umgekippt. Auch Peter-Jürgen BoockBoock, Peter-Jürgen hatte sich auf den DemonstrationDemonstrationen nach dem AttentatDutschke-Attentat auf Rudi DutschkeDutschke, Rudi heiser geschrien in den nicht enden wollenden Sprechchören: »Ho-Ho-Ho-Chi-Minh … Ho-Ho …« Jetzt war der Elan erloschen. Wie alte Stalingradkämpfer habe man sich an die Tage der Revolution erinnert, die doch gerade erst ein paar Monate zurücklagen. Als man an der Absperrung vor dem Hamburger Springer-HausSpringer-Hochhaus, Hamburg stand und die Polizei kam, in Hundertschaften, und einem plötzlich eine kleine Kipplore auf einem Baugrundstück ins Auge fiel. Man kippte sie um, und das Benzin lief den Bullen entgegen, und dann noch ein Streichholz …

Inzwischen war die Revolte abgeflacht. In Holland dagegen machten die »Kabautermänner« mit viel Spaß Ernst mit dem selbstbestimmten Leben. Sie gründeten Kommunen und stärkten das kommunale Leben, rissen das Straßenpflaster auf und pflanzten dort Bäume. Peter-Jürgen BoockBoock, Peter-Jürgen, immer aktiv, immer einfallsreich, wurde von einer Hauskommune aufgenommen, einer bunten Schar, zu der auch einmal Jim MorrisonMorrison, Jim von den »Doors« gestoßen sein soll, besuchsweise.

BoockBoock, Peter-Jürgen war nicht gerade ein typischer Kommunarde der späten Sechziger. Er war zu gehemmt, um sich vor anderen einfach mal so auszuziehen. Doch die holländischen Kommunarden waren sensibel und halfen ihm, Stück um Stück seiner kleinbürgerlichen Ängste abzulegen. DrogeDrogenn halfen dabei. Bei einer Hochzeit, die unter LSDDrogen zum HappeningHappening umgestaltet wurde, durfte Boock den Küster spielen. Zu Weihnachten demonstrierte die Gruppe mit einem HungerstreikHungerstreik drei Tage und drei Nächte in der Kälte auf dem Straßenpflaster gegen den VietnamkriegDemonstration:Vietnamkrieg. Das strapazierte sogar das Mitgefühl der toleranten Holländer.

Peter-Jürgen BoockBoock, Peter-Jürgen hatte in Holland eine Frau kennengelernt, die aus dem Grenzbereich zwischen Polit-Kabautern und Prostitution kam. Sie war ein paar Jahre älter als er. Irgendwann kam er auf den Gedanken, nach Hamburg zu fahren und sie seinen Eltern vorzustellen. Die waren entsetzt, in was für ein verruchtes Milieu ihr Sohn geraten war, und informierten das Jugendamt. Kaum zurück in Holland, wurde Boock von der Polizei gesucht. Die Mitglieder der Kommune in Den Haag wurden nach DrogenDrogen gefilzt, und ausgerechnet in Boocks Tasche entdeckten die Polizisten Dope. Er wurde ausgewiesen und an der Grenze von Mitarbeitern des Hamburger Jugendamtes in Empfang genommen.

Peter-Jürgen BoockBoock, Peter-Jürgen war siebzehn, als er auf Antrag der Eltern in die Obhut der »Freiwilligen Erziehungshilfe« gegeben wurde, in ein geschlossenes Jugendheim nach Glückstadt.

Dort war es dann fürs Erste mit der Freiheit vorbei: Ein großes U-förmiges Gebäude inmitten einer hohen Umfassungsmauer, Schlafsäle für zwanzig bis dreißig Jugendliche, die alle schon mehrmals aus Heimen abgehauen waren oder die wegen Delikten einsaßen, für die Jugendliche noch nicht ins Gefängnis gesperrt werden konnten. BoockBoock, Peter-Jürgen lernte fünfzehnjährige Mörder und vierzehnjährige Zuhälter kennen. In dünne Blaumänner gehüllt, klappernde Holzlatschen an den Füßen, durften die Insassen Fischernetze knüpfen und bekamen dafür täglich vier Zigaretten Prämie. Oder sie konnten beim Bauern helfen, für eine Flasche Bier und vier Zigaretten am Tag. Wer an die frische Luft wollte, durfte in der Heringsfischerei arbeiten, dort, wo zuvor viele der Erzieher tätig gewesen waren. Nicht selten waren welche in Netzrollen hängen geblieben und hatten Finger, Arme oder Beine verloren. Das hinderte sie aber nicht daran, mit Gummiknüppeln auf die Zöglinge im Heim einzuprügeln, wann immer sich eine Gelegenheit dazu bot.

