Читать книгу Goschamarie Alte Geschichten - neue Freunde - Stefan Mitrenga - Страница 9

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Der Sonntag ist der Tag des Herrn. Pfarrer Sailer hielt sich bis heute daran. Eigentlich war er im Ruhestand, doch der Priestermangel in der katholischen Kirche wirkte sich in den ländlichen Regionen am verheerendsten aus. Der aktuelle Pfarrer war für gleich drei Gemeinden verantwortlich, so dass im günstigsten Fall alle drei Wochen ein Gottesdienst in Taldorf stattfand. Da Pfarrer Sailer zwar pensioniert, aber immer noch geweihter Priester war, las er einmal im Monat aushilfsweise die Messe. Nicht in der großen St. Petrus Kirche in Taldorf, sondern in der kleinen Kapelle in Alberskirch. Sie entsprach genau seiner Vorstellung einer Dorfkirche: nicht zu groß, geschmackvoll geschmückt und heimelig. Hier hatte er immer das Gefühl seiner Gemeinde besonders nah zu sein. Oft ging er sonntagfrüh vor dem Gottesdienst allein in der Kirche umher und genoss in aller Ruhe die unglaubliche Würde des Gebäudes. Es erfüllte ihn mit Ehrfurcht, wenn er daran dachte, dass diese Mauern gut 660 Jahre alt waren. 1353 wurde die Kirche erstmals als Pfarrkirche erwähnt und war damit einiges älter als die große Kirche in Taldorf.

Heute würde er wieder die Messe lesen, doch er schämte sich ein wenig, denn er war keineswegs gut vorbereitet. Freitag und Samstag hatte er fast ausschließlich in den alten Aufzeichnungen der Ärzte recherchiert. Er hatte Stammbäume für die einzelnen Familien angelegt und die Notizen des Arztes hinzugefügt, und so erstaunliche Zusammenhänge gefunden. Körperliche Merkmale die generationenübergreifend immer wieder auftauchten, wie ein Hammerzeh oder ein kurzer Hals, auch Erbkrankheiten wie Herzschwäche oder Demenz. Er war erschrocken, als ihm Annemarie, seine Haushälterin, am Samstagvormittag um kurz nach elf Uhr die gebügelte Wäsche gebracht hatte, so vertieft war er in seine Arbeit gewesen. Sie hatte mit ihm einen Kaffee getrunken und sogar geholfen, einige recht unleserliche Passagen zu entziffern. Als sie gegangen war, hatte er den Gottesdienst vorbereitet, war spazieren gegangen, hatte eine Kleinigkeit zu Abend gegessen und war früh zu Bett gegangen. Doch er war noch lange wach gelegen. Seine Arbeit mit den alten Büchern hatte ihn aufgewühlt und die ziellos umher irrenden Gedanken hielten ihn immer wieder vom Einschlafen ab.

Am Sonntagmorgen verspürte er ein undefinierbares Glücksgefühl. Als er sich seinen Kaffee machte, sah er immer wieder verstohlen zu den Büchern hinüber. Draußen wurde es gerade erst hell, doch für Pfarrer Sailer war es der schönste Sonnenaufgang seit langem. Die Vögel begannen zu zwitschern und klangen irgendwie fröhlicher als sonst, und sogar der Kaffee schmeckte um Welten besser. Eglon, sein Kater schien dieses Gefühl nicht zu teilen. Nachdem er ausgiebig gefressen hatte, miaute er abwechselnd vor der Eingangs- und der Hintertür. Immer, wenn Pfarrer Sailer ihm eine Tür öffnete, schaute er kurz hinaus, um dann umzudrehen und an der anderen Tür dasselbe Theater zu machen. Nach fünf Runden gab der alte Pfarrer auf und ließ den Kater vor der geöffneten Hintertür sitzen. Um halb neun machte er sich zu Fuß auf den Weg zur zweihundert Meter entfernten Kirche. Er war voller Tatendrang und bester Laune und pfiff fröhlich vor sich hin. Das würde mit Sicherheit eine schöne Messe werden. Er hoffte, dass auch seine Gemeinde so fühlen und diesen Tag nicht so schnell vergessen würde.

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