Читать книгу Aroma - Die Kunst des Würzens - Thomas Vierich - Страница 9
EINE KLEINE GESCHICHTE DES WÜRZENS
Оглавление„Wo keinerlei Besorgnisse bestehen, sich das Leben angenehm zu gestalten, wo die Vermögensverhältnisse für die Zukunft gesichert sind, mit einem Wort, wo man nicht auf das Geld zu sehen braucht, hat die Kochkunst das beste Feld zu ihrer Entwicklung, weil sie den wichtigsten Faktor bei einem der angenehmsten Vergnügen, die den Menschen gegeben sind, bildet“, schrieb Auguste Escoffier, einer der berühmtesten Köche und Kochtheoretiker aller Zeiten, um 1900. Sein Landsmann Jean Anthèlme Brillat-Savarin, einer der berühmtesten schreibenden Gourmets, erklärte in seiner „Physiologie des Geschmacks“: „Die Tiere fressen, der Mensch isst, der Mensch von Geist versteht die Kunst zu essen.“
VON TIEREN UND MENSCHEN
Viele Tiere sind dem Menschen weitaus überlegen darin, Geschmack und Gerüche wahrzunehmen. Mithilfe dieser Sinne erkennen sie so essenzielle Dinge wie Nahrung, Familienzugehörigkeit oder potenzielle Partner. Allerdings machte erst der „Homo sapiens“ daraus ein kulinarisches Spiel – und ein soziales.
Bei der Wahl der Nahrungsmittel und Gewürze spielten nicht nur Geschmack und Aroma eine Rolle, sondern auch deren Seltenheitswert, ihr Preis und nicht zuletzt kulinarische Moden. Wer was aß und wie würzte, wurde durch die Jahrtausende zum Distinktionsmerkmal, das aussagte, wie „kultiviert“ jemand war und welcher Klasse er angehörte. Dabei ziehen sich zwei Tendenzen wie ein roter Faden durch die Geschichte der europäischen Küche: Zum einen wurde von der Antike bis in das 19. Jahrhundert in gehobenen Kreisen eher geprasst denn feinfühlig abgeschmeckt, da Gewürze ein teures Statussymbol waren, das man allzu gerne zur Schau stellte. Zum anderen forderten Gourmets immer wieder, sparsam zu würzen und den Eigengeschmack der Zutaten zu betonen. Das zurückhaltende Würzen statt der notorisch überwürzten antiken und mittelalterlichen „Angeberküche“ setzte sich als Hochküche schließlich in Frankreich durch und eroberte von dort aus die Welt. Gleichzeitig entdeckte die bürgerliche Alltagsküche langsam die exotischen Gewürze für sich, die besonders im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts deutlich günstiger wurden und leichter erhältlich waren. In den letzten Jahrzehnten hat sich mit der Globalisierung der weltweite Austausch an Gewürzen und Zutaten beschleunigt. Heute steht uns fast alles jederzeit zur Verfügung und fremde, exotische Gewürze laden ebenso zum Experimentieren ein wie wiederentdeckte heimische Kräuter und Traditionen.
ESSEN UND WÜRZEN IN DER VORGESCHICHTE
Es könnte durchaus sein, dass unsere Vorliebe für Fettes, Süßes und für den herzhaften umami-Geschmack genetisch bedingt ist, denn diese Stoffe musste der Körper in der Urzeit sofort erkennen und als „genießbar“ und „dringend notwendig“ einstufen ( Geschmack und seine Funktion, Seite 10). Das Fett gewann man in der Steinzeit aus Markknochen und aus Fischen, den Zucker aus Früchten, Beeren, Honig, Ahornsirup und anderen Pflanzenextrakten. Der umami-Geschmack ermöglichte das Erkennen von proteinreichen Pflanzen und Fleisch.
