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IM DUNKELN TAPPEN (1980)

In Radsportgeschäften kann man Honig und Kölnisch Wasser kaufen, aber keine Etiketten. Trotzdem sind sie unentbehrlich. Das merke ich immer öfter, jetzt wo ich einige Etappenrennen fahre. Nach der LuxemburgRundfahrt bestritt ich die Tour du Var, ein Seniorenrennen mit Start und Ziel in Hyères, in Südfrankreich.

In Luxemburg stieß ich bereits auf ein Problem, das Radprofis meist nicht haben: Wir kennen uns nicht. Ich startete in einem Peloton aus achtzig Fahrern, von denen ich siebzig noch nie gesehen hatte. Auf wen musste ich achten? Nach dem ersten Tag waren es noch ungefähr zehn, und ihre Startnummern schrieb ich auf ein Etikett, das ich auf meinen Lenker klebte. Der Erste im Radsport, der das machte.

Auf ein zweites Etikett schrieb ich die wichtigsten Punkte der Strecke, und das klebte ich auch auf meinen Lenker. Aber das sollte nur als eine Variation eines alten Brauches unter Radprofis aufgefasst werden. Sie haben oft eine Karte in ihrer Trikottasche, auf der diese Informationen stehen. Aber so eine Karte wiegt um einige Gramm mehr und ist nicht so schnell lesbar wie mein Etikett. Eine Verbesserung also.

Fehlende Informationen sind ein Merkmal des Radsports, aber so bitter wie in der ersten Etappe der Tour du Var habe ich es selbst nie erlebt. Da stand ich am Start zwischen fast hundert Fahrern aus Frankreich, Belgien, Deutschland und der Schweiz, und niemand da, den ich kannte – ein Kind auf einer neuen Schule. Ich hoffte, das Rennen zu gewinnen, aber wie kam ich da eigentlich drauf? Wie hoch war das Niveau? Auf wen musste ich achten?

Die ersten Kilometer machten es nicht übersichtlicher. Es war ein nervöses Getue, ein Sperrfeuer von Attacken und Tempowechseln, junge Hunde, die im Wind von der Leine gelassen werden. Ich wusste, wie wichtig es ist, sich nicht mitreißen zu lassen, und so verpasste ich einen Ausreißversuch von neun Fahrern, der aus dem Wirrwarr übrig blieb und der Struktur ins Rennen brachte: sie vorne, gut zusammenarbeitend, wir hinten, langsam. Das war nach fünfzehn der einhundertzehn Kilometer.

Was ich nicht wusste, war, dass in der Spitzengruppe, die schnell außer Sichtweite war, alle prominenten Fahrer waren. Auf den ersten Blick könnte man also sagen, dass es gut war, dass ich meine Selbstbeherrschung verlor und attackierte – es gab wenig Anlass zu vermuten, dass das in einem Desaster enden würde. Drei Fahrer hängten sich an mich dran, wir arbeiteten gut zusammen und nach einer halbstündigen Verfolgungsjagd erreichten wir die Spitzenfahrer, genau am Fuße des einzigen ernsthaften Berges dieses Tages, eines Anstiegs von ungefähr acht Kilometern.

Ich hatte Angst, nach meiner Anstrengung abgeschüttelt zu werden, sobald die Straße anstieg, das passierte aber nicht. Im Gegenteil, im Rausch des Fahrens in Führung (ab und an war mein Rad das erste in der Tour du Var und ich also virtuell der Träger des Gelben Trikots) kletterte ich flott. Ich konnte nicht glauben, was ich sah: Einer nach dem anderen fiel zurück, aber ich blieb dran. Das Überleben, während andere sterben, ist sowieso schon das schönste Gefühl, das der Radsport zu bieten hat, und ich glaubte in diesem Moment, dass ich die Tour du Var gewinnen würde. Noch sechs Fahrer, fünf, vier, da wackelte schon wieder einer, schaltete, sprintete noch mal die Lücke zu und war dann definitiv verschwunden.

Aber dann war ich dran. Fünfhundert Meter vor dem Pass (wenn ich das nur gewusst hätte), musste ich eine Lücke lassen. Erst war sie nur einen Dezimeter groß, aber es war die Art Lücke wie von einer Fähre, die man verpasst hat. »Fahr dein eigenes Tempo!«, hämmerte es in mir, und die vorderen zwei verschwanden aus meiner Sichtweite. Kurz danach war ich oben, wo ich zwei Punkte für die Bergwertung einstecken konnte, wie ich später hörte, mit einem Rückstand von zwanzig Sekunden.

