Читать книгу Goschamarie Alte Geschichten - neue Freunde - Stefan Mitrenga - Страница 8
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Der Samstag war Walters Lieblingstag. Nicht um 2.30 Uhr aufstehen und viel Zeit für Haus, Wald und Garten. Die Sonne strahlte schon durchs Fenster, als Walter sich Kaffee machte. Durch das Küchenfenster sah er in den Garten. Jetzt, Anfang März, war noch alles kahl und grau. Doch schon in den nächsten Wochen würde das Grün zurückkommen. Sein Blick viel auf das Nachbargrundstück. Ein Jahr ohne Pflege hatte aus dem Garten einen Urwald werden lassen. Girsch, Brennnesseln und andere Unkräuter überwucherten alles, die Wege waren nur noch zu erahnen. Eine Vogeltränke aus Stein lugte noch knapp aus dem Dickicht hervor und die Reste eines gigantischen Liebstöckels zeigten, wo einst das Kräuterbeet gewesen war. Ob da wirklich wieder jemand einzieht? Walter wusste nicht, ob ihm das gefallen würde. Er schätzte die Abgeschiedenheit und die Ruhe, aber ein neuer Nachbar würde sicher den Druck der Einsamkeit etwas lindern. Hin und wieder ein Gespräch am Gartenzaun, vielleicht auf seiner Terrasse gemeinsam ein Feierabendbier trinken. Walter lächelte bei dem Gedanken.
Balu winselte ungeduldig vor der Tür zum Garten. Er hatte gefressen und jetzt musste er dem Ruf der Natur folgen.
„Na, geh schon!“, sagte Walter und öffnete die Tür. Angenehm frische Morgenluft drang in die Küche und vermischte sich mit dem Kaffeearoma. Walter ging mit seiner Tasse vor die Tür, stellte sich in die Sonne und schloss die Augen.
Balu erledigte sein Geschäft etwas abseits (er würde das nie auf dem eigenen Grundstück tun) und begann dann mit kleinen Spritzern sein Revier zu markieren.
„Nicht hier!“, drohte eine Stimme aus einem Rosenbusch. Walter hatte den Busch im Herbst großzügig mit Heu und Tannenzweigen abgedeckt, um ihn vor der Kälte zu schützen. Ein ideales Winterquartier für einen Igel. „Seppi, du bist schon wach?“, jubelte Balu. Eine kleine schwarze Nase schob sich durch das Heu und schnupperte. „Noch nicht so richtig. Aber ich muss anfangen zu fressen. Ich bin total abgemagert. Wie geht’s dir so? Ist Kitty auch da?“ Balu setzte sich und putzte einen Vorderlauf. „Uns geht’s allen prima. Kitty kommt später sicher auch noch. Wenn du nichts zu fressen findest, kannst du was von ihrem Futter abhaben. Walter stellt ihr jeden Abend ein kleines Schüsselchen mit Nassfutter auf die Terrasse.“ Jetzt lugten auch Seppis kleine Knopfaugen aus dem Heu. „Das wäre toll! Das hat die alte Dame nebenan auch immer gemacht. Ich hoffe, da zieht wieder jemand ein der Tiere mag.“ Balu hörte auf sich zu putzen. „Wie kommst du darauf, dass da wieder jemand einzieht?“ „Neulich waren Leute da. Die sind überall rumgelaufen – im Haus und im Garten. Und haben darüber geredet, was man alles ausbessern und neu machen muss. Hab sie nicht gekannt. Und dann waren sie auch schon wieder weg.“ Balu war jetzt richtig aufgeregt. „Fremde Leute? Eventuell neue Nachbarn? Warum habe ich nichts mitbekommen?“ Seppi leckte etwas Tau von einem Grashalm, der ihn aber an der Nase kitzelte, so dass er niesen musste. „Das war ... also, ähm ... ich glaube vor drei Tagen, oder so? Ach, du weißt doch, dass wir Igel uns mit Zahlen schwer tun. Euer Auto war weg an dem Mittag.