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cc) Ungewissheit
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Es muss bei verständiger Würdigung – nach h.M. bei sämtlichen Vertragsparteien[826] – eine Ungewissheit entweder über den Sachverhalt oder die Rechtslage bestehen. Der Sachverhalt i.S.d. § 55 VwVfG umfasst alle entscheidungserheblichen, d.h. zur Subsumtion unter die einschlägigen Vorschriften notwendigerweise festzustellenden Tatsachen.
Beispiele:
1. | Die unbestimmten Gesetzesbegriffe „im Zusammenhang bebauter Ortsteil“ (§ 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB) und „Außenbereich“ (§ 35 Abs. 1 BauGB) sind höchstrichterlich geklärt. Besteht zwischen den Beteiligten kein Streit über die rechtlichen Maßstäbe, sondern darüber, ob das Grundstück nach den tatsächlichen Gegebenheiten noch Teil des Innenbereichs oder des Außenbereichs ist, handelt es sich um eine Frage der Tatsachenfeststellung und -würdigung. |
2. | Hängt die Feststellung der Nichteignung zum Führen von Kraftfahrzeugen z.B. wegen des Konsums von Betäubungsmitteln von einer medizinisch-psychologischen Untersuchung ab, kann eine im Vergleichswege überbrückbare Ungewissheit über den Sachverhalt bestehen.[827] |
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Zur Rechtslage i.S.d. § 55 VwVfG gehören alle entscheidungserheblichen Rechtsfragen, also solche über die einschlägigen Rechtsgrundlagen, deren Wirksamkeit, Auslegung und Anwendung sowie über die Rechtsfolgen.[828] Zulässig ist ein Vergleichsvertrag auch dann, wenn eine Ungewissheit über die Auslegung von Unionsrecht besteht, solange an das Merkmal der Ungewissheit keine anderen Anforderungen gestellt werden als bei Sachverhalten, die nur durch nationales Recht geregelt werden.[829]
Beispiel:
Für einen alten Weg lassen sich keine Widmungsunterlagen auffinden. Ob der Weg als öffentlicher Weg im Sinne der Straßen- und Wegegesetze der Länder anzusehen ist, richtet sich nach den Bestimmungen, die zum Zeitpunkt der Entstehung des Weges galten.[830] Bei territorialen Veränderungen kann schon die Ermittlung des maßgeblichen Rechts mit großen Schwierigkeiten verbunden sein. Ist das anzuwendende Recht ermittelt, muss die Behörde feststellen, wie das Recht in der maßgeblichen Zeit angewendet worden ist.
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Die Prüfung der Ungewissheit erfolgt zweistufig: Zunächst ist in subjektiver Hinsicht zu prüfen, ob die Vertragsparteien über einen tatsächlichen Umstand oder eine Rechtsfrage im Ungewissen sind.[831] Die entscheidungserhebliche Rechtsfrage z.B. muss offen sein; ein gemeinsamer Rechtsirrtum ist dagegen keine Ungewissheit.[832] Über das Kriterium der „verständigen Würdigung“ ist auf der zweiten Stufe auf der Grundlage des objektiven Empfängerhorizonts zu beurteilen, ob die Ungewissheit über den Sachverhalt oder die Rechtslage eine Lockerung des Gesetzmäßigkeitsprinzips rechtfertigt.[833] Dabei sind gerade wegen der Gesetzesgebundenheit der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG) an die Feststellung der Ungewissheit i.S.d. § 55 VwVfG hohe Anforderungen zu stellen. Diese sind nur dann erfüllt, wenn die Behörde das ihr im konkreten Einzelfall rechtlich und tatsächlich Mögliche und Zumutbare zur Beseitigung der Ungewissheit unternommen hat.[834] Auch wenn das Verwaltungsverfahren einfach, zweckmäßig und zügig durchzuführen ist (§ 10 Satz 2 VwVfG), darf die Behörde nicht voreilig zugunsten einer gütlichen Einigung mit dem Betroffenen von einer möglichen und zumutbaren Tatsachenermittlung oder Rechtsprüfung absehen.
