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2. Die Befreiung

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Am 14. Mai 1970 versah der Hauptwachtmeister Günter WetterWetter, Günter den Aufsichtsdienst im Verwahrhaus I der Strafanstalt Tegel in Berlin. Bei der Dienstbesprechung um 6.30 Uhr ordnete sein Vorgesetzter an, den Strafgefangenen Andreas BaaderBaader, Andreas durchgängig erwähnt zum »Deutschen Zentralinstitut für soziale FragenInstitut für soziale Fragen« in der Dahlemer Miquelstraße auszuführen. Dort sollte Baader die Journalistin Ulrike Marie Meinhof treffen, um gemeinsam mit ihr Unterlagen einzusehen. Baader und Meinhof wollten ein Buch über die Organisation »randständiger Jugendlicher« schreiben.

Oberwachtmeister Karl-Heinz WegenerWegener, Karl-Heinz sollte WetterWetter, Günter begleiten. Vor der Ausführung musste sich Wetter noch zu einem kurzen Gespräch bei seinem Chef einfinden. Ihm blieb noch etwas Zeit, und er holte sich die Gefangenenakte Baaders. Auf einem Zettel notierte er sich das Geburtsdatum, 6. Mai 1943, die Straftat, »menschengefährdende Brandstiftung«, und das voraussichtliche Strafende, Anfang 1972. Dazu die Personendaten Baaders: »Größe 176 Zentimeter, schlank, Kopf oval, hohe Stirn, vorspringendes Kinn, Haar braun, Ohrläppchen frei hängend, Zähne lückenhaft.«

Dann nahm er ein Passfoto von Andreas BaaderBaader, Andreas durchgängig erwähnt aus der Akte, wie es bei einer Ausführung vorgeschrieben war. Er holte sich vom Anstaltsleiter Wilhelm GlaubrechtGlaubrecht, Wilhelm die Ausführungsgenehmigung, in der die Einzelheiten festgelegt waren. Der Gefangene sollte Zivil tragen, die Beamten Uniform und Schusswaffen. Handfesseln sollten ebenfalls mitgenommen, aber nur bei Bedarf angelegt werden.

Baader wurde belehrt, wie er sich zu verhalten habe. »Es besteht keine Gefahr«, versicherte Baader. »Ich denke nicht daran abzuhauen. Schließlich habe ich einen Buchvertrag mit einem Verleger. Dafür bekomme ich eine ganze Menge Geld. Und das kann ich dringend brauchen.« WetterWetter, Günter wusste von dem Buchvertrag, dennoch wies er Baader vorschriftsmäßig darauf hin, dass die Beamten bei einem Fluchtversuch von der Schusswaffe Gebrauch machen würden.

Bis zum Eintreffen des Transportwagens wurde Baader in einer Zelle des Pfortengebäudes eingeschlossen. Die Beamten holten ihre Pistolen und schoben ein volles Magazin ein. Kurz darauf begann die Fahrt nach Dahlem. Um 9.20 Uhr stoppte das Fahrzeug vor dem Institut. »Spätestens um 13.30 Uhr können Sie uns wieder abholen«, sagte WetterWetter, Günter dem Fahrer. Oberwachtmeister WegenerWegener, Karl-Heinz fesselte seinen linken Arm mit einer Schließacht an Baaders rechten Arm und stieg zusammen mit dem Gefangenen aus dem Wagen. Wetter klingelte, und nach kurzem Warten öffnete der Institutsangestellte Georg LinkeLinke, Georg 73. Die Beamten zeigten ihre Dienstausweise und erklärten Linke den Grund ihres Besuches. Die Bibliothekarin Gertrud LorenzLorenz, Gertrud erschien in der Tür und führte die Dreiergruppe in den Raum neun.

Dort saß Ulrike MeinhofMeinhof, Ulrike Marie durchgängig erwähnt bis Seite bereits über Karteikästen. WetterWetter, Günter untersuchte eine zweite Tür und stellte fest, dass sie verschlossen war. Dann machte er die Fenster zu. Nachdem der Raum so gesichert war, nahm er Baader die Handfessel ab, um ihm die Schreibarbeiten zu ermöglichen. Baader bat um eine Tasse Kaffee, und ein Institutsangestellter servierte umgehend Pulverkaffee und heißes Wasser. Ulrike Meinhof erkundigte sich bei den Justizbeamten, ob sie verheiratet seien und Kinder hätten. »Ja«, antworteten sie, »Frau und Kinder.« Sie waren erstaunt über diese Frage und wunderten sich besonders darüber, dass die Journalistin von der Antwort irritiert schien. Ulrike Meinhof verließ einige Male den Raum, um neues Material zu holen. Dann setzte sie sich neben Baader und redete leise mit ihm.

