Читать книгу Die vierzehnte Etappe - Tim Krabbé - Страница 18
ОглавлениеSCHÖNHEIT UND KRAFT (1981)
Fons de Wolf, der alleine auf einen Riesensieg zustürmt, das gab mir eine Genugtuung rein ästhetischer Art.* Er war schön. War er jetzt schön, weil er gewinnen würde, oder würde er gewinnen, weil er schön war? Beidem kann man etwas abgewinnen. Fahrer, die alleine an der Spitze sind, mit dem Sieg zum Greifen nahe, strahlen etwas aus, genau wie Verliebte. Sie erwecken den Eindruck, perfekt zu sein – endlich an etwas heranzureichen, was eine höhere Macht mit ihnen vorhatte.
Und andersrum stimmt es auch. Die Harmonie, die der Siegesrausch im Fahrer auslöst, äußert sich in mehr Macht, mehr Ausstrahlung, einem Tritt, der genau passt.
Nun ist die Vorstellung, dass Schönheit und Kraft beim Radsport zusammenkommen, besonders anziehend. Denn ein Rennrad ist nicht nur für sich allein ein schmuckes, harmonisches Gerät (viele Jungs werden Rennfahrer, weil sie die Räder so schön finden), aber der Größte in der Geschichte dieses Sports, Eddy Merckx, hatte auch eine perfekte Sitzposition. All seine Fotos strahlen dies noch immer aus. Auch wer keine Ahnung vom Radsport oder vom Sport im Allgemeinen hat, sieht: Da stimmt etwas voll und ganz.
Die fabelhafte Position von Merckx wurde natürlich viel nachgeahmt, aber nie so hartnäckig wie von einem jungen Fahrer, den ich miterlebt habe. Er hatte entdeckt, dass er nicht nur gleich groß und gleich schwer war wie Merckx, sondern nach genauer Analyse vieler Fotos auch, dass er exakt so proportioniert war, einschließlich der langen Unterarme.
Durch endlose Vergleiche der Fotos ermittelte er auch die Maße von Merckx’ Rahmen, die Position des Sattels und die Höhe des Lenkers. Er ließ so einen Rahmen bauen, kopierte mit Sattel und Lenker Merckx’ Position und übte danach mit diesem Rennrad vor dem Spiegel. Mit den Fotos von Merckx neben sich korrigierte er auch den letzten Millimeter seiner Haltung, und als er die berühmte Sitzposition definitiv beherrschte, zeigte er sich seinen Trainingskumpanen.
Die Übereinstimmung war in der Tat überzeugend, und er wurde sofort Merckx genannt. Nicht mal spottend, es war ganz einfach eine Feststellung von Fakten und eine Anerkennung für seine Arbeit. Er war fantastisch anzuschauen, und er hat sich später zu einem verdienstvollen Amateur der dritten Reihe entwickelt.
Und das ist der Kern der Sache: Der Fahrer, der wie aus einem Guss auf seinem Rad sitzt, der einen makellos flüssigen Tritt hat und der ansonsten nichts gebacken kriegt, ist eine häufige Erscheinung. Und beim Profipeloton ist mir immer aufgefallen, dass so viele verschiedene Typen auf der Grundlage der Gleichheit miteinander ringen: große Rennfahrer, dünne Fahrer, kleine, hässliche und schöne. Saronni und De Meyer nehmen es im Sprint miteinander auf, Van Impe und Thévenet taten dasselbe in den Bergen, Maertens und Thurau waren Zeitfahrer von gleichem Niveau.
Der Radsport hat denn auch, in der Diskussion über das Zusammengehen von Schönheit und Kraft, noch ein viel typischeres Beispiel als Merckx zu bieten, das Beispiel eines Mannes, der die ganze Diskussion überflüssig macht, für immer, und für alle Sportarten. Ich spreche natürlich von Pollentier, der jahrelang einer der besten Radrennfahrer der Welt war. Pollentier ist in Zivil schon eine Erscheinung ohne jegliche Eleganz, aber sobald er auf einem Rad sitzt, werden die Grenzen der Tugend überschritten.
Er strahlt Beschwerlichkeit und Verschwendung aus: Die Raumsonde Voyager, die mit Botschaften ans andere Ende des Weltalls geschickt wurde, hätte auch ein Foto von Pollentier auf dem Rad mitnehmen sollen, als Bekenntnis an andere Zivilisationen, dass wir hier auf Erden wissen, was hässlich ist.
* Am Samstag zuvor hatte De Wolf Mailand–Sanremo gewonnen.