Читать книгу Die vierzehnte Etappe - Tim Krabbé - Страница 17
ОглавлениеEIN RÄTSELHAFTER SIEG (1981)
Beim Etappensieg von Roger De Vlaeminck bei Paris–Nizza am letzten Sonntag musste ich an eine Tour-de-France-Etappe nach Versailles denken, die am 17. Juli 1976 von Freddy Maertens gewonnen wurde. Eine etwas gequälte Assoziation und vielleicht eine weit hergeholte Einleitung zu einer Geschichte, die ich erzählen möchte, aber die ist so grausam, dass sie alle anderen Erzählweisen falsch erscheinen lässt. Dann offenbare ich meine Machtlosigkeit lieber sofort.
Am Sieg von Maertens haftet ein Rätsel, das meines Wissens nie aufgeklärt wurde. Er gewann in einem Massensprint, ich kann mich an die Bilder erinnern. Es regnete, und Maertens hatte, wie in diesen Tagen üblich, sechs Längen Vorsprung. Vorher war er schon mal ausgerissen, lese ich jetzt wieder. Zusammen mit Bracke hatte er mehr als eine Minute Vorsprung gehabt, aber sie waren ineinander gefahren, gestürzt und wurden wieder eingeholt. Rund um diese Etappe blätternd lese ich auch vom Tod des Motorradfahrers einer der fahrenden Fernsehkameras, der einige Tage vorher während einer Etappe unglücklich gestürzt war.
Ja, Radsport ist ein gefährlicher Sport, auch in seinen Randerscheinungen. Momentan liegt Gerben Karstens im Krankenhaus mit einer Schädelfraktur, davongetragen bei einer Trainingsausfahrt. Er hat seine Radsportkarriere am Ende der letzten Saison beendet und fuhr noch ab und an, damit das Ende nicht zu abrupt kam.*
Sonntag war De Vlaeminck extra motiviert, und wie nervig das Geschwätz der Rennfahrer vom Geburtstag ihrer Mutter auch sein mag: Es wirkt. De Vlaeminck widmete seinen Sieg seinem Busenfreund Jean-Pierre (Jempi) Monseré, der genau zehn Jahre vorher, am 15. März 1971, während eines Rennens ums Leben gekommen war.
In vielerlei Hinsicht hat der Zufall den Tod von Monseré besonders tragisch gemacht. Zuerst einmal war er Weltmeister, als es passierte, er fuhr im Regenbogentrikot. Er war noch sehr jung, erst zweiundzwanzig, und außergewöhnlich begabt, er war bereit dazu, es mit Merckx aufzunehmen. Radrennfahrer, die noch zu Amateurzeiten zusammen mit ihm gefahren waren, habe ich sagen hören, wie Monseré, wenn er Lust auf eine Spitzengruppe bekam, genau so lange an der Spitze fuhr, bis die Anzahl Fahrer, die er sich vorgestellt hatte, übrig geblieben war.
Sein Unfall passierte bei einem unwichtigen Kirmesrennen in Retie, in einer Situation, die jeder Gefahr entbehrte. Eine Spitzengruppe von siebzehn Mann fuhr auf einem langen geraden Stück. Monseré schaute sich im falschen Augenblick kurz um, prallte gegen ein Auto und war sofort tot.
Die belgische Sportpresse nennt Monseré diese Woche »mächtig, witzig, sorglos, freundlich«. Er war wirklich ein Liebling des Volkes und er hatte dafür, so wie das Volk das will, nichts tun müssen. Er verstärkte diesen Eindruck auch gerne, trainierte wenn möglich klammheimlich, und seine Witwe erzählt, wie er mal auf einem Ball aufschneiderisch mit einem Glas Rodenbach in der Hand umherlief, aber ausschließlich Wasser trank.
Roger De Vlaeminck erzählt eine klassische Rennfahreranekdote: »Einmal haben wir uns bei der Lombardei-Rundfahrt hinter einer Böschung an einem Bahndamm versteckt. Wir hatten Merckx mitteilen lassen, dass wir ausgerissen waren. Und Merckx fuhr wie ein Verrückter, auf der Suche nach uns, obwohl wir hinter dem Peloton fuhren. Er war so schnell, dass wir fast nicht wieder aufschließen konnten. Als dies dann doch gelungen war, fuhren wir neben ihn. ›He, Junge, warum fährst du wie ein Wahnsinniger? Brennt es irgendwo?‹ Merckx war ein sehr Ernster, der konnte darüber nicht lachen.«
Als Monseré bei der taktischen Besprechung für die Weltmeisterschaften 1970 in Leicester auch gefragt wurde, was er bereit wäre, den anderen Fahrern zu zahlen, wenn er Weltmeister werden würde, sagte er: »Dann gebe ich eine Runde Rodenbach aus.« Und er wurde sogar Weltmeister. Während der Feier in Roeselare starb sein Vater an einem Herzinfarkt, ein Detail, das wenig bekannt ist.
Die Beerdigung von Jempi muss eine fast hysterische Zurschaustellung von Volkstrauer gewesen sein, Zehntausende kamen dorthin, es wurden Monseré-Fotos und Monseré-Rennmützen verkauft. In den darauffolgenden Jahren schien es, als ob die Liebe auf seinen Sohn Giovanni übertragen worden war, der zwei Jahre alt war, als Jempi starb. Von Zeit zu Zeit wurde in den Zeitungen darüber berichtet, wie es ihm ging (er wollte später Radrennfahrer werden), er durfte einmal eine Ehrenrunde auf einer Radrennbahn fahren, und zu seinem Onkel Freddy Maertens sagte er: »Mein Vater war viel stärker als du.« Er fuhr mit einem Rennhelm durch die Gegend, im Regenbogentrikot, auf einem Rad, das er von Maertens geschenkt bekommen hatte, und so ausstaffiert wurde er am 16. Juli 1976 von einem Auto überfahren und war tot.
Am nächsten Tag gewann Maertens also die Etappe bei der Tour de France. Wenn ich auch nur irgendetwas von Sport verstehe, kann er es nicht gewusst haben.
Nachschrift 2015: Maertens wusste es wirklich nicht; es gelang seiner Teamleitung, Giovannis Unfall vor ihm zu verbergen. Am Tag nach Versailles gewann er auf den Champs-Élysées das Einzelzeitfahren, aber in der normalen Etappe danach wurde er von Karstens geschlagen. Erst an jenem Abend bekam er es zu hören. In seiner Autobiografie Niet van horen zeggen schreibt er: »Niemals in meinem Leben habe ich die Relativität von Ruhm und Erfolg mehr gefühlt als an diesem Tag 1976 in diesem Pariser Hotel.« Und am Abend danach »erwartete das Publikum beim Kriterium von Aalst, dass ich wieder den starken Helden spielte«.
Das Auto, das Monseré das Leben kostete, durfte dort, wo es war, fahren; für Rennen wie das von Retie wurden die Straßen nicht abgesperrt, und es gab auch keine Polizeieskorte. Die Fahrerin, die am Steuer saß, war ein junges Mädchen, das nicht wusste, dass ein Rennen stattfand, und nirgendwo eine Warnung gesehen hatte. Als sie die Rennfahrer kommen sah, fuhr sie an die Seite und wartete, so weit wie möglich am Straßenrand. In einem Fernsehprogramm über Monseré sagte seine Mutter achtunddreißig Jahre später: »Die junge Frau traf keine Schuld.«
* Karstens erholte sich wieder davon und fuhr später sogar wieder Rennen bei den Senioren.