Doch die Revolte machte auch vor dem vergitterten Fenster des Heimes nicht halt. Als ein jugendlicher Insasse ein Paket von draußen bekam und der Gruppenleiter es ihm nicht aushändigen wollte, kam es erst zum Streit und dann zum Aufstand.

Der Zögling schlug dem Gruppenleiter nach einem heftigen Wortgefecht einen Backstein auf den Schädel und griff sich sein Paket. Minuten später war die Hölle los. Die Heizungen wurden aus den Halterungen gerissen, die Betten zerlegt. Irgendjemand schüttete flüssiges Bohnerwachs die Holztreppe hinunter und steckte es in Brand.

Die Heimleitung rief die Polizei, aber die fühlte sich dem Aufruhr nicht gewachsen und brachte gleich Marinesoldaten mit. Tränengasgranaten wurden ins Feuer geschossen. Kurz vor dem Ersticken gelang es BoockBoock, Peter-Jürgen und ein paar anderen, sich mit Messern und Gabeln und Stemmwerkzeugen durch den Fußboden ins untere Stockwerk durchzuarbeiten. Sie waren mit dem Leben davongekommen, fanden sich aber umgehend im anstaltseigenen Bunker wieder. Drei mal drei Meter, eine mit Schimmel bedeckte Seegrasmatratze, ein Eimer, ein dreißig mal dreißig Zentimeter großes Fenster an der Decke. Kein Licht. Keine Zigaretten. Kein Hofgang.

Nach vierzehn Tagen, das war die zulässige Obergrenze, wurden die Aufrührer aus ihrer Zelle entlassen. Die Erzieher hatten sich in Reih und Glied zu einer Knüppelgasse aufgebaut. Einmal durchgeprügelt, dann ging es wieder zurück ins Loch. Ein Fünfzehnjähriger meldete sich daraufhin freiwillig zum Netzeknüpfen in der Zelle. Er bekam Garn und Stricke und erhängte sich damit. Nach einem zweiten Selbstmord im Heim wurde der zuständige Abgeordnete im Kieler Landtag aufmerksam. Ein Untersuchungsausschuss sollte die Verhältnisse in Glückstadt aufklären.

Peter-Jürgen BoockBoock, Peter-Jürgen erfuhr nicht mehr, was dabei herauskam. Er wurde nach Hessen verlegt. Boock schmiedete sofort Ausbruchspläne. Doch die neue Zeit war im sozialdemokratischen Hessen schon bis zu den Toren geschlossener Jugendheime vorgedrungen.

Kaum war er zwei Wochen dort, tauchte eine Gruppe des Pädagogischen Seminars der Universität Frankfurt auf. Einige der Studenten fielen schon optisch aus dem Rahmen: Sie trugen Lederjacken und Jeans und gaben sich locker, engagiert und kämpferisch. Ihre Namen hatte BoockBoock, Peter-Jürgen schon einmal gehört: Andreas BaaderBaader, Andreas durchgängig erwähnt, Gudrun EnsslinEnsslin, Gudrun durchgängig erwähnt, Astrid und Thorwald ProllProll, Thorwald.

Offenkundig hatten die zuvor aus der Haft entlassenen Brandstifter ihren revolutionären Elan nun auf die Befreiung von Fürsorgezöglingen konzentriert. BoockBoock, Peter-Jürgen erzählte seine Geschichte von der Revolte in Glückstadt. Sie gefiel den Besuchern.

»Wer seid ihr denn?«, fragte BoockBoock, Peter-Jürgen.

