Читать книгу Die vierzehnte Etappe - Tim Krabbé - Страница 14
ОглавлениеDER NACHZÜGLER (1980)
Ich habe mal mit einer Liste angefangen, auf der berühmte Personen standen, die ich gekannt habe. Berühmtheit definierte ich großzügig, und für das Kennen galt, dass ich mindestens zwanzig Wörter mit jemandem gewechselt haben musste. Es war die niedrigste Form von Geltungsbedürfnis, zusammen mit der höchsten Form von Langeweile, und nach einer Stunde warf ich die Liste angewidert weg. Aber wenn ich sie fortgesetzt hätte, hätte seit dem Juni 1977 auch der englische Rennfahrer Barry Hoban draufgestanden.
Hoban, geboren 1940, war eine kleine Vedette, aber nicht nur, weil er ein guter Radrennfahrer war. Er kam 1962 aufs europäische Festland, dazu ermutigt von seinem Freund Tom Simpson, der als Rennfahrer schon erfolgreich war. Ende 1963 wurde Hoban Profi und er fuhr sofort gut. 1964 gewann er Etappen bei der Spanien-Rundfahrt und beim GP Midi Libre, was nicht verhinderte, dass sein Name anfänglich ein wenig unterging in dem Sammelbegriff »die Helfer von Simpson, die, obschon sie Engländer sind, selbst doch auch ganz ordentlich fahren können«.
Hobans Karriere als Vedette begann mit dem Tod von Simpson auf dem Ventoux. Das war ein mythisches Ereignis, das seine Kraft in viele Richtungen ausgestrahlt hat. Der Ventoux wurde dadurch selbst auch zur Vedette. Im Sommer wimmelt es dort vor Hobbyradlern und Fahrern, die am Simpson-Denkmal vorbeifahren wollen, und seit einigen Jahren gibt es sogar eine Langstreckenfahrt Brügge–Ventoux für Hobbyfahrer, an der mehr als hundert Menschen teilnehmen. Ich bin davon überzeugt, dass die Simpson-Geschichte einen Anteil an der heutigen Popularität des Radsports hat.
Simpson starb am 13. Juli 1967. Am nächsten Tag stand die Etappe Carpentras–Sète über 201 Kilometer an. Die vier übrig gebliebenen Engländer hatten beschlossen, die Tour fortzusetzen, und Hoban gewann die Etappe mit vier Minuten Vorsprung aufs Peloton, mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von zweiunddreißig Kilometern pro Stunde. Das war die Gedenkzeremonie der Rennfahrer. Eigentlich hatte man Denson dafür ausgewählt, Simpsons besten Freund, aber der wollte nicht. »Es war das einzige Mal in der Geschichte der Tour«, schrieb L’Équipe, »dass die Wettkampfleitung bewusst zuließ, dass das Ergebnis einer Etappe gefälscht wurde.«
Hoban kam heulend ins Ziel und stand heulend mit den Blumen auf dem Podium. Er schickte sie ins Leichenschauhaus in Avignon, wo Simpson lag. Mit einem Mal war er berühmt. Ein Jahr später war er mit Simpsons Witwe bei der Enthüllung des Denkmals auf dem Ventoux anwesend und noch ein bisschen später heiratete er sie. Es wurde gar nicht viel darüber bekanntgegeben, und doch trugen die Ereignisse zu der speziellen Art und Weise bei, auf die Hoban eine Vedette wurde.
Aber vor allem war er ein guter Rennfahrer und das wurde nach 1967 immer klarer. Er war zäh und hatte vor allem einen guten Sprint. 1968 gewann er eine Etappe der Tour de France und 1969 gewann er sogar zwei hintereinander. Die Niederlande waren besonders beeindruckt, denn beide Male ließ er Niederländer hinter sich, denen man mehr zugetraut hätte, erst Ottenbros, dann Dolman.