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Bezogen auf den Sachverhalt bedeutet dies konkret, dass die Behörde nicht von ihrer Amtsermittlungspflicht (§ 24 VwVfG) entbunden wird. Sie muss sich zunächst um eine Aufklärung des Sachverhalts mit den ihr zur Verfügung stehenden Erkenntnis- und Beweismitteln (vgl. §§ 26, 27 VwVfG) bemühen. Die Grenze wird durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip (hier in Gestalt des verwaltungsrechtlichen Grundsatzes der Verfahrensökonomie) gezogen.[835] Wie umfangreich die Behörde im Einzelnen ermitteln muss, richtet sich deshalb nach dem tatsächlichen und rechtlichen Gewicht der betroffenen Rechte und Interessen, dem zu betreibenden Sach-, Personal- und Zeitaufwand sowie dem davon zu erwartenden Erkenntnisgewinn.[836] Eine Grenze der Aufklärungspflicht kann sich aus der Mitwirkungsverweigerung des Betroffenen ergeben.[837]
Beispiele:
1. | Ein im Außenbereich gelegenes, zu Wohnzwecken genutztes Gebäude ist nach Angaben des Eigentümers in den Kriegszeiten als sog. Behelfsheim baurechtlich genehmigt worden. Es sind keine Unterlagen mehr auffindbar. Hier wäre es bei verständiger Würdigung verfrüht, sogleich von einer Ungewissheit i.S.d. § 55 VwVfG auszugehen, die die Behörde im Vergleichswege zur Duldung des Zustandes berechtigen würde. Der Eigentümer kann zunächst aufgefordert werden, baugenehmigungsfähige Unterlagen einzureichen, um die Behörde in die Lage zu versetzen, die baurechtliche Zulässigkeit des Gebäudes zu beurteilen. Welche weiteren Nachweise die Behörde zur Beurteilung fordern kann, hängt davon ab, wer die Beweisführungslast für das Vorliegen einer bauaufsichtlichen Genehmigung hat. Diese dürfte regelmäßig beim Eigentümer liegen. |
2. | Zwischen der Gemeinde und dem Anlieger bestand Ungewissheit darüber, ob ein Grundstück leitungsmäßig erschlossen ist. Zur Anbindung an den in der angrenzenden öffentlichen Straße verlegten Kanal wären eine ca. 100 Meter lange Hausanschlussleitung sowie wegen der abschüssigen Hanglage und des vorgegebenen Kanalniveaus der Einbau einer Hebeanlage erforderlich geworden. Dies wäre mit unverhältnismäßig hohen Kosten verbunden gewesen. Auf dieser Grundlage nahm der Bayerische Verwaltungsgerichtshof eine Ungewissheit an, weil nach dessen Rechtsprechung eine Erschließung durch eine öffentliche Entwässerungsanlage nicht vorliegt, wenn die den Grundstückseigentümer treffenden Anschlusskosten außer Verhältnis zum Verkehrswert des Grundstücks stehen. Die ungewissen Erschließungsverhältnisse stellten eine ausreichende Rechtfertigung für den Vergleichsvertrag dar. Die Beteiligten konnten und brauchten die fragliche Erschließungssituation nicht abschließend zu klären, sondern konnten diese, nicht zuletzt zur Vermeidung einer etwaigen Festsetzungsverjährung sowie eines Rechtsstreits, zum Gegenstand eines Vergleichsvertrages machen.[838] |
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Hinsichtlich der Rechtslage können sich nach verständiger Würdigung Ungewissheiten ergeben z.B. bei einer komplexen oder noch nicht durch Rechtsprechung hinreichend verlässlich konturierten Rechtslage.[839] Wie weit die Behörde die Rechtslage klären muss, hängt auch hier vom tatsächlichen und rechtlichen Gewicht der betroffenen Rechte und Interessen, vom Aufwand und vom voraussichtlichen Erkenntnisgewinn der in Betracht kommenden Klärungsversuche ab.[840] Dabei kann die Behörde im Einzelfall gehalten sein, externen Rechtsrat einzuholen.
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Das Tatbestandsmerkmal der „verständigen Würdigung“ eröffnet keinen Beurteilungsspielraum der Behörde, sondern unterliegt der uneingeschränkten gerichtlichen Kontrolle.[841]