Читать книгу Die vierzehnte Etappe - Tim Krabbé - Страница 15
ОглавлениеJERRY COTTON UND DAS DOPINGRÄTSEL (1980)
Vor dem Start eines Rennens in Cendras setzte ich mich aufeine Bank, um meine Radschuhe anzuziehen. Auch füllte ich mein Bidon mit dem Inhalt einer Flasche Evian. Neben mir saß ein Mann. Er zeigte auf meine Trinkflasche und sagte, fragend: »Doping?«
Einen Moment lang verstand ich das falsch. Weil man in Cendras Französisch spricht, dachte ich, dass er von »d’eau Ping« sprach. Vielleicht war das ein mir unbekannter französischer Ausdruck für »Wasser, das man zum Rennen mitnimmt«. Ach nein, ich verstand schon, er meinte Doping, verbotene aufputschende Mittel! Was für ein eigenartiger Gedankengang von ihm, dass ich erst eine Flasche Evian leeren würde, die ich dann mit meinem in Wasser aufgelöstem Doping füllen wurde, um sie dann in der vollen Öffentlichkeit wieder in mein Bidon umzukippen.
Dann traf mich sein schelmischer Blick und ich kapierte, dass er nicht wirklich dachte, ich würde Doping umfüllen. Es war ein Scherz, den ich, das dringt nun, wo ich dies aufschreibe, langsam zu mir durch, schon siebenhundert Mal gehört habe.
Sobald ich seinen Scherz verstand, knallte ich dem Mann eine, mitten hinein in sein Lächeln, endlich meiner Überzeugung Kraft beimessend, dass, wenn Lachen eine Belohnung für gelungene Scherze ist, es auch eine Strafe für misslungene Scherze geben muss.
Aber ich hob mir den Schlag dann doch fürs Papier auf, denn aus seiner Brusttasche lugte eine Pistole hervor. Ich nickte und sagte: »Haha«, und das war auch gut so, denn er war der Bürgermeister von Cendras und die Pistole war die Startpistole.
Was ist das denn nun mit dem Doping? Schon seit Jahren höre ich davon, abfällig, beschuldigend, spaßhaft, populär und quasi-eingeweiht, und niemals sauber. Dann werde ich jetzt mal so darüber sprechen. Beim Radsport wird auf Doping kontrolliert. Im Laufe der Jahre werden ungefähr drei Prozent der Fahrer positiv auf Doping getestet; wer den Anstand hat und sich traut, naiv zu sein, muss den Eindruck bekommen, dass es unter Radrennfahrern nur ein geringes Interesse für Doping gibt.
Aber ganz gleich, wie gering es auch ist, es wird also gedopt. Von mir aus würde ich gar nicht auf die Idee kommen, dass dies etwas Falsches ist, aber doch ist das die vorherrschende Meinung: Der Einsatz von Doping ist unfair und gefährlich.
Tja, unfair. Der gedopte Rennfahrer soll gegenüber seinem sauberen Kollegen im Vorteil sein. Glücklicherweise wurde ich in das Wesen dieser Unfairness eingeweiht, als ich zehn Jahre alt war. Ich schwamm mit einem Freund um die Wette. Ich gewann. »Das ist nicht fair, du schwimmst schneller«, sagte er.
Mir erscheint es eher als Merkmal des Sports, dass es unfair zugeht. Wem macht denn ein Radrennen Spaß, bei dem alle Fahrer ex aequo ins Ziel kommen? Wer will ein Fußballspiel sehen, in dem nach der Halbzeit zur Förderung der Fairness nicht nur die Spielhälfte, sondern auch die Spieler getauscht werden?
Der eine hat mehr Talent, der andere ist bereit, härter zu trainieren, wieder jemand setzt sich stundenlang hin und bohrt seine Bremsen aus oder berechnet die Übersetzung (50x13; dass da vorher noch nie jemand drauf gekommen ist!), wieder ein anderer folgt einer strengen Diät, um besser zu sein als die meisten. Wenn nun ein Rennfahrer dazu bereit ist, sich ernsthaft mit Pharmazie zu beschäftigen, und sich infolge seiner Recherchen eines ausbalancierten Spektrums an Drogen für alle Umstände bedient, warum sollte er dann nicht unser Lob verdienen, dass er »sich voll und ganz für seinen Sport einsetzt«?