Insgesamt gewann Hoban im Laufe der Jahre acht Tour-Etappen. Er schaffte auch Ehrenplätze bei den klassischen Eintagesrennen; 1972 wurde er Dritter bei Paris–Roubaix und 1974 gewann er Gent–Wevelgem. Im Sprint ließen die richtig Großen damals eine Lücke, durch die sich der schlaue Hoban hindurchschlängelte. Die Liste der Geschlagenen war wirklich ein Ehrenzeugnis: Merckx, De Vlaeminck, Maertens, Godefroot, Verbeek. Hobans gar nicht unschöner Pferdekopf war bei der Gelegenheit durch Freude verzerrt, so wie das auch passieren konnte, wenn er unglücklicherweise verlor: Seine Trauer war echt und kolossal.
Hoban muss ein fröhlicher, charmanter Kerl sein. Er erzählt den Journalisten auch Radsportwitze, wie diesen: »Hast du gehört, dass Zoetemelk disqualifiziert wurde? Hat sich den ganzen Tourmalet von einem Laster hochziehen lassen. Ja, und Merckx, der hat ein hohes Bußgeld bekommen. Er zog den Laster!«
Es dauert ein wenig, bis man den versteckten Fehler in diesem Witz erkennt. Warum sollte es für Rennfahrer verboten sein, ein Auto einen Berg hochzuziehen? Andersherum ist Strafe logischer, auch wenn der Vorteil des Gezogenwerdens überschätzt wird. Ein Rennfahrer, den ich kenne, Ben Janbroers, wurde 1973 aus der Tour geschmissen, zusammen mit elfanderen, weil sie sich von Autos den Galibier hatten hochziehen lassen. Janbroers hatte sich an einem Fenster festgekrallt, vier, fünf Fahrer hatten sich wiederum an ihn rangehängt. So fuhren sie hoch. Noch nie hatte er so schwer gelitten.
Dass sich Hoban in den Straßen von Gent, seinem Wohnort, verschiedene Male mit Melone und Regenschirm auf dem Rennrad hat fotografieren lassen, kreide ich ihm nicht an. Das kommt nur von der streng Pawlowschen Art und Weise, mit der Sportjournalisten ihre Attribute verteilen. Engländer? Bamm, Melone! Sogar der Niederländer Poppe, der 1974 die einzige jemals in England gefahrene Tour-de-France-Etappe gewann, bekam wie von Zauberhand so einen Hut aufgesetzt. Holländer? Klatsch, Holzschuhe! Dass Zoetemelk noch nie die Holzschuhe, mit denen er fotografiert wurde, genommen hat, um den Schädel so eines französischen Sportfotografen einzuschlagen, kann nur mit der gleichen Charakterschwäche erklärt werden, die ihn auch immer davon abhalten wird, die Tour de France zu gewinnen.*
Mein Treffen mit Hoban fand am Samstag, dem 17. Juni 1977, statt, während der vorletzten Etappe des Midi Libre, einer Fahrt von Millau nach Montpellier über 194 Kilometer. Hoban und ich waren im Cirque de Navacelles, einem Trichter, der sich unvermittelt im Felsplateau auftut, einen halben Kilometer tief. Ein paar Serpentinen steil runter und dann sofort wieder hoch. Niemals vorher wurden dort Rennfahrer reingeschickt, ein Fakt, von dem die Veranstalterzeitung ziemliches Aufheben gemacht hatte; ein spektakulärer Wettkampf würde losbrechen.
Ich suchte eine Stelle im Anstieg, von wo aus ich die Übersicht über einen möglichst langen Streckenabschnitt haben würde. Ich würde die Zeit der Fahrer über dieses Stück messen und mit meiner eigenen Zeit vergleichen. Denn natürlich hatte ich mein Rad mit und das Erste, was ich nach meiner Ankunft tat, war, den Cirque de Navacelles selbst hochzufahren und meine Zeit zu notieren. Die betrug genau sechs Minuten. Es gab mehr Rennradfahrer, die den Anstieg in Erwartung des Midi Libre hochfuhren, und auch ihre Zeiten schrieb ich auf. Alle brauchten wesentlich länger als ich.