»Wir sind die BrandstifterKaufhausbrandstifter.«

BoockBoock, Peter-Jürgen wusste, dass Baader, Ensslin und Thorwald ProllProll, Thorwald bis zum Inkrafttreten ihres Urteils auf freien Fuß gesetzt worden waren.

»Die haben uns eine Auflage gemacht«, erklärte einer aus der Gruppe. »Tätigkeit im sozialen Bereich. Das machen wir jetzt. Wir holen euch hier raus. Dann sehen wir, was wir daraus machen können.«

Die Sozial-Brandstifter hatten Cola, Tabak und MaoMao-Bibel-Bibeln mitgebracht. Doch BoockBoock, Peter-Jürgen hatte es mehr auf Baaders Lederjacke abgesehen.

»Tolle Jacke«, sagte er.

Baader zog sie aus.

»Da«, sagte er und reichte sie Peter-Jürgen BoockBoock, Peter-Jürgen – und der wusste: »Das sind meine Leute.«

Einige der Studenten eröffneten die Diskussion über Verbesserungsmöglichkeiten im Heim und wollten wissen, welche Vorschläge die jugendlichen Insassen selbst hatten. Diesen schwebte eine Art Selbstverwaltung vor. Doch das stieß bei Andreas BaaderBaader, Andreas durchgängig erwähnt und seinen Kumpanen auf offene Ablehnung. Sie wollten das Heim nicht verbessern, sondern auflösen.

Peter-Jürgen BoockBoock, Peter-Jürgen kam das entgegen: »Dass wir hier für Verbesserung kämpfen, das könnt ihr euch abschminken. Es geht auf Sommer zu. Die Leute wollen raus. Die wollen kein schöneres Heim und nicht mehr Blümchen vor den Fenstern. Die wollen weg hier.«

Unter den Blicken der Erzieher saßen die Zöglinge mit ihren aufrührerischen Besuchern auf dem Rasen und redeten ein ganzes Wochenende lang. Thorwald ProllProll, Thorwald, den die Heiminsassen aufgrund seiner dicken Brillengläser sofort »Apfelauge« getauft hatten, verteilte Unmengen von Mao-Bibeln. Niemand hatte die Absicht, sie zu lesen. Aber allein der Besitz der kleinen roten Bücher war Provokation genug.

BoockBoock, Peter-Jürgen fühlte sich wie durch ein unsichtbares Band zu Baader und Ensslin hingezogen. Wie diese sich stillschweigend verständigen konnten, indem sie sich nur einen Blick zuwarfen, wie sie mit Gesten kommunizierten, wie sie gegenseitig Sätze ergänzten, sich die Bälle zuwarfen, faszinierte Boock schon am ersten Tag. Die beiden mussten sich nicht abstimmen, mussten nicht miteinander diskutieren. Sie waren eins. Nicht die Einzelpersonen hatten es Boock angetan, nicht die schmale Gudrun mit ihren langen blonden Haaren und der schwäbischen Aussprache, nicht der brünette Andreas BaaderBaader, Andreas durchgängig erwähnt mit seiner John-Lennon-Brille mit den kleinen dunklen Gläsern. Es war die Symbiose der beiden, die Boock in ihren Bann schlug.

Andreas hatte den Jargon der Heimzöglinge drauf, Gudrun nahm die Jugendlichen in den Arm. Astrid redete von schnellen Autos und starken Motoren. Und alle gemeinsam von der Revolution, die – jedenfalls hier – schnellstens gemacht werden müsse.

»Abhauen, wegkommen, was Neues finden.«

»Ja, aber was?«

Peter-Jürgen BoockBoock, Peter-Jürgen sagte etwas von »Kommune«.

»Nein«, sagte Gudrun, »das ist so ein Wort, das sollte man vielleicht nicht benutzen. Das ist etwas vorbelastet. Nennen wir das Ganze doch KollektivKollektiv.«

Zwei Wochen später bestreikten die Heiminsassen den Gottesdienst. Sie setzten sich vor die Kirchentür und sagten: »Wir gehen nicht.« Die Erzieher rückten mit Hockeyschlägern an und droschen auf das gute Dutzend Aufrührer ein. BoockBoock, Peter-Jürgen fand sich in der Arrestzelle wieder. Die Heimleitung beantragte seine Rückführung nach Glückstadt.