Die ersten Menschen lebten als Nomaden, sie kultivierten noch keine Pflanzen, geschweige denn Würzkräuter. Die „Entdeckung“, Zähmung und Verwendung des Feuers hatte nicht nur geschmackliche Auswirkungen, sie war auch für die Entwicklung der menschlichen Intelligenz wichtig: Die Hitze garte das Fleisch vor, wodurch der steinzeitliche Mensch weniger Energie für die Verdauung aufwenden musste. So blieb mehr Energie für Denkleistungen und letztlich für die Entwicklung des Gehirns übrig. Die ältesten von Menschen angelegten Feuerstellen wurden in Südafrika gefunden, sie sind etwa eine Million Jahre alt. In ihnen fanden Forscher Knochen- und Pflanzenreste – es wurde also tatsächlich an ihnen gekocht. Etwas genauer lassen sich die „ersten Zutaten der Welt“ in Feuerstellen bestimmen, die im Norden des heutigen Israels gefunden wurden und die immerhin fast 800 000 Jahre alt sind: Archäologen identifizierten das Holz wilder Olivenbäume und wilder Weinbeeren. Ob die dazugehörigen Früchte tatsächlich gegessen wurden, lässt sich leider nicht mehr feststellen, es ist aber anzunehmen.
Die Nahrung der Jäger und Sammler bestand bis vor etwa 11 000 Jahren neben Fleisch und Fisch aus gesammelten Samen, Früchten, Wurzeln und Knollen – was man eben so fand. Einige Würzzutaten sind bekannt: Oliven, Haselnüsse, Pistazien und Feigen, in Meeresnähe wurden außerdem Algen verwendet, wenn auch eher als Nahrung denn als Gewürz. Etwa in dieser Zeit wurden im heutigen Nahen Osten die ersten Menschen sesshaft, mit entscheidenden Auswirkungen auf die Essgewohnheiten. Sie begannen mit dem Anbau von Weizen und Gerste und mit der Züchtung von Pflanzen. Die Viehzucht entwickelte sich und damit die Milchwirtschaft. Milchkonsum war nicht unproblematisch: Wie viele andere Säugetiere verliert der Mensch nach dem Abstillen die Fähigkeit, Milch zu verdauen. Regelmäßiger Konsum senkte jedoch die Laktoseintoleranz: Nordwesteuropäer und viele andere Völker mit intensiver Milchwirtschaft vertragen Milch ein Leben lang: Diese Fähigkeit hat sich genetisch entwickelt und wird weitervererbt.
Womit würzten die Menschen in vorgeschichtlichen Zeiten? Auf diese Frage kann die Wissenschaft der Archäobotanik Antwort geben. Sie untersucht winzige Überreste von Gewürzen, die bei Ausgrabungen gefunden werden. Einzelfunde deuten auf Wildsammlungen hin, größere Mengen auf einen gezielten Anbau. Kümmel konnte seit 5 000 v. Chr. als Gewürz nachgewiesen werden und könnte sogar noch früher verwendet worden sein, denn seine verdauungsfördernde Funktion wird den Menschen auch damals nicht entgangen sein. Oliven, Datteln und Granatäpfel wurden im Orient seit dem 3. Jahrtausend v. Chr. zu Kulturformen gezüchtet. Lokal wild wachsende Gewürze und Kräuter – etwa Sesam und Bocks hornklee – konnten nachgewiesen werden, ebenso Koriander, Kreuzkümmel, Kresse und Nigella. In Amerika wurde die Chilischote schon in prähistorischer Zeit angebaut und als Würze etwa für Gerichte mit Mais und Kürbis genutzt. Die Verwendung von Salz ist archäologisch nur schwer zu belegen – Wasser wäscht alle Spuren hinweg –, die Produktion aber sehr wohl: In Mitteleuropa wurde vermutlich schon seit dem 4. Jahrtausend v. Chr. Salz gewonnen, mit Sicherheit aber seit 2 000 v. Chr. Leider sind aus prähistorischer Zeit keine Rezepte überliefert: Zutaten sind zwar bekannt, aber nicht deren Kombination.
ANTIKE HOCHKULTUREN – GASTROSOPHIE UND FEINE ZUTATEN
Besser wird die Quellenlage, wenn wir uns den ersten Hochkulturen und der Antike nähern. Im Zweistromland Mesopotamiens entstand die erste Hochkultur in der Geschichte der Menschheit. Die Sumerer verwendeten Lorbeer – zumindest bekränzten sie damit siegreiche Faustkämpfer – und kannten die berauschende und betäubende Wirkung des Mohns. Von den nachfolgenden Babyloniern weiß man, dass sie recht üppig tafelten – selbst die ärmeren Schichten. Frühe schriftliche Zeugnisse zu Gewürzen stammen von Keilschrifttafeln, die auf ungefähr 1 700 v. Chr. datiert werden. Sie erwähnen Trüffeln und andere Pilze, verschiedene Möhrenarten und Hülsenfrüchte, dazu kommen Senf, Pistazien, Granatäpfel, Salz, Essig, Kümmel, Koriander, Wacholderbeeren und Minze. Teilweise sind die babylonischen Bezeichnungen und Beschreibungen jedoch mehrdeutig, also weiß man nicht immer genau, welches Kraut und welches Gewürz gemeint waren. Kulinarisch aktiv waren die Babylonier in jeden Fall: Milch, Butter und Schmalz, Öle aus Oliven und Sesam, 18 Käsesorten und 300 (!) Brotsorten kannten sie.