Es war klar und warm. Überall am Wegesrand saßen Familien und picknickten. Es waren etliche Menschen dabei aus dem doch fünfzig Kilometer entfernten Ort, wo ich für diese Zeit wohnte, und von denen ich nie gedacht hätte, dass sie sich für Radsport interessierten. Das taten sie vielleicht auch nicht, aber Radsport gehört in Frankreich zum Leben dazu. Wenn es einen Ball gibt, geht man tanzen, und wenn die Tour vorbeikommt, fährt man hin und guckt sich das an, auch wenn es nur eine kleine Tour ist.
Erst kamen die Vorboten: Polizisten auf Motorrädern und Werbeautos der Midi Libre, die kostenlose Zeitungen, Papierhüte und Schirmmützen austeilten. Auf einmal gab es aufgeregtes Gerede, Menschen wiesen mit den Armen zur anderen Seite: Dort, am Rande des Abgrunds, waren die ersten Rennfahrer zu sehen. Sie fuhren mir genau gegenüber, fast zu erkennen, aber sie würden noch Kilometer zurücklegen müssen, um nah an mich heranzukommen. Immer mehr Fahrer tauchten auf– das Peloton musste noch vollständig sein. Ziemlich vorsichtig begannen sie mit der Abfahrt und kein einziger Fahrer fiel in den Abgrund, obwohl die Midi Libre das zwischen den Zeilen durchaus versprochen hatte. Sie verschwanden aus dem Blickfeld, und einige Minuten später erschien die Spitze des Pelotons am Anfang des von mir mit der Stoppuhr zu messenden Teils.
Auch im Anstieg passierte wenig. Konstant und mächtig schob sich die Gruppe hoch. Ein paar Lücken entstanden, und in dem Moment, als die Ersten an mir vorbeifuhren, war mehr als die Hälfte schon abgehängt. Das war alles. Zoetemelk, der den ganzen Anstieg über vorne fuhr, erreichte eine Zeit von fünf Minuten. Aber als er hinter den Felsen verschwand, folgten ihm nur noch etwa zehn Rennfahrer.
Bestimmt dreißig Fahrer brauchten länger als sechs Minuten für meine Strecke. Der Sogeffekt des Windschattens ist gering bei Anstiegen, aber es gibt ihn – hätte ich an Zoetemelk dranbleiben können? Und wenn ja, hätte ich das auch gekonnt, wenn ich genau wie er schon hundert Kilometer hinter mir gehabt hätte, unter anderem den Anstieg zum Mont Aigoual?
Ich sehe Zoetemelk noch ganz scharf vor mir, wie er den Cirque de Navacelles hochfährt, aber egal wie scharf, das Bild ist abstrakt. Ich sehe seine Macht und seine Anstrengung, aber ich weiß nicht mal mehr, ob er im Stehen oder im Sitzen fuhr. Sogar in einem Anstieg geht alles so schnell vorbei, dass man sich nicht ruhig aussuchen kann, was man sehen will. Wahrscheinlich war ich mal wieder damit beschäftigt, mir selbst meine Sachkenntnisse zu beweisen, und versuchte an Zoetemelks Hinterrad zu sehen, mit welchem Gang er fuhr. Also muss ich jetzt in der Gesamtwertung des Midi Libre ’77 die Namen der Berühmtheiten suchen, die ich vergessen hatte zu sehen: Thévenet, Poulidor, Saronni, Hinault und zum Beispiel auch den amerikanischen Neoprofi Boyer, mit dem ich zwei Jahre davor bei einem Rennen in Belgien in der entscheidenden Spitzengruppe gefahren war. Nur zwei Abgehängte sah ich noch bewusst, es waren zwei Sprinter: der Belgier De Bal und der Franzose Mintkiewicz. Die Art und Weise, auf die sie am Lenker zogen und in die Pedale stampften, machte den menschlichen Körper zu einer stümperhaften Schöpfung, erst recht verglichen mit ihren Rädern, und ihre Anstrengungen resultierten in so wenig Tempo, dass ich Zeit hatte, die passenden Namen zu ihren Startnummern zu suchen. Ein paar Minuten später waren sogar sie hinter der Kurve in den Felsen verschwunden; jetzt war der gesamte Midi Libre vorbei.