Am nächsten Wochenende tauchten die Frankfurter Sozialhelfer wieder auf. BoockBoock, Peter-Jürgen nahm sie beiseite: »Die wollen mich zurückverlegen. Wenn wir hier eine richtige FürsorgezöglinFürsorgezöglinggsgruppe aufbauen, kann das über Nacht passieren. Aber ich habe keine Lust, nach Glückstadt zurückzugehen. Da komme ich nie wieder raus, bis ich 21 bin.«

Astrid gab ihm eine Telefonnummer. Dort solle er anrufen, wenn er abgehauen sei. Sie würden ihn dann an der Autobahnbrücke abholen.

Als aus Glückstadt die Nachricht kam, man werde ihn wieder aufnehmen, hebelte BoockBoock, Peter-Jürgen gemeinsam mit einem anderen Insassen ein Fenster auf und türmte. An der verabredeten Autobahnbrücke warteten die beiden vergeblich, denn Astrid ProllProll, Astrid hatte den Treffpunkt verwechselt. So trampten sie nach Frankfurt und quartierten sich bei Baader, Ensslin und den Prolls ein. In der Freiherr-vom-Stein-Straße hatten sich die Freigänger in einem Wohnprojekt eingenistet, das eine Gruppe von Uni-Assistenten gegründet hatte. Den permanenten Streit in der komfortablen Villa nutzten Baader und Ensslin geschickt aus, um sich im Hause auszubreiten. Nach und nach flüchteten die Assistenten, und das FürsorgeprojektFürsorgeerziehung konnte in die nächste Runde gehen. Besucher aus München, Berlin und Hamburg tauchten auf, und es dauerte nicht lange, da drehte sich das Gespräch um den bewaffneten Kampf.

Andreas, Gudrun und die anderen wirkten kränklich, geschwächt. Im Gefängnis hatten sie sich in wilden Träumen ausgemalt, was sie tun würden, wenn sie wieder in Freiheit wären. Eines davon war, sich eine Spritze zu setzen, mit Opiumtinktur. Noch am Tag ihrer Entlassung hatten sie sich gemeinsam einen Schuss gesetzt, alle aus ein und derselben Spritze, und die war unsauber gewesen. So hatten sie alle die Gelbsucht.

Am Abend, als Peter-Jürgen BoockBoock, Peter-Jürgen in der Villa auftauchte, saß Gudrun gerade in der Badewanne.

»Hallo, da bist du ja«, sagte sie. »Wo ist denn Astrid?«

»Weiß ich auch nicht. Haben wir verpasst.«

BoockBoock, Peter-Jürgen fragte, ob er auch ein Bad nehmen könne.

»Setz dich mit rein«, sagte Gudrun. »Ist doch voll. Keine Wasserverschwendung. Können wir uns unterhalten.«

Peter wurde rot, zog sich dann aber doch aus und setzte sich zu Gudrun in die Wanne. Wenig später kam ThorwaldProll, Thorwald. Er warf die Tür fluchend ins Schloss: »Diese Idioten. Alles Verrückte, die MLer. Diese Wichser.« Er meinte die Verfechter des Marxismus-Leninismus, die sich in der ehemaligen antiautoritären Studentenszene immer mehr ausbreiteten.

Er war auf einer Diskussionsveranstaltung gewesen, bei der es um die Auflösung des SDSSozialistischer Deutscher Studentenbund SDS gegangen war und um die Frage, wie der Kampf weitergehen solle. Die Theoretiker hatten sich gegenüber der »Lederjackenfraktion« durchgesetzt. Thorwald kochte vor Wut.

Ein paar Tage später kam Andreas von einer Berlinreise zurück. Er hatte Jan-Carl RaspeRaspe, Jan-Carl ab Seite durchgängig erwähnt getroffen, der dort in der KinderladenKinderladenszene aktiv war. Baader war völlig aufgekratzt und redete hektisch davon, wen er alles getroffen hatte: Antje und diese Idioten von der K2, Ulrike. Für BoockBoock, Peter-Jürgen waren das Geschichten wie aus 1001 Nacht.