Erfunden haben das Brotbacken allerdings die Niltal-Bewohner. Bei den Ägyptern war das Brot die entscheidende Ernährungsgrundlage – es diente sogar als Währung. Aber auch Gewürze und wertvolle Zutaten müssen einen hohen Stellenwert besessen haben: Man gab sie Verstorbenen mit auf ihre letzte Reise. Im Grab einer ägyptischen Adligen fand man als Proviant der Toten: Gerstenbrei, eine Wachtel, zwei Nierchen, Taubenragout, einen Fisch ohne Kopf, zwei Rinderkoteletts, dreieckige Weizenbrötchen und als Dessert einen Brei aus Feigen und Kirschen. In Krügen befand sich eine Art Käse sowie Wein und Bier. Andere Gräber enthielten Muskatnüsse und im berühmten Grab von Tutanchamun fand man Bockshornkleesamen. Unklar ist allerdings die Verwendung: Von Zimt etwa weiß man, dass er nur zu rituellen Zwecken eingesetzt wurde – dienten Muskat und Bockshornklee auch als Kultobjekt oder würzte man mit ihnen? Nicht einmal das Ursprungsland der ägyptischen Gewürze ist gesichert: Seit dem 3. Jahrtausend v. Chr. bezogen die Ägypter zum Beispiel Weihrauch und Myrrhe aus „Punt“ – wobei nur vermutet werden kann, dass damit das heutige Somalia oder generell die Gegend rund um das Rote Meer gemeint war. Eine kleine Sensation ist in Jordanien entdeckt worden: Ein ganzes Tongefäß, randvoll mit einem Gemisch aus Bockshornkleesamen, Kreuzkümmel und Traubenkernen – datiert auf das 9. Jahrhundert v. Chr. Falls es sich dabei nicht um Medizin gehandelt hat, wäre das die älteste belegte Gewürzmischung der Welt.
GEWÜRZE AUS DEM ALTEN ÄGYPTEN BIS ZUR GRIECHISCH-RÖMISCHEN ZEIT
Seit prädynastischer Zeit (4000–3032 v. Chr.):
Erdmandel
Wacholder
Seit dem Mittleren Reich (2100 bis 1781 v. Chr.):
Zwiebel
Schwarzkümmel
Olive
Pinienkerne
Seit dem Neuen Reich (1550–1070 v. Chr.):
Knoblauch
Mandel
Dill
Sellerie
Saflor / Färberdistel
Koriander
Kreuzkümmel
Schwarzer Pfeffer
Granatapfel
Sesam
Ajowan
Bockshornklee
Seit griechisch-römischer Zeit (4. Jh. v. Chr.):
Senf
Kapern
Haselnuss
Fenchel
Walnuss
Myrte
Tamarinde
Früheste schriftliche Zeugnisse zu Gewürzen, die sich relativ genau deuten lassen, stammen von 1 200 v. Chr., aus der griechischen Stadt Mykene: Auf Steintafeln werden dort unter anderem Koriander, Kreuzkümmel, Fenchel, Sesam, Selleriesamen und Minze erwähnt. Allerdings lässt sich heute nicht mehr bestimmen, ob sie zum Kochen, für Parfüms, als Medizin oder als Konservierungsmittel verwendet wurden – alle Verwendungen wären möglich gewesen.