Es klingelte an der Außentür. Der Institutsangestellte Georg LinkeLinke, Georg öffnete. Vor ihm standen zwei junge Frauen, die schon am Tag zuvor im Institut gewesen waren. Sie wollten direkt an Linke vorbei in den Lesesaal, aber der stellte sich ihnen in den Weg und verwies sie an die Bibliothekarin. »Ich hatte Sie doch gestern gebeten, erst am Nachmittag zu kommen«, sagte sie, »der Lesesaal ist besetzt.« Daraufhin nahmen die beiden Frauen an einem runden Tisch in der Eingangshalle Platz. Linke kehrte in sein Arbeitszimmer zurück.

Die Beamten im Lesesaal hatten den Eindruck, Baader und Ulrike MeinhofMeinhof, Ulrike Marie durchgängig erwähnt bis Seite würden intensiv arbeiten. Beide rauchten eine Zigarette nach der anderen. Um den verqualmten Raum zu lüften, öffnete einer der Beamten das Fenster einen Spaltbreit. Inzwischen war eine knappe Stunde vergangen. Plötzlich hörte Georg LinkeLinke, Georg Geräusche aus der Vorhalle. Er dachte, jemand habe die Außentür offen gelassen, und verließ sein Arbeitszimmer, um nach dem Rechten zu sehen. Die beiden Frauen standen neben der Eingangstür und betätigten den Summer zur Außenpforte.

Unmittelbar darauf wurde die Haustür aufgestoßen. Ein Mann mit einer grünen, grob gestrickten Kopfmaske, die nur die Augen freiließ, stürmte in die Eingangshalle. Ihm folgte eine ebenfalls vermummte Frau.

»Los, schnell in den Saal«, rief der Mann den beiden jungen Frauen zu. Linke versuchte, den Maskierten aufzuhalten, obwohl er zwei Pistolen in dessen Händen sah. Da fiel ein Schuss. Der maskierte Mann hatte mit der Gaspistole, die er in der einen Hand hielt, schießen wollen. Er schoss aber mit der anderen, der scharfen Pistole, die einen Schalldämpfer trug. Georg LinkeLinke, Georg wurde getroffen. Trotz seiner Verletzung lief er in sein Zimmer und schloss die Tür von innen ab. Dann versuchte er, die Durchgangstür zum Raum seiner Chefin abzuschließen. Als er keinen Schlüssel fand, ließ er sich auf den Boden fallen und hielt mit dem ausgestreckten Arm die Klinke hoch. »Springen Sie aus dem Fenster«, rief er zwei Kolleginnen in seinem Zimmer zu. Die Frauen sprangen. Als die beiden im Garten gelandet waren, kletterte auch Georg Linke aus dem Fenster. Die drei Institutsangestellten liefen auf die Straße und versuchten, die Nachbarn auf den Überfall aufmerksam zu machen. Erst jetzt bemerkte LinkeLinke, Georg das Blut an seinem Körper.Institut für Soziale Fragen

Die beiden Frauen, die von der Polizei später als Ingrid SchubertSchubert, Ingrid und Irene GoergensGoergens, Irene identifiziert wurden, rannten in den Lesesaal und schossen mit Tränengaspistolen um sich. »Überfall«, schrie eine. Ihnen folgten der maskierte Mann und die Frau, die ein KleinkalibergewehRAF Rote Armee Fraktion-Waffenr mit sich führte. Es war Gudrun EnsslinEnsslin, Gudrun durchgängig erwähnt. Der Justizbeamte Wegener, der dicht an der Tür saß, sprang auf und griff die Frau an. »Ich schieße«, schrie sie und drängte den Beamten in eine Ecke des Lesesaals. Dort entwickelte sich ein kurzes Handgemenge, bei dem WegenerWegener, Karl-Heinz der Frau eine rote Perücke vom Kopf riss. Darunter kamen kurze blonde Haare zum Vorschein.