Die Zuschauer stiegen schon wieder in ihre Autos, als ich bemerkte, wie unten am Anstieg eine gewisse Aufregung einsetzte. Menschen klatschten und feuerten jemanden an. Kurz darauf sah ich es: Umgeben von Motorrädern und gefolgt von einem kleinen Autobus kam noch ein Rennfahrer hoch. Langsam, wirklich sehr langsam, kletterte er den Cirque de Navacelles hoch. Überall, wo er hinkam, entstand eine Mischung aus falscher Bewunderung und Ausgelassenheit. Alles, was ihm zugerufen wurde, kannte ich, aber er noch viel besser. »Ils sont pas loin!«, »Plus vite!« und natürlich: »Allez, Poupou!« Als er an die Stelle kam, wo ich stand, erkannte ich ihn auf einmal: Hoban. Es überraschte mich, ich dachte, dass er schon aufgehört hatte mit dem Radsport. Sein Haar war grauer geworden, das verlieh ihm etwas Vornehmes. Langsam kam er näher zu mir heran. In dem Moment, in dem sein Ohr am nächsten an mir dran war, sagte ich, ohne meine Stimme zu heben: »Come on, Barry.« Überrascht drehte er seinen Kopf und eine viertel Sekunde lang sah er mir in die Augen. Dann sah ich schon wieder nur seinen Rücken. Langsam verfolgte er seinen Weg den Berg hoch, überall Rufe und Applaus erzeugend. Ich schaute ihm nach, bis ich ihn nicht mehr sehen konnte. Er hatte für das Streckenstück, in dem er zu sehen war, anderthalb Minuten länger gebraucht als ich. Das war mein Treffen mit Hoban.
Man könnte sagen, dass ich mir selbst widerspreche, dass Hoban niemals auf meine Liste hätte kommen können, weil unser gesamtes Gespräch nur drei Wörter umfasste, die außerdem alle von mir kamen. Ich setze dem entgegen, dass Hoban, mit dem Blick, den er die viertel Sekunde auf mich richtete, das Folgende sagte: »Sie denken alle, dass ich abgehängt wurde. Deshalb schreien und klatschen sie, die Dummköpfe. Was wissen sie denn vom Radsport, nichts. Du ja, zum Glück. Du siehst sofort, dass ich im Anstieg nie abgeschüttelt werden konnte, dafür ist die Lücke zu groß. Schon viel früher hatte ich eine Panne, das ist doch sonnenklar. Dass ich jetzt alleine weiterfahren muss, liegt am Typ Rennfahrer, der ich bin. Ich fahre nicht für die Gesamtwertung. Ich fahre für die Etappen. Deshalb braucht niemand auf mich zu warten, wenn ich eine Panne habe. Meine Aufgabe ist es jetzt nur, diese Etappe innerhalb des Zeitlimits zu Ende zu bringen, morgen kann ich dann wieder versuchen zu gewinnen. Aber dieses dumme Gekreische! Noch fünfzig Kilometer muss ich mir das anhören. Jemanden zu treffen wie dich, der weiß, was hier genau los ist, das stärkt mich. Danke. Auch wenn es mich enttäuscht, dass du so einen lächerlichen Midi Libre-Hut aufgesetzt hast.«
Hoban kam an dem Tag 33 Minuten und 45 Sekunden nach dem Gewinner, dem Italiener Paolini, ins Ziel. Damit hatte er das Zeitlimit um eine Minute überschritten. Aber er wurde begnadigt und durfte am nächsten Tag trotzdem starten. Bei der Etappe wurde er Dritter.
Vor kurzem begegnete ich an einem Tag zwei Details über Hoban, die neu für mich waren. In seinem ersten Profijahr, 1964, hatte er nicht nur eine Etappe beim Midi Libre gewonnen, sondern auch die Bergwertung. Und in belgischen Zeitungen sah ich seinen Namen in den Ergebnissen von einigen kleinen Kirmesrennen: Vierter, Achter, Achtzehnter. Jetzt hatte ich doch wirklich gedacht, dass er aufgehört hätte, aber das Absteigen fällt ihm scheinbar schwer.
* Das war eine ausgezeichnete Vorhersage. Der Wert einer Vorhersage ist unabhängig vom Ergebnis.