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INTERVALL-ARIE (1980)

Als ich gebeten wurde, für eine Zeitung eine Liste mit den besten zehn niederländischen Radsportlern aller Zeiten zu erstellen, bin ich die Sache ganz ernsthaft angegangen. Einen Tag lang blätterte ich im Œuvre von René Jacobs, in den unersetzlichen Handbüchern Vélo, aber wen ich auf Platz zehn setzen würde, wusste ich sofort: Moeskops. Moeskops, der große Sprintchampion der zwanziger Jahre, die Hauptfigur von Joris van den Berghs Klassiker Te midden der kampioenen, war natürlich ein Muss, aber er ist auch ein außergewöhnlicher Fahrer; ich hätte ihn genauso gut auf eins setzen können. Indem ich ihm aber den zehnten Platz gab, konnte ich meine Abneigung gegen den Bahnradsport zum Ausdruck bringen.

Die Nummern auf der Bahn sind steril. Selbst wenn sie die gesamte Hohe Schule taktischer Finessen zeigen, zwei frisch auf die Bahn gestellten Sprintern fehlt es an Drama. Ein Kampf ohne Vergangenheit ist kein richtiger Kampf. Und in der Verfolgung wird ohne Umschweife gemessen, wer am schnellsten fährt – auf diese Art und Weise wird der Radsport reduziert auf einen obszönen Vergleich der Körperfunktionen.

Aber gerade die Geradlinigkeit, und die Tatsache, dass Fahrer auf gut Glück zu trainieren pflegen, lockt Vertreter der Wissenschaft an: Wäre es nicht möglich, aus einem willkürlichen Athleten einen künstlichen Champion in der Einerverfolgung zu machen? Vor ein paar Jahren konnte ich einen solchen Versuch aus der Nähe miterleben, unternommen von einem multidisziplinären Team, bestehend aus einem Physiologen und einem Psychologen.

Dieses Duo, das zuvor Anklang gefunden hatte, indem es zeigte, dass Tischtennisspieler nichts davon haben (im Gegenteil), wenn sie während des Spiels gegen eine Ballkanone Gedichte von Racine zitieren müssen, hatte ein perfektes Versuchskaninchen gefunden, das muss mal erwähnt werden. Es war ein Mann, zweiunddreißig Jahre alt, groß, mit dem athletischen Körperbau und von weitem besehen auch dem Gesicht von Peter Post. Arie, wie er hieß, war in seiner Jugend Rennfahrer gewesen, hatte früh aufgehört und sich inzwischen eine goldene Nase in der Teppichbranche verdient. Jetzt hatte er genug Freizeit und das nötige Geld, um sich voll auf das Experiment einzulassen; in neun Monaten Niederländischer Amateurmeister und Teilnahme an der Weltmeisterschaft, im Jahr darauf Weltmeister.

Arie tat alles dafür. Er kaufte das tollste Material für die Straße und die Bahn, montierte eine Stoppuhr an seinem Lenker und begann mit dem vorgegebenen Plan für sein Intervalltraining. Das war mörderisch. Kurze Kraftanstrengungen mit vollem Einsatz, die immer länger wurden, lange Anstrengungen, die immer kürzer wurden, und während die Anzahl der Intervalle immer mehr zunahm, sollte Arie sich fast unbemerkt von zwei Seiten den magischen fünf Minuten annähern, innerhalb derer er im Hinblick auf seine Titel explodieren würde.

Die Schwierigkeit mit Arie war, dass er die Ideen der Gelehrten auch mit Kadavergehorsam ausführte, was zur Folge hatte, dass er schnell keinen mehr finden konnte, der mit ihm trainieren wollte. Nach einigen Malen hatte ich auch keine Lust mehr. Ich musste die Steine aus der Straße fahren, um Intervall-Arie, wie er schon schnell genannt wurde, in den Ruhephasen zwischen seinen fünfundzwanzig Sprints wieder einzuholen. Wie der Mann rasen konnte. Ihn hätte ich auf meine Liste setzen sollen. Und wenn er dann nach Hause kam, plumpste er unter ein selbst gebautes Folterwerkzeug in seiner Garage, wo er noch einmal eine halbe Stunde in Rückenlage mit Gewichten in der Luft radelte.

Der Physiologe kontrollierte Aries Fortschritte auf dem Fahrradergometer, und auf dem schlug Arie alle Sportler anderer Disziplinen und außerdem verschiedene Berufsrennfahrer. Und auch der Psychologe hielt die Moral hoch, denn als ich einmal erwähnte, dass Schuiten und Ponsteen, die Favoriten des Jahres (1974), beide vielleicht Profis werden würden, platzte Arie raus: »Dann macht es gar keinen Spaß mehr!«

Aber in Rennfahrerkreisen, in denen der Fall Arie viel diskutiert wurde, war man skeptisch, was seine Chancen anging. Beim Radsport ging es doch um Souplesse, Macht, Tritt, Form? Unwissenschaftliche Begriffe natürlich, aber diese Qualitäten konnte man nur in Rennen erlangen, und bei denen fuhr Arie nie mit. Sogar für eine Probeverfolgung war in seinem Plan kein Platz. Schließlich wurde doch entschieden, einen Test auf der 200-Meter- Bahn von Sloten zu fahren, und nie werde ich die Gesichter des Psychologen und des Physiologen vergessen, die mit teuren Stoppuhren und luxuriösen Stiften bereitstanden, um Aries Zwischenzeiten zu notieren. Nach fünf Runden wurden diese nicht mehr in Zehnteln von Sekunden, sondern in ganzen Sekunden aufgeschrieben, ein paar Runden später ließ man es ganz sein mit den Zwischenzeiten. Arie brauchte schließlich etwa 5:40 Minuten für die vier Kilometer, nur eine winzige Minute über dem Weltmeisterniveau; formidabel für einen Anfänger von 32 Jahren. Er munterte den Psychologen auf, aber als ich mir einen Monat später im Olympiastadion die Qualifikationsrennen für die Verfolgung anschaute, schallte Aries Name vergebens durch den Lautsprecher. Sein Gegner musste alleine über die Bahn.

Nachschrift 2015: Viele Jahre später begegnete ich Arie noch einmal, auf der Liste der fünfhundert reichsten Niederländer. Mit etwa sechzig Millionen Euro stand er irgendwo zwischen dem dreihundertsten und dem vierhundertsten Platz.

Die vierzehnte Etappe

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