Hauptwachtmeister WetterWetter, Günter griff den maskierten Mann an und schlug ihm eine der Pistolen aus der Hand, eine Beretta mit Schalldämpfer. Wetter riss seine Dienstwaffe aus dem Halfter und versuchte, sie durchzuladen. In diesem Moment schoss ihm der Mann mit der Pudelmütze eine Tränengasladung aus unmittelbarer Nähe in die linke Gesichtshälfte. Für einen Moment blind, gab Wetter zwei ungezielte Schüsse ab. Die Kugeln schlugen in die Wände. Als Erster sprang Andreas BaaderBaader, Andreas durchgängig erwähnt aus dem Fenster, dann folgte Ulrike MeinhofMeinhof, Ulrike Marie durchgängig erwähnt bis Seite. Die anderen feuerten noch einige Tränengaspatronen ab und sprangen hinterher. Die Motoren von zwei Autos heulten auf. Dann war es still.

Wie verabredet hatte sich ein Helfer, der später nie identifiziert wurde, gegenüber im Theaterwissenschaftlichen Institut ans Fenster gestellt, um eine Zeitung hochzuheben, wenn keine Gefahr drohte. Er selbst war aber entschlossen, das »grüne Licht« auf keinen Fall zu geben. Er wollte die Befreiungsaktion sabotieren, weil er kurz zuvor erfahren hatte, dass Schusswaffen eingesetzt werden sollten. Vergeblich. Die Akteure im Haus gegenüber hatten das Signal gar nicht erst abgewartet und gleich geschossen.

Niemand sonst im Theaterwissenschaftlichen Institut hatte etwas von der dramatischen Situation gegenüber bemerkt. Erst als Schüsse fielen, liefen Besucher und Mitarbeiter ans Fenster. Sie sahen zum Teil vermummte Gestalten zur Straße rennen. »Guck mal«, sagte einer. »Was sind das da für welche? Die sind ja bewaffneRAF Rote Armee Fraktion-Waffent!« Die Beobachter hatten bis jetzt an einen studentischen Mummenschanz geglaubt, nun griffen sie zum Telefon und riefen die Polizei.

Draußen auf der Straße warfen sich gerade vier Frauen und zwei Männer in einen silbergrauen Alfa Romeo Sprint und einen zweiten, viertürigen Wagen. Am Steuer saß jeweils eine Frau.

An diesem Morgen hatte Astrid ProllProll, Astrid den schon einige Zeit zuvor von ihr beschafften zweitürigen Alfa Romeo vor dem Institut für soziale FragenInstitut für soziale Fragen geparkt, um auf die Befreiten zu warten. Nacheinander klemmten sich drei Frauen durch die Beifahrertür auf den Rücksitz, ein Mann nahm vorn Platz. Astrid Proll kannte den Fluchtweg, hatte ihn vorher einige Male abgefahren. Auf der kurzen Fahrt raste der Wagen über Kopfsteinpflaster und durch einige enge Kurven. Irene GoergensGoergens, Irene, ein Fürsorgezögling aus dem Berliner Heim »Eichenhof«, hatte sich hinter Astrid gesetzt. Plötzlich erbrach sie sich, warm lief es Astrid in den Nacken. Sie bekam eine Ahnung, dass irgendetwas schiefgegangen war.

In dem engen Wagen wurden Masken und Perücken gewechselt, Waffen und Jacken verstaut. In der Mitte saß Ingrid SchubertSchubert, Ingrid, die sich sieben Jahre später, nach dem Tod der Stammheimer Häftlinge, in der Vollzugsanstalt München-StadelheimJustizvollzugsanstalten:München-Stadelheim erhängte. Gudrun EnsslinEnsslin, Gudrun durchgängig erwähnt saß hinten rechts, stumm und angespannt. Alles ging sehr schnell. Astrid Proll hielt einige Male, und allein oder zu zweit verließen ihre Mitfahrer den Wagen, bis sie ihn in einer ruhigen Gegend abstellte, abschloss und wegging.

Um 12.45 Uhr erschien die Mordkommission am Tatort. Der 62-jährige Institutsangestellte Georg LinkeLinke, Georg wurde mit einem lebensgefährlichen Leber-Steckschuss in das Martin-Luther-Krankenhaus eingeliefert.

Die Befreiung Andreas BaaderBaader, Andreas durchgängig erwähnts war gelungen.

Der Baader-Meinhof-Komplex

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