In der Klassischen Zeit ab 500 v. Chr. bevorzugten die Griechen einen scharfen und essigsauren Geschmack. Als Quelle für Kulinarik und Würzgewohnheiten ist die „Deipnosophistae“ (Das Gelehrtenmahl) von Athenaios aus Naucratis sehr wichtig: Obwohl er viele Jahrhunderte später lebte, beinhaltet sein Werk zahlreiche Zitate aus früheren kulinarischen Werken. Ihm zufolge beruhte die klassische griechische Küche auf Korn, Wein und Öl – dazu kamen gedünstetes Fleisch, Gemüse, Kräuter, Gewürze und Honig. Essig kannte man ebenfalls – etwa in einer sauren Sauce mit scharfen Senfkörnern –, vielleicht eine Frühform unseres Senfs. Zu den häufigsten Gewürzen zählten Mohn, Sesam und Leinsamen, auch verschiedene Käse, Rosinen und andere Trockenfrüchte. Als Fette dienten neben Öl auch Talg oder Schmalz. Des Weiteren kannte man Oliven, Basilikum, Bärlauch, Kerbel und Petersilie. Melisse ist etymologisch griechisch: Im Wortstamm „meli“ steckt das griechische Wort für „Honig“. Die antiken Imker pflanzten dieses Kraut für ihre Bienen. Korianderkraut hingegen erinnerte die Griechen olfaktorisch an die Wanze: „koris“. Langer Pfeffer war beliebt, den Schwarzen Pfeffer brachte Alexander der Große im 4. Jahrhundert v. Chr. von seinen Feldzügen in Indien mit in die Heimat. Auf dem gleichen Weg gelangte auch die Gewürznelke in den Mittelmeerraum. Sie sollte wie der echte Schwarze Pfeffer für viele Jahrhunderte ein sehr teures Luxusgut bleiben.
Angepflanzt oder importiert wurden: Bohnenkraut, Borretsch, Dill, Fenchel, Kerbel, Knoblauch, Koriander, Kümmel, Liebstöckel, Majoran, Melisse, Petersilie, Sellerie und Thymian sowie Mandeln, Kirschen, Pfirsiche, Quitten und Mispeln.
Die berüchtigtsten Delikatessen des Apicius, viele kommen in der gleichnamigen Rezeptsammlung vor: Flamingozunge (wird bei Plinius erwähnt), Gebärmutter einer Jungsau, Hoden von Ziegenböcken, Euter und Schweinezitzen, Papagei, Pfau, gefüllte Haselmäuse.
BEISPIELE VON REZEPTEN AUS DEM APICIUS:
Gemüsezwiebeln: „1. Gemüsezwiebeln serviere mit Öl, Liquamen und Essig, mit ein wenig daraufgestreutem Kümmel {vermutlich ist Kreuzkümmel gemeint}. 2. Auf andere Art: Zerstampfe die Gemüsezwiebeln, worauf du sie in Wasser kochst, dann schmore sie in Öl. Die Sauce mache folgendermaßen: Thymian, Poleiminze, Pfeffer, Oregano, Honig, ein wenig Essig und, wenn es gefällt, auch ein wenig Liquamen {Garum / Fischsoße}. Streue Pfeffer darauf und serviere.“
Gesottene Fische: „Stoße Pfeffer, Liebstöckel, Selleriesamen, gieße Essig, Liquamen und Eidotter dazu, gieße es zusammengemischt darüber und trage auf.“ Eher bedenklich ist sein Umgang mit den kostbaren
Trüffeln: „Schäle die Trüffel, koche sie, bestreue sie mit Salz und stecke sie auf ein Stäbchen. Grille sie an und gib in einen Topf Öl, Liquamen, Caroenum {eingekochter Most}, Wein, Pfeffer und Honig. Wenn es aufgekocht ist, binde mit Stärkemehl. Garniere die Trüffel und serviere.“
Ein Sizilianer, Archestratos von Gela, forderte bereits im 4. Jahrhundert v. Chr. in seinem einflussreichen Lehrgedicht „Hedypa-theia“ (Leben im Luxus), nur allerbeste Zutaten zu verwenden, so frisch und saisonal wie möglich. Diese erstklassigen Zutaten solle man schlicht zubereiten, um ihren Eigengeschmack zu betonen. Archestratos warnte davor, alles mit Käse und Essig zu begießen – offenbar eine Vorliebe seiner Zeitgenossen – und empfahl, stattdessen nur mit Salz und Öl zu würzen, eventuell mit Kreuzkümmel. Vor allem mochte er die im Altertum äußerst beliebte Alleswürze Silphion (Silphium) nicht. Das Kraut hat vermutlich fenchelähnlich geschmeckt und starb im 1. Jahrhundert aus – aufgrund von Übererntung. Heute weiß man nur noch anhand von Abbildungen auf antiken Münzen, wie das Kraut ausgesehen haben muss. Verwendet wurde, ähnlich wie bei Asant, das aus den angeritzten Stängeln ausfließende Harz. Die letzten Stängel Silphion, so berichtet Plinius der Ältere, wurden Kaiser Nero geschickt.