Dann wäre da die Gefahr, die Doping mit sich bringen soll. Das verdient die gleiche Antwort: Na und? Die Sterberate im Alpinismus über sechstausend Meter beträgt sieben Prozent, und alle Berge in Nepal sind bis 1990 ausgebucht. Das Geschreibe von Proust in seinem zugeklebten Krankenzimmer, länger als zehn Jahre hintereinander, war das denn gesund? Orwell wusste, dass er Tuberkulose hat, zog aber auf eine nasskalte Insel, damit er »1984« in Ruhe zu Ende schreiben konnte. Sie blieben verschont von einem Veröffentlichungsverbot; nie habe ich etwas über ihre Handlungsweisen gelesen in dem verhöhnenden Ton, der bei Radrennfahrern, die mit Doping erwischt wurden, üblich ist.
Bei Gefahr im Radsport denke ich vor allem an die Abfahrten. Eigenartig: In den Regeln steht, dass ein Fahrrad Bremsen haben muss, aber nichts über die Pflicht, sie auch zu benutzen. Trotzdem benutzt man sie. Erklärt den Fahrern also, wie es um die berühmten Gefahren des Dopings steht, und lasst sie dann selbst herausfinden, welche Risiken sie eingehen wollen. Das ist nur eine Frage, ob man den Sport ernst nimmt.
Auffallend wenig hört man über allerlei andere Gefahren, die der Wunsch, im Radsport zu glänzen, mit sich mitbringt. Jahrelang gehen Radrennfahrer um zehn Uhr abends ins Bett, einige schlafen nur im Winter mit ihrer Frau, sie sitzen sieben Stunden pro Tag auf dem Rennrad(!), essen nie Eis oder Pommes und lassen die Wochenendbeilage der Zeitung und so manches Kulturfestival an sich vorbeigehen. Warum wird all dieser Schaden toleriert? Warum wurde noch nie ein Fahrer disqualifiziert, weil sich bei der Kontrolle herausstellte, dass sein Koffer bis zum Rand mit Jerry-Cotton-Romanen* gefüllt war?
In seiner Rubrik in L’Équipe hat Anquetil schon viele Male gesagt, dass er zwar nicht für Doping, aber gegen Dopingkontrollen ist. Schäden durch Dopingkontrollen sind sehr viel leichter zu beweisen als Schäden durch Doping. 1978 wurde der Belgier Pollentier aus der Tour (die er im Begriff war zu gewinnen, er hatte gerade das Gelbe Trikot erobert) ausgeschlossen, weil er bei einer Dopingkontrolle geschummelt hatte. Das fand ich schon immer frevelhaft. Die monumentale Dummheit und die Unehrlichkeit, die damals in dem Mann entblößt wurden, waren elend anzusehen. Womit hatte er das verdient, er hatte doch nie seine Qualitäten als Mensch zur Beurteilung freigegeben? Und womit hatte ich das als Radsportliebhaber verdient, dass ich zum Voyeur von Pollentier gemacht wurde? Ich schaute nur zu, damit ich ihn fahren sah, dafür hatte er trainiert, es sollte genügen, das zu messen.
Und dann der bemitleidenswerte Zoetemelk, der in der Tour 1983 zehn Strafminuten aufgebrummt bekam, die ihn dreißig Jahre älter aussehen ließen. Dem Mann fehlt jegliches Vermögen zu heucheln; dass ihm etwas Unrechtmäßiges widerfuhr, konnte man ganz einfach auf seinen Fotos erkennen. Er war das Opfer des Zufalls. Jemand wie Zoetemelk ist in seiner Karriere zwischen hundert und zweihundert Mal auf Doping kontrolliert worden. Er wurde drei Mal für positiv befunden. Worum es dann nur geht, ist dies: Für ihn selbst ist es scheinbar nicht vorherzusagen, ob er positiv sein wird. Anders gesagt: Er kann fahren, wie er will, aber danach muss er abwarten, was der Zufall für ihn in petto hat. So was gehört nicht zum Sport.