In der kurvenreichen Abfahrt sah ich die beiden Führenden nicht mehr, meine Abfahrtstechnik ist abscheulich. Als ich endlich das Tal erreicht hatte, sah ich sie auf einer langen, geraden Straße noch einmal vor mir, unüberbrückbar weit weg für mich. Was sollte ich tun? Mich zurückfallen lassen? Alleine weiterfahren? Damit nicht alle Anstrengungen umsonst waren, entschied ich mich, mehr zu tun.

(Hätte ich nur gewusst, was ich eine Woche später erfuhr. Die Straße war die einzige, die zwei Mal in der Tour du Var vorkam, und als wir während der Schlussetappe wieder dort waren, fuhr ein Schweizer neben mir, den ich inzwischen als arroganten und gewaltig starken Fahrer kennengelernt hatte; er war Dritter in der Gesamtwertung. Jetzt erzählte er, dass er derjenige war, der auf der ersten Etappe unmittelbar vor mir abgehängt worden war, und dass er mich nach der Abfahrt vor sich hatte fahren sehen. »Du hättest mich rufen können!«, sagte ich. »Das hab ich gemacht, aber du hast mich nicht gehört. Da hab ich mich zurückfallen lassen.«)

Völlig im Dunkeln tappend setzte ich meine Solofahrt fort. Nichts wusste ich, nicht über meinen Rückstand, nicht über meinen Vorsprung, nur, dass es noch sechzig Kilometer waren. Entlang der Strecke riefen die Menschen: »Sie sind nicht weit« oder »Allez Poupou«. Ein Materialwagen meines Teams (Internationale A) fuhr hinter mir her, zur Ehre des Tages wurde er von zwei unbekümmerten Jungs mit Schnurrbart gelenkt, und jeder der beiden trug das gleiche Trikot wie ich, mit Werbung für die Baufirma Fontana. Wahrscheinlich waren es die dümmsten Kräfte des Herrn Fontana, von ihm gerade gut genug befunden für diesen Job. Ich ließ mich zu ihnen zurückfallen und fragte: »Wie viel Vorsprung habe ich auf den nächsten Fahrer hinter mir?« »Das wissen wir nicht«, sagte einer von ihnen.

So fuhr ich weiter. Hätten sie mir wenigstens erzählt, wie heiß es war. Die Sonne brannte, mein Tempo brach ein, ich fühlte mich einem Sonnenstich sehr nah und zum ersten Mal sah ich den schwarzen Schnee, der in keiner Radsportkarriere fehlen darf. Immer langsamer bewegte ich mich mit meinem Niemandsland in die Richtung von Le Lanvandou, wo dann auf jeden Fall ein ehrenwerter dritter Platz auf mich wartete. Der änderte sich noch in einen vierten, als ich zehn Kilometer vor dem Ziel von einem Fahrer überholt wurde, dem ich absolut nicht folgen konnte. Ich sah noch gerade so seine Startnummer, 32, ausgerechnet einer der wenigen, dessen Namen ich kannte; es war der Belgier Van den Neucker.

Er verschwand wieder, ich sah ihn nicht mehr, und eine gute viertel Stunde später, nachdem auf dem letzten Anstieg der Krampf mit Dolchen in meine Oberschenkel stach, war ich dann im Ziel, wo ich einen warmen Applaus erhielt. Als ich ausgetrudelt war und mich umdrehte, sah ich etwas, das immer noch mein Entsetzen weckt, wenn ich daran zurückdenke: das sprintende Peloton. Für einen Gewinn von zwanzig Sekunden hatte ich Kraft im Wert von einer viertel Stunde verschleudert. Mein Rückstand auf die Führenden betrug fünf Minuten. Die Tour du Var war für mich unwiderruflich verloren.

(Im Nice Matin las ich am nächsten Morgen, dass der Österreicher Krable nach der Abfahrt einen Rückstand von 2:05 Minuten auf die beiden Fahrer an der Spitze hatte und einen Vorsprung von 3:55 Minuten auf eine »kleine Gruppe von Verfolgern«.)

Die vierzehnte Etappe

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