“ Balu überlegte. Vor drei Tagen waren sie zu Hause gewesen, aber vorgestern hatte ihn Walter am Nachmittag zum Einkaufen mitgenommen. „Dann war es vor zwei Tagen, Seppi. Aber erzähl doch: was waren das für Leute? War an denen irgendwas Besonderes?“ Seppi zog sich schüchtern wieder etwas in seine Heuhöhle zurück. „Tut mir leid, mehr weiß ich nicht. Hab ja auch nicht hingeschaut, sondern mich versteckt. Bei Fremden weißt du nie! Aber es waren nur Männer, da bin ich mir ganz sicher.“ Der kleine Igel schlüpfte aus seinem Versteck und streckte erst das rechte Hinterbein, dann das linke genüsslich aus. „Ich geh rüber zur Terrasse und schau was noch an Katzenfutter da ist.“ Balu lief gemütlich neben ihm her und setzte unterwegs die ein oder andere Markierung. Walter fegte gerade ein paar Blätter vom letzten Herbst von der Terrasse, als Balu mit wedelnder Rute auf ihn zu gerannt kam. „Stell dir vor Walter: wir kriegen neue Nachbarn! Der Seppi hat sie schon gesehen und die wollen auch ganz viel neu machen und sich ums Grundstück kümmern!“ Walter, der natürlich nichts verstanden hatte, tätschelte dem Wolfsspitz den Kopf. „Du bist ja ganz aufgeregt, Balu. Das liegt sicher am tollen Wetter! Hast recht - einfach herrlich …“ Walters blick wurde von einer Bewegung auf der Dorfstraße eingefangen. Ein Jogger in neongelber Sportkleidung trabte dort locker vor sich hin und wedelte wie wild mit den Armen in Walters Richtung. „Huhuuuuuu!“, rief er schrill und bog in den Weg zu Walters Haus ein. Wenige Sekunden später stand ein heftig atmender Eugen Heesterkamp an Walters Zaun. Er beugte sich leicht vornüber und versuchte seinen Atem zu beruhigen. „Hallo … Walter. Alles … gut … bei Ihnen?“, hechelte er. „Bei mir schon. Da mache ich mir gerade eher Sorgen um sie, Eugen“. Tatsächlich hatte der ehemalige Gymnasiallehrer (Oberstudienrat AD, Fächer: Biologie und Sport) eine besorgniserregende rote Gesichtsfarbe mit bläulichen Flecken an den Ohrläppchen und der Nase. „Nein, nein … alles … in bester … Ordnung!“ Er drückte kurz auf sein schwarzes Armband, das daraufhin leise zu piepsen begann. Nach kurzer Zeit erklang ein durchgehender Ton und Eugen hielt Walter lächelnd das Armband unter die Nase. „Hier! Perfekt. Puls 123. Bisher 1240 Kalorien verbrannt.“ „Um Gottes willen!“, entfuhr es Walter. „Ich hole Ihnen einen Stuhl und ein Glas Wasser!“ Walter war schon auf dem Weg Richtung Haus, als Eugen ihn zurück rief. „Aber nein. Das ist ein idealer Wert. Die Fettverbrennung funktioniert am besten bei einem Puls zwischen 115 und 125. Zumindest bei meinem durchtrainierten Körper. Bei ihnen wäre das wahrscheinlich niedriger. So zwischen 100 und 110.“ Walter fragte sich, ob er das als Beleidigung auffassen sollte, entschied sich aber dagegen. „Ich hatte mal einen 95er Puls. Da hat mir der Arzt Tabletten verschrieben. Die nehme ich bis heute.“ Eugen setzte sein überhebliches Gymnasiallehrergesicht auf und hob belehrend den Zeigefinger. „Natürlich ist ein Ruhepuls über 90 nicht gut. Ein Belastungspuls ist in diesem Bereich aber genau richtig. Ich drucke nachher die Daten von meinem Fitness-Tracker als Diagramm aus, dann könnte ich Ihnen den Verlauf genau zeigen.“ Walter hatte keine Ahnung, wovon Eugen redete. Ein „Trecker“ hatte bei ihm vier Räder und ein solcher war weit und breit nicht zu sehen. „Ach, ist schon gut. Wenn es Ihnen nur gut geht. Aber warum tun sie das? Sie sind doch eh nicht zu dick.