Dort wurden nur Karrieren zerstört; das schlimmste Opfer von Dopingkontrollen hat Anquetil auch verschiedene Male genannt: Simpson. Simpson starb 1967 auf dem Ventoux durch ein Zusammenspiel von Hitze (fünfundfünfzig Grad und nirgendwo Schatten), Alkohol, Doping, einer für ihn sehr unglücklich verlaufenden Etappe und seiner Fähigkeit, sich richtig zu quälen. Alle Injektionen, sagt Anquetil, waren 1967 verboten, wodurch Simpson an dem fatalen Tag das für ihn beste Mittel nicht nehmen konnte und Zuflucht bei etwas suchen musste, dessen Wirkung er viel weniger gut kannte.
Oft fühle ich mich als Radsportfan, als würde mich die Zukunft auslachen. Die verrückten siebziger und achtziger Jahre, in denen Rennfahrer, Offizielle und Zuschauer einer Art Sechs-Tage-Lepra ausgesetzt waren, die ab und an ganze Stücke aus einem Ergebnis fraß. Das war nicht immer so. In Beim Giro d’Italia von Dino Buzzati, einem Bündel täglicher Kolumnen, die er 1949 für eine Sportzeitung schrieb, finden sich diesbezüglich zwei auffällige Passagen. In der ersten nennt er ein paar Art und Weisen von Rennfahrern, die Moral etwas aufzupeppen. Der eine trägt ein Medaillon mit den Fotos seiner Kinder, ein anderer wäre verloren ohne eine alte stinkende Rennmütze und wieder ein anderer hat »ein Röhrchen mit Aufputschmitteln in der Trikottasche versteckt«. Und ohne mit der Wimper zu zucken schreibt Buzzati weiter über Hühnerbeine und getrocknetes Obst.
Doping kommt danach nur noch ein Mal in seinem Buch vor, in einer beiläufigen Bemerkung über den Kampf eines abgehängten Rennfahrers gegen das Zeitlimit. »Die vor dem letzten Anstieg eingeworfene ›Bombe‹ hat ihm nichts genützt. Für zehn Minuten sind seine Kräfte wiedergekehrt, danach war es noch schlimmer.« Achtzehn Jahre vor Simpson nahm Buzzati, ein Außenstehender, also wie von allein die einzige Haltung ein, die zum Doping passt: Schulterzucken. Aber Simpson hat alles verdorben. Sein Tod öffnete die eiternde Geschwulst des kollektiven Minderwertigkeitskomplexes im Sport. Die Außenwelt fand Doping eklig – also musste Doping ausgerottet werden.*
Irgendwann wird es im Sport die Einsicht geben, dass es nur um die höchstmöglichen Leistungen auf dem eigenen eingeschränkten Gebiet geht. Wir fordern die Rennfahrer heraus, große Leistungen zu vollbringen – und wenn sie diese vollbringen, sollten wir bescheiden bleiben und sie uns mit offenem Mund ansehen und ansonsten unseren Mund halten.
Nachschrift 2015: »Oft fühle ich mich als Radsportfan, als würde mich die Zukunft auslachen.« Und ausgelacht werde ich – nicht wegen der Narretei der angefressenen Ergebnislisten in den »verrückten siebziger und achtziger Jahren«, aber weil ich nicht ahnen konnte, wie verrückt das Anfressen noch werden würde. Auch in anderen Punkten ist diese Kolumne etwas veraltet, aber im Großen und Ganzen stehe ich noch dahinter.
* Jerry Cotton war damals eine bekannte Groschenroman-Reihe.
* Doping wurde 1965 verboten – also schon vor Simpson.