Die Römer waren sehr an gutem Essen und Trinken interessiert und lernten von allen Völkern, die sie unterwarfen oder kolonisierten. Die Legionäre brachten die Gewürze mit in die Heimat: etwa den Silphion-Ersatz Asant aus dem Nahen Osten oder den Bockshornklee aus Kleinasien. Das ausgedehnte römische Handelsnetz zog sich bis nach Indien: In spätrömischer Zeit wurde zum Beispiel Pfeffer auf dem direkten Seeweg, ohne Zwischenhändler importiert. Dadurch war er preislich keineswegs mehr ein Luxusartikel – was sich im Mittelalter wieder ändern sollte, als arabische Händler das Monopol innehatten. Gleichzeitig exportierten die Römer ihre eigenen Kenntnisse in die entlegensten Teile ihres Reiches und führten viele Kräuter- und Obstbaumsorten im nördlicheren Europa ein, zum Beispiel Dill, das dann zum nordeuropäischen Kraut schlechthin wurde.
Diese mehr oder weniger leicht verfügbare Vielfalt führte dazu, dass neureiche Römer ihre Gerichte gerne überwürzten, was den Spott mancher Zeitgenossen herausforderte: „Sie geben ein Pfund Silphium dazu und hauen obendrauf eine Ladung Senfkörner. Das Zeug ist dann so scharf, dass ihnen selbst die Augen tropfen, noch ehe sie’s kleingehackt haben.“ Das schrieb der Komödiendichter Titus Maccius Plautus in seinem Theaterstück „Pseudolus“. Aus heutiger Sicht könnte man das auch anders sehen und die „Geschmacksexplosion“, den Gewürzreichtum und die betonte Exotik hervorheben. Bei diesen römischen Gelagen kam es immer auf die opulente Wirkung an. Das fand seinen Niederschlag in den berüchtigten Flamingozungen des Apicius, eines römischen Feinschmeckers, der vermutlich im 1. Jahrhundert nach Christus gelebt hat. Nach ihm wurde das einzige überlieferte Kochbuch aus römischer Zeit benannt: „De re coquinaria“ (Über die Kochkunst) datiert zwar aus dem 4. Jahrhundert, soll aber viele seiner Rezepte beinhalten. Von Apicius stammt beispielsweise die Idee, Schweine mit getrockneten Feigen („ficus“) zu mästen und ihnen kurz vor dem Schlachten „mulsum“ – ein Gemisch aus Wein und Honig im Verhältnis von 4 :1 – zu trinken zu geben, um eine besonders wohlschmeckende Leber zu erhalten. Die Wortschöpfung dafür – „ficatum“ – hat sich als „fegato“ (italienisch), „fígado“ (portugiesisch) oder „foie“ (französisch) für Leber in allen romanischen Sprachen erhalten.
Die Gastmahle im alten Römischen Reich waren keineswegs so dekadent wie sie oftmals dargestellt wurden. Dieser Irrglaube beruht nicht zuletzt darauf, dass viele literarische Quellen zu diesem Thema satirischer Natur sind.
Das Abendessen (convivum, „zusammen leben“) war die Hauptmahlzeit. Es entsprach dem griechischen Symposion, dem gemeinsamen, geselligen Essen und Trinken, bei dem privates wie geschäftliches besprochen werden konnte. Anders als die Griechen tranken die Römer Wein nur zum Essen. Sie verwendeten keine Gabeln, nur Löffel, ansonsten aß man mit den Händen. Rund um das Mittelmeer hat sich die Tradition des Convivums über viele Jahrhunderte erhalten.