“ „Ich jogge, damit das so bleibt. Muss ja nicht jeder so ein kleines Wohlstandsbäuchlein haben, gell?“ Schuldbewusst blickte Walter auf seinen Bauch, der den freien Blick auf seine Schuhe verhinderte. Eigentlich hatte Eugen ja Recht. Etwas weniger Bauch wäre schon schön – auch wegen der Lederhose. Er beschloss darüber nachzudenken, aber nicht jetzt. „Für so was hab ich keine Zeit. Ich muss heute dringend meine drei Hochstämme schneiden. Schiebe das schon seit Wochen vor mir her und bald wird’s warm … dann ist es zu spät.“ „Da kann ich Ihnen doch helfen! Ich habe letztes Jahr am Schuhmacherhof einen Kurs gemacht, damit ich meinen Golden Delicius schneiden kann.“ Was Walter am aller wenigsten wollte, war mit einem dozierenden Oberlehrer im Schlepptau den Nachmittag zu verbringen. „Nein, nein. Das geht schon“, stammelte er. „Bin da ganz schnell durch. Ich möchte doch nicht Ihre wertvolle Trainingszeit vergeuden.“ Eugen hatte gerade mit seltsamen Übungen begonnen, um seine Beinmuskulatur zu dehnen. „Da haben Sie auch wieder Recht. Wissen Sie, ich möchte im Sommer beim Halbmarathon in Lindau mitlaufen. Bis dahin ist noch einiges an Training zu absolvieren.“ Jetzt spreizte er mit dem Rücken zu Walter die Beine und ließ seinen Oberkörper kerzengerade langsam nach unten sinken. Als seine Hände fast den Boden berührten, zeigte sein knochiges Hinterteil steil nach oben und durch den dünnen Stoff der Laufhose zeichnete sich deutlich seine Männlichkeit ab. Walter drehte sich erschreckt zur Seite und hielt sich eine Hand vor die Augen. „Ja Scheißendrecken! So was aber auch!“ Da Eugen sich selbst von hinten nicht sehen konnte, bezog er den Ausruf auf seine Absage zum Baumschneiden. „Also, wenn Sie doch jemanden brauchen, ist das kein Problem. Sie gehen natürlich vor.“ Walter bekam Panik. Warum er wirklich so erschrocken war, konnte er ja nicht sagen. „Nein. Das war nicht wegen Ihnen das war … das war … wegen dem Igel da! Ja Scheißndrecken – ist der schon wach?“ Seppi blickte erschreckt hoch und machte sich auf seinen kurzen Beinen so schnell es ging davon. „Balu! Hilfe! Balu! Die wollen mich fressen!“ Der Wolfsspitz, der gerade einer alten Fuchsspur nachgeschnuppert hatte, kam sofort angerannt. „Aber Seppi, der Walter würde dir nie was tun. Und der Eugen, naja, vielleicht labert er solange bis du einschläfst, mehr aber auch nicht.“ Der ängstliche Igel beruhigte sich etwas, machte aber trotzdem kehrt und trippelte zurück zu seinem Winterquartier. Balu schaute ihm noch zu, wie er sich im Heu verkroch und den Eingang mit seinen kleinen Pfoten von innen mit Heu und Blättern verschloss, dann gesellte er sich zu Walter, der sich gerade von Eugen verabschiedete. „Ich muss dann jetzt auch. Machen Sie es gut. Ich komme alleine klar.“ Eugen hüpfte ein paarmal albern auf der Stelle, bevor er sich wieder in Bewegung setzte. „Na dann: viel Erfolg! Und wenn Sie doch Hilfe brauchen – Sie haben ja meine Handynummer! Tschüß!“ Und schon trabte er davon. Walter holte seine Baumschere aus dem kleinen Geräteschuppen und machte sich an die Arbeit. Seppi hatte sich von seinem Schrecken erholt und schlief schon wieder tief, und Balu lag auf der Terrasse und ließ sich von der Märzsonne das Fell wärmen. Was für ein wunderschöner Tag.