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EINE RICHTIGE ENTSCHEIDUNG (1981)

Je besser der Schachspieler, desto seltener gibt er auf. Je besser der Radrennfahrer, desto eher gibt er auf. Die zwei neuesten Weltmeister, Maertens und Hinault, sind Meister darin. Hinault gab in der Tour 1980 auf während er das Gelbe Trikot trug, und dieses Jahr unter anderem beim Midi Libre, oben auf meinem eigenen Mont Aigoual, wegen eines Sonnenstichs.

Von vor drei Wochen habe ich den Bericht des Grand Prix de Plouay zur Hand genommen, des letzten Testrennens für die französischen Fahrer vor der Weltmeisterschaft.* Ein Jahr zuvor hatte Hinault in dem Rennen aufgegeben, wegen einer Kolik. Und jetzt? Der Reporter: »Die Straße steigt an. Seit dem Start ist Hinault am Schwanz des Pelotons gefahren. Es ist 13.55 Uhr. Siebenundzwanzig Kilometer sind unter den Rädern schon dahingeglitten. Plötzlich verliert das Regenbogentrikot einen Meter, dann zwei, dann fünf. Die Straße steigt stärker an. Drei Bauern und einen Springer hat Karpov jetzt schon weniger. Ach, er will sich einfach nur zusätzlich testen, sagt man zueinander, das macht er öfter. Aber kurz darauf liegt Hinault eine Minute zurück.«

In solchen Situationen lässt eine zufällige Betonung nie lange auf sich warten. »Michel, Larpe und Jourdan, drei Fahrer von La Redoute, die durch einen Reifenschaden zurückliegen, überholen ihn und hängen ihn einige hundert Meter später ab. Entsetzen!«

Hinault müht sich weiter auf seinem Rad. Er lässt Guimard kommen und zeigt aufsein Knie. Von der Seite schreien Zuschauer: »Betrüger! Geld abräumen und abhauen, was?« Zehn Anschnauzer weiter wendet sich Hinault zu einem von ihnen, schwenkt seine Faust und ruft: »Ihr Arschlöcher. Ihr könnt mich mal!« Die Abfahrt nach Plouay beginnt jetzt, bei einer Kreuzung steht der Wagen des Teamarztes bereit für Hinault.

»Innerhalb von dreißig Sekunden hat er sein Rad auseinandergebaut.« Er steigt ins Auto, umringt von Fotografen und anderen Pressemücken. »Meine Herren, bitte drängen Sie uns nicht. Das ist nicht der Moment, absolut nicht der richtige Moment.« Und er saust davon, die Weltsportpresse in Verwirrung zurücklassend.

Freddy Maertens war drei Jahre lang mit nichts anderem beschäftigt als Aufgeben, unter stets weniger ruhmreichen Umständen. Dann kam diese Tour, mit ihren fünf Etappensiegen, aber auch danach, in den Wochen vor der Weltmeisterschaft, war ein gutes Ergebnis nicht drin, und bei vielen Rennen gab Maertens wie früher auf. Verdächtigungen sind nie weit weg, wenn es um ihn geht. Zwar hat noch niemand jemals von Doping gehört, mit dem man stürzen würde oder von dem einem die Zunge aus dem Mund hängt, aber wenn Maertens stürzt oder ihm die Zunge aus dem Mund hängt (sehr eklig, er sieht dann aus wie ein Elefant ohne Rüssel), dann kommt das vom Doping.

Natürlich war es eigenartig; wenn er all die Tour-Etappen gewinnen konnte, warum konnte er dann in den Kirmesrennen in Belgien keinen ordentlichen Preis mehr gewinnen? In einer belgischen Sportzeitschrift erklärte Lomme Driessens, sein Svengali, die Angelegenheit. Die vielen Stürze, von Maertens selbst immer bagatellisiert, waren wirklich ein Problem: Würde es Maertens ungeschoren bis zum Tag der Weltmeisterschaft schaffen? Und warum stürzte er eigentlich so oft? Ja, es gab ein Komplott gegen ihn von Fahrern, die seinen immer weiter wachsenden neuen Ruhm nicht ertragen konnten und die ihn »raushaben wollten, noch vor der Weltmeisterschaft. Verstehst du mich?«

Einige Tage nach der erfolgreichen Weltmeisterschaft belohnte sich Maertens mit einer Aufgabe in alter Champions-Manier. Bei einer Etappe der Katalonien-Rundfahrt stieg er ab, als er fand, dass zu viele Autos in entgegengesetzter Richtung auf der Strecke fuhren. So etwas braucht ein Weltmeister nicht hinzunehmen.

Was kann ich dem gegenüberstellen? Ich werde es mal ehrlich zugeben: Für mich gab es schon immer einen ehrenvollen siebten Platz zu verteidigen. Ich gab nie auf. Aber sobald die Presse sich in meine Nähe wagte, kam mir der Gedanke zum Aufgeben. Radsport ist zu absurd, um dafür einen guten Grund zu haben. Gibt es einen, dann fällt es einem wie Schuppen von den Augen, denn dann sieht man auch sofort alle Gegenargumente. Und bevor man sich versieht, steht man schon neben seinem Rad.

Diesem Mechanismus ist mal ein Reporter des flotten Damenmagazins Viva zum Opfer gefallen, von dem die Redaktion ein Macho-Thema erwartete, einen Bericht über einen verrückt gewordenen Schriftsteller, der nichts anderes lieber tat, als auf lebensgefährliche Weise mit dem Rad im Kreis zu fahren.

Gemeinsam fuhren wir nach Rotterdam, in das Viertel Delfshaven, wo sich