Zu den bei Apicius erwähnten Gewürzen und Kräutern zählen Pfeffer, Kümmel, Kreuzkümmel, Anis, Silphion, Asant, Selleriesamen, Fenchel, Dill, Rucola, getrocknete Myrtenbeeren, Lorbeer, Zwiebeln, Schalotten, Lauch, Koriander, Kresse, Majoran, Oregano, Bohnenkraut, Ingwer, Thymian, Liebstöckel, Raute, Safran, Petersilie, Gewürznelke, Sumach, verschiedene Minzsorten – darunter auch recht streng riechende wie Katzenminze oder Frauenminze, die heute nicht mehr kulinarisch genutzt werden – und einige uns heute unbekannte Gewürze wie „Nardenspitzen“, „Bartnuss“ oder „Addena“. Seltsamerweise verwendet Apicius das typisch mediterrane Rosmarin nicht – auch nicht zu Lamm. Tatsächlich war Rosmarin als Gewürz bei den Griechen und Römern nicht bekannt, lediglich der griechische Arzt Dioskurides erwähnt es im 1. Jahrhundert als Heilpflanze. Basilikum war den späten Römern ebenfalls nicht vertraut, obwohl es in der griechischen Küche sehr beliebt war. Auch Rohrzucker war zu Apicius’ Lebzeiten noch nicht in Gebrauch: Erst ab dem 7. Jahrhundert extrahierten die Perser den Saft des Rohrzuckers in Tongefäße, an dessen Boden er zum charakteristischen Zuckerhut auskristallisierte. In dieser Form sollte er von der Spätantike an das gesamte Mittelalter über ein seltenes, sehr teures Importgut aus dem persischen Raum sein. Zu Apicius’ Zeiten diente hingegen Honig oder Sirup aus Wein, Most oder Fruchtsäften zum Süßen. Das ergab allerdings einen vielschichtigeren, weniger „reinen“ Geschmack als Zucker.
An flüssigen Würzen kommt die typisch römische Sauce „Garum“ (auch „Liquamen“ genannt) oft bei Apicius vor. Für ihre Herstellung wurde gepökelter Fisch verwendet, der enzymatisch fermentiert wurde – also keineswegs „vergammelt“ war. Das altrömische „Garum“ muss deshalb einen ähnlichen umami-Geschmack (Seite 10, 43) gehabt haben wie heutige asiatische Fischsaucen. Auch den Geschmack süßer Saucen schätzten die Römer sehr. Die Saucen bestanden aus Gewürzen und Kräutern sowie aus verschiedenen Flüssigkeiten und einem Verdickungsmittel: zum Beispiel den eingekochten Traubensirupen „Defritum“ und „Caroenum“ sowie „Passum“, eine Weinessenz aus in bestem Wein eingelegten und dann ausgepressten Rosinen. Als Würzpaste war in der römischen Küche „Moretum“ sehr beliebt, eine Art antikes Pesto: Es bestand aus geriebenem Käse, Olivenöl, Selleriegrün, Weinraute, Koriander und Knoblauch. Die Zutaten wurde im Mörser („mortarium“) zerstoßen – daher der Name. Damit wurde vor allem Schweinefleisch gewürzt, das die Römer dem Rindfleisch vorzogen, oder es wurde einfach zu Brot gereicht.
Insgesamt dürfte die antike römische Küche also salzig-umami nach „Garum“, lauchig nach Silphion beziehungsweise Asant und pfeffrig-scharf respektive süßlich geschmeckt und gerochen haben. Ihr Geheimnis bestand darin, selbst bei ungewöhnlichen Kombinationen wie süß-pfeffrig oder süß-sauer ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen den Geschmacksrichtungen zu finden und gleichzeitig immer wieder neue Gewürze und ihre Aromen zu integrieren. Bis heute bildet die römische Küche die Basis der mediterranen und europäischen Kochkultur.