Eine gute Stunde vor Mitternacht sagte Baader plötzlich: »Was haltet ihr davon? Wir fahren jetzt nach Darmstadt und leeren das ›Underground‹.«

»Was tun wir?«, fragte jemand. »Wir haben doch gar kein Auto.«

»Das macht nichts. Klauen wir zwei oder drei.«

So fuhr die Truppe mit drei gestohlenen Wagen nach Darmstadt. Zwölf Leute, die eine ganze Diskothek aufmischten, Leute anrempelten, Gläser umwarfen, bis alle übrigen Gäste die Flucht ergriffen hatten und der Laden ihnen gehörte. Der Wirt sah tatenlos zu, wie sich die Besucher bedienten. Die Polizei zu rufen war ausgeschlossen. Im Morgengrauen fuhr die Gruppe zurück, aufgedreht und glücklich.

Am vierten Tag holte BoockBoock, Peter-Jürgen sich seinen ersten Tripper. Da es innerhalb der Gruppe passiert war, machte die Infektion schnell die Runde. Am Ende saß man zu neunt im Wartezimmer eines Hautarztes.

Das lockere Leben außerhalb der Mauern von FürsorgeheimIsolation:Fürsorgeheimen sprach sich schnell herum. Abhauen, nach Frankfurt gehen. Als BoockBoock, Peter-Jürgen zu Baader und Ensslin stieß, bestand die vom Gericht angeordnete SozialarbeitSozialarbeit, revolutionäre aus einer Gruppe von etwa dreißig Zöglingen. Eine Woche später waren es achtzig, eine weitere Woche später hundertzwanzig. Allmählich waren die studentischen Ressourcen aufgebraucht. Vor allem aber begannen sich die Wohngemeinschaften zu wehren, in denen die Jugendlichen untergebracht worden waren: Plattensammlungen verschwanden, in den Regalen fehlten plötzlich Bücher, ganze Stereoanlagen wurden abgebaut.

Andreas unterstützte seine ZöglingeFürsorgezöglinge moralisch, wenn die marodierend durch die Szene zogen: »Nehmt keine Rücksicht. Das sind eure zukünftigen Ärzte, Rechtsanwälte. Die leben sowieso von eurer Haut. Also bedient euch. Keine moralischen Skrupel.«

Und so verhielten die Jugendlichen sich. Wenn ihnen irgendetwas gefiel, dann nahmen sie es mit. Wenn jemand widersprach, dann gab es etwas auf die Fresse. Nur wenige widersprachen. Es war unbequem und unangenehm, aber auch irgendwie chic, vom militanten Proletariat unter Führung des prominenten BrandstiftersKaufhausbrandstifter ausgenommen zu werden. Eines Abends kam Peter-Jürgen BoockBoock, Peter-Jürgen in eine Wohnung, in der auch Evelyn wohnte. Sie arbeitete als Fotomodell und hatte nebenbei eine soziale Ader. »Die kriegst du auf die Matratze«, sagte einer der entlaufenen FürsorgezöglingeFürsorgezögling zu Boock. Sie rauchten einen Joint, und dann schliefen sie miteinander. Boock dachte: »Sie hat mit der sozialen Randgruppe geschlafen und ich mit dem Playmate des Monats.«

Nach der Besetzung des Frankfurter Jugendamts gab es Zusagen für Wohnungen und Geld. Allerdings sollte für jedes Wohnprojekt ein SozialarbeitSozialarbeit, revolutionäreer verantwortlich sein. Und so kam es, dass sämtliche Fraktionen der Frankfurter LinkeLinken vertreten waren, das Marxistisch-Leninistische Kollektiv, das Sponti-KollektivKollektiv, das Kollektiv der Humanistischen Union. Entsprechend verliefen die Diskussionsprozesse: Wie weiter? Randgruppentheorie hin oder her. Aber alles hat seine Grenzen.

Inzwischen waren andere KollektivKollektive dabei, in Fortsetzung der Randgruppenkampagne eine Knastkampagne zu beginnen. Doch darüber waren Gudrun und Andreas längst hinaus. Im Kreise ihrer befreiten FürsorgezöglingFürsorgezöglinge kam das Gespräch immer wieder auf den bewaffneten Kampf. Südamerika, die Stadtguerilla, die Tupamaros.

