Читать книгу Die vierzehnte Etappe - Tim Krabbé - Страница 6
ОглавлениеAM HAUSE MERCKX (1980)
Um mein 500. Rennen zu feiern, hatte ich mir ein passendes Radsportwochenende in Belgien ausgesucht. Nach einem Rennen am Samstagnachmittag um drei Uhr in Arendonk sollte am Sonntag das Jubiläum in Meensel-Kiezegem stattfinden. Und das sind beides nicht einfach nur belgische Orte. Arendonk ist der Geburtsort von Rik Van Steenbergen und Meensel-Kiezegem der von Merckx. Dort sollte der Start außerdem um ein Uhr erfolgen, was bei einer Renndistanz von 80 Kilometern bedeutete, dass ich danach in einem Café die Fernsehberichterstattung der Flandern-Rundfahrt würde verfolgen können.
Als ich aber am Samstag um halb zwei in Arendonk eintraf, fuhren dort Rennfahrer durch die Straßen. Verzweifelt schätzte ich ihr Alter ein paar Runden lang auf siebzehn, aber ich erkannte immer mehr und mehr von ihnen – das war mein Rennen der Seniorenklasse. Es gab Regen, Sturm, Schlamm, richtiges flämisches Radsportwetter, was meine Wut nur vergrößerte.
Gut, 499 ist auch eine schöne Zahl, aber als ich am nächsten Tag um zwölf Uhr in Meensel-Kiezegem eintraf, war es dort verdächtig still. Jetzt drang der Irrtum erst wirklich zu mir durch: Ich hatte die Startzeiten verwechselt. Auch die Fernsehübertragung der Flandern-Rundfahrt würde ich verpassen.
Auf jeden Fall hatte ich jetzt Zeit, Merckx’ Geburtshaus zu suchen und es mir anzusehen. Es stand an einer Ecke, mit einem offenen Feld dahinter. Ein ziemlich großes, normales Haus. Ich hatte mir mehr erhofft: Dass es nicht als Museum eingerichtet war, mit Pokalen und Merckx’ erstem platten Reifen, das ging ja noch – aber dass es an der Fassade nicht mal eine einfache Gedenkplakette gab, das ging zu weit.
Andererseits: Es ist nicht ungewöhnlich, dass man mit Radsporthelden so umspringt. In Dax musste ich das Telefonbuch zur Hilfe nehmen, um im Café Darrigade eine Tasse Kaffee trinken zu können, und in Toledo fehlte der Name Bahamontes in allen Broschüren. Sein Haus, in einer versteckten Gasse, musste ich mir von den Leuten aus der Nachbarschaft zeigen lassen; aber wenigstens hing dort noch ein großes Schild, auf dem CASA BAHAMONTES stand.
Für eine Radsportpilgerfahrt eignet sich Meensel-Kiezegem auch aus anderen Gründen nicht; Merckx ist in jungen Jahren nach Brüssel gezogen. Höchstens könnte man die Reifenspuren seines Kinderfahrrads nachfahren. Das Einzige, was bei diesem Haus ans Rennradfahren erinnerte, waren die Pfeile, die auf dem Straßenbelag vor der Tür in alle Richtungen aufgemalt waren. Hier war also schon mal ein Rennen vorbeigekommen, und es war nicht undenkbar, dass auch mein Rennen dies tun würde.
Ich ersann den Vollkommenen Radrennfahrerunfall: dort einen Reifenplatzer haben, das Gleichgewicht verlieren, rettungslos durch die zufällig offen stehende Vordertür reinfliegen, mir beim Aufprall gegen die Salonwand den Hals brechen und an der Stelle, an der Merckx das Licht der Welt erblickte, den letzten Atemzug tun.
Es klappte nicht; als das Rennen begann, stellte sich heraus, dass die für mich vorgesehene Strecke nicht am Hause Merckx entlangführte. Aber endlich hatte ich dann doch ein wenig Glück. Denn als ich auf halbem Weg des Rennens stürzte, bei einem Zaun, an dem hochgewirbeltes Papier klebte und wo ein Schild SPERRMÜLL stand, stellte sich heraus, dass ich das genau rechtzeitig getan hatte, um im Auto des freundlichen Belgiers, der mich aufsammelte, den Radiobericht der letzten zwei Kilometer der Flandern-Rundfahrt hören zu können. Pollentier gewann den Schlusssprint gegen Moser und Raas, was meine Vermutung bekräftigte, dass ich auf meinen Kopf gefallen war.
Aber es war wahr, und kurz darauf hörte ich die außergewöhnlich nette Art und Weise, auf die es passiert war. Beim letzten Hindernis, dem Bosberg, hatte Pollentier bemerkt, dass er zusammen mit Moser einen leichten Vorsprung hatte. Ein Stückchen dahinter fuhr Raas, der verzweifelt versuchte, wieder zu ihnen aufzuschließen. Was machte Pollentier also? Er verschleppte das Tempo, damit er sich sicher sein konnte, dass Raas sie wieder einholte. Gegen einen Sprinter war er chancenlos, wusste er, er fuhr lieber gegen zwei Sprinter. Sprinter neigen nun mal dazu, ihre Kräfte gegeneinander aufzuheben. Das taten Moser und Raas, und Pollentier gewann.