ESSGEWOHNHEITEN IM MITTELALTER: HAUPTSACHE VIEL
Während der ersten fünfhundert Jahre nach dem Untergang des römischen Imperiums, als das Mittelalter vermutlich wirklich „finster“ war, geriet in Europa auch ein Großteil der römischen Kochtradition und des römisch-antiken Verständnisses für Kultur und feine Küche in Vergessenheit. Stattdessen herrschten Trink- und Essensexzesse: Hauptsache viel, war das Motto zwischen den mittelalterlichen Metropolen Madrid, Rom, Paris, London, Aachen und Krakau. Die Gerichte der Oberschicht ähnelten sich damals in ganz Europa, mit nur wenigen regionalen Ausformungen. Die gehobene mittelalterliche Küche war grenzübergreifend eine „Angeberküche“: Man hackte die Zutaten klein und machte aus ihnen Pasten, aus denen man wiederum grandiose Gebilde formte. Farben waren deshalb sehr wichtig. Zeitgenössische Kochbücher enthalten mehr Informationen über solche Gestaltungsmöglichkeiten als über den Geschmack und das Aroma der Zutaten: Petersilie färbt grün, Safran gelb, Kirschen rot, Veilchen blau. Suppen wurden manchmal geteilt in zwei verschiedenen Farben serviert. Manche „Gewürze“ wurden ausschließlich als Färbemittel verwendet – etwa Kurkuma, den die Mauren nach Europa brachten.
Eine wichtige Quelle für die Verwendung von Kräutern in dieser Zeit ist die Verordnung „Capitulare de Villis et curtis Imperialibus“, die Karl der Große 812 verfügte. Auf jedem Krongut und Reichshof sollte ein Garten mit genau festgelegten Kräutern und Pflanzen angelegt werden. Die Verordnung ging wohl auf römische Quellen zurück. Es handelte sich um Nutzpflanzen für Menschen und Tiere, die nähren, würzen, heilen, konservieren oder auch Ungeziefer vertreiben sollten – oft mehreres gleichzeitig. In erster Linie waren sie für die Versorgung des kaiserlichen Hofstaates gedacht, wurden aber stilprägend für viele spätere Kloster- und Bauerngärten. Im Spätmittelalter legten sich reiche Bürger Gemüse- und Kräutergärten vor den Stadttoren an. Manche Kräuter wurden wild gesammelt – zum Beispiel Bärlauch oder Brunnenkresse –, andere stammten aus dem Mittelmeerraum und wurden als Samen oder Stecklinge nach Nord- und Mitteleuropa transportiert. Allerdings wurden nicht alle Pflanzen überall angebaut, sondern nur dort, wo sie auch klimatisch gedeihen konnten.
Zu den Kräutern und Gewürzen in der „Capitulare de Villis“ gehörten Estragon, Kümmel, Kreuzkümmel, Bergkümmel, Bärlauch, Nigella, Poleiminze und andere Minzen, Rosmarin, Anis, Ammei, Kresse, Garten-Salbei, Weinraute, Eberraute, Schnittlauch, Koriander, Bohnenkraut, Liebstöckel, Fenchel, Weißer Senf, Knoblauch, Kerbel, Petersilie und Dill.
Das Hochmittelalter war die Zeit der Kreuzzüge. Durch sie gelangten exotische Gewürze wie Ingwer, Zimt, Paradieskörner, Pfeffer, Nelken, Muskatblüte und Muskatnuss nach Zentraleuropa ebenso das Luxusgut Zucker. Wurde im antiken Rom noch Honig bevorzugt, den man immerhin auch selbst herstellen konnte, nutzte nun, wer es sich leisten konnte, zumindest bei Süßspeisen und zum Einkochen von Früchten die reine Süße des Zuckers. Eine andere gefragte Würze war Schärfe. Einmal bekannt, wurde Ingwer deshalb das neue Hauptgewürz in Frankreich: Im Vergleich zu Pfeffer war es ein viel günstigerer Scharfmacher. Eine weitere beliebte Schärfevariante im Mittelalter war Senf, Dijon etablierte sich als Senfmetropole. Im alten China war Senf schon seit etwa 1000 v. Chr. bekannt, auch die Römer kannten ihn und hinterließen das erste Rezept für Senf – dann war er jedoch in Vergessenheit geraten und wurde erst durch die Mauren wieder eingeführt.
Rezept aus der Hochzeit der islamisch-arabischen Küche: Lamm gefüllt mit in Sesamöl gebratenen Fleischscheiben, Hühnerfleisch und kleinen Vögeln und Pistazien, gewürzt mit Pfeffer, Ingwer, Zimt, Kreuzkümmel, Kardamom und anderem. Das gebratene Lamm zwischen zwei Teigschichten fertigbacken, alles mit Rosenwasser übergießen. Dazu kleine gebackene Teignäpfe mit Fleisch, Zucker und Süßigkeiten servieren.