BoockBoock, Peter-Jürgen saß bei solchen Diskussionen am Rande, hörte zu, redete manchmal mit. Das war alles neu für ihn. Aber weil die anderen es wollten, wollte er es auch. Ganz klar. Auch wenn er noch keine eigene Position dazu hatte. Peter-Jürgen Boock gehörte zu den ersten entlaufenen Fürsorgezöglingen, die »außer Verfolgung« gesetzt wurden. Eine Frankfurter Sozialarbeiterin fuhr eigens nach Hamburg, um mit dem Jugendamt auszuhandeln, dass er ganz offiziell bei der Sozialarbeitergruppe Baader und Ensslin leben durfte. Umgehend wurde ein Verein unter dem Namen »Arbeits- und Erziehungshilfe« gegründet, um die revolutionäre SozialarbeitSozialarbeit, revolutionäre vom Staat finanziertSozialarbeit, revolutionäre:vom Staat finanzierte zu bekommen.

Währenddessen wurden die Kontakte nach Berlin immer enger. Dort war man auf dem Weg zum bewaffneten Kampf schon ein ganzes Stück weiter. Aus dem »Blues« der Szene um die »Umherschweifenden Haschrebellen«UmherschweifendeHaschrebellen kristallisierte sich langsam eine erste StadtguerillaStadtguerilla-Formation heraus. Da konnte die ZöglingsFürsorgezögling- und Erziehungsbewegung nicht zurückstehen. Vor allem Jan-Carl RaspeRaspe, Jan-Carl ab Seite durchgängig erwähnt redete auf seine stille und bedächtige Weise gern über die Perspektiven eines UntergrundkampfUntergrundkampfkampfes nach Tupamaro-Vorbild. Ulrike MeinhofMeinhof, Ulrike Marie durchgängig erwähnt bis Seite drehte ihren Film »Bambule«Bambule, der einen Aufstand im Mädchenheim zum Thema hatte. Für BoockBoock, Peter-Jürgen war Ulrike Theorie. Baader und Ensslin waren Praxis.

Eines Tages sagte Gudrun EnsslinEnsslin, Gudrun durchgängig erwähnt ihrem jugendlichen Schützling: »Dass du dir keine Gedanken machst, wenn wir mal von einem auf den anderen Tag verschwinden sollten. Wir vergessen dich nicht. Wir kommen wieder auf dich zu. Mach dir darüber keine Gedanken.«

Peter-Jürgen BoockBoock, Peter-Jürgen, gerade siebzehn Jahre alt, konnte damit leben. Als Andreas BaaderBaader, Andreas durchgängig erwähnt, Gudrun EnsslinEnsslin, Gudrun durchgängig erwähnt und die Geschwister ProllProll, Thorwald plötzlichProll, Astrid von der Bildfläche verschwanden, zog er aus der Villa aus und in eine andere Wohngemeinschaft. Er wusste, sie würden ihn mitnehmen, wenn es wirklich losging.

Im Kopf hatte er noch ein Gespräch mit Gudrun, in dem er sich beschwert hatte, dass da offenbar irgendetwas ohne ihn lief: »Ich weiß gar nicht, was da abgeht, aber ich will dabei sein.«

Da hatte Gudrun gelacht und dann gesagt: »Das kann ich mir vorstellen. Aber du bist noch ein bisschen zu jung dafür. Ich will dich da nicht reinziehen. Das kann ich nicht verantworten.«

»Nun hör aber auf«, hatte BoockBoock, Peter-Jürgen erwidert. »Bisher haben wir nie über Alter geredet, und jetzt fängst du plötzlich so an.«

Gudrun war plötzlich ganz ernst geworden: »Du, was wir da auf dem Schirm haben, das hat solche Dimensionen, das kannst du gar nicht beurteilen. Das hat was mit Lebenserfahrung zu tun. Das hat auch etwas damit zu tun, ob man für sich eine Sache abschließen kann. Das kannst du noch nicht in deinem Alter. Dazu hast du zu wenig gesehen, um dich entscheiden zu können. Aber du würdest dich entscheiden müssen. Und deswegen tun wir dir das nicht an.«

Der Baader-Meinhof-Komplex

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