Читать книгу Goschamarie Alte Geschichten - neue Freunde - Stefan Mitrenga - Страница 6
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Während Walter sich in seine warme Bettdecke hüllte, um noch ein paar Stunden zu schlafen, ging in einem Haus in Alberskirch das erste Licht an. Pfarrer Sailer setzte sich umständlich auf und hob die Beine vorsichtig mit den Händen aus dem Bett. Gerade in der kalten Jahreszeit quälte ihn seine Arthrose besonders. Er schob die Füße in die Filzpantoffeln, blieb aber noch ein paar Sekunden sitzen bis der Schmerz in den steifen Knien etwas nachließ. Er vermisste das Privileg der Jugend alles sofort, schnell und ohne Schmerzen tun zu können. Doch er beschwerte sich nicht. Immerhin hatte er einen schweren Herzinfarkt überlebt und konnte seit drei Jahren seinen Ruhestand genießen.
Noch im Nachthemd tapste er in die Küche und machte die Kaffeemaschine an. An den entkoffeinierten Kaffee hatte er sich erst gewöhnen müssen, doch nach einer Weile war die Erinnerung an echten Kaffee verblasst. Leise röchelnd spritzten die ersten Wassertropfen auf das Pulver, das sofort sein wundervolles Aroma verströmte. An der Tür zum Garten war ein leises Kratzen zu hören. Der Pfarrer öffnete die Tür einen Spalt und ein beleibter rothaariger Kater trappelte schnurstracks zu seinem Fressnapf.
„Guten Morgen, Eglon! Dein Futter kommt gleich.“
Eglon lebte seit zwei Jahren bei Pfarrer Sailer. Er war im Nachbardorf Wernsreute mit fünf anderen Kätzchen zur Welt gekommen und als er etwas größer war, wurde er an Pfarrer Sailer verschenkt, der gerade eine neue Katze suchte. Er war damals schon ein Pummelchen gewesen und so hatte ihn der Pfarrer nach einem Moabiterkönig aus der Bibel benannt, der dort als „sehr dicker Mann“ beschrieben wurde. Als er endlich sein Futter bekam, machte sich der Kater sofort darüber her, als hätte er seit Tagen nichts mehr bekommen.
Pfarrer Sailer schaute Eglon kurz beim Fressen zu, wandte sich dann aber seinem eigentlichen Vorhaben zu. Auf dem Küchentisch lag ein Stapel alter Bücher. Sie waren der Grund, warum Pfarrer Sailer so früh wach war.
Ein Bekannter hatte das alte Arzthaus in Dürnast gekauft, und die schweren, in Leder gebundenen Bücher in einem Karton auf dem Dachboden entdeckt. Jeder wusste, wie sehr sich Pfarrer Sailer für die Geschichte und Geschichten der Region interessierte, darum hatte der Bekannte ihm diesen historischen Schatz gerne ausgeliehen.
Er konnte es kaum erwarten in ihnen zu stöbern. Was würde er alles entdecken?
Die Bücher waren in ordentlicher Schrift von Hand geschrieben. Sie enthielten die Aufzeichnungen von insgesamt drei Taldorfer Ärzten, beginnend im Jahr 1803. Damals gab es noch keine Patientenakten, weshalb die Einträge nicht alphabetisch sortiert waren, sondern nach Datum. Er schlug das erste Buch auf und fuhr liebevoll mit der Hand über die eng beschriebene Seite. Der erste Eintrag stammte vom sechsten Juni 1803, einem Montag. „H. Wachter mit Zahnweh. Eitrigen Zahn entfernt. Kamillenumschläge angeraten.“ Pfarrer Sailer wollte sich gar nicht vorstellen, wie das Zähne ziehen damals abgelaufen war. Ein unbequemer Stuhl, eine rostige Zange, keine Betäubung – „... und jetzt schön den Mund auflassen!“.
Er schüttelte den Kopf, um das grausame Bild zu vertreiben und goss Kaffee in seine Lieblingstasse, dazu etwas Milch, ein Löffel Zucker. Er blätterte einige Seiten weiter, fand aber nichts Außergewöhnliches. Zahnbehandlungen tauchten fast täglich auf, Bauchweh bei Kindern, kleinere Verletzungen bei den Arbeitern. Auch Ausschläge und eitrige Wunden waren an der Tagesordnung.
Pfarrer Sailer überflog grob die nächsten Seiten, blätterte vor und zurück und entdeckte immer mehr bekannte Familiennamen. Viele waren heute noch in der Gemeinde verbreitet. Aus den Aufzeichnungen des Arztes konnte man so viel über das damalige Leben erfahren: Krankheiten, Schwangerschaften, Todesfälle, Erbkrankheiten oder auch Missbildungen. Alles war sorgfältig festgehalten worden. Er nahm sich vor, die Fakten zu sortieren, so dass am Ende die Krankengeschichten den einzelnen Familien zugeordnet werden konnten.
Pfarrer Sailer nippte an seiner Tasse und notierte einen ersten Namen in seinem kleinen Notizbuch. Er wusste, dass ihm viel Arbeit bevor stand, aber er hatte ja Zeit. Was für längst vergessene Geschichten würde er wohl finden?
Eglon hatte ihn die letzten Minuten beobachtet, während er sein Fell und seine Barthaare putzte. Er kannte das Interesse des alten Mannes an Geschichten und Geheimnissen, kannte aber auch die Gefahren.
„Manche Geheimnisse sollten auch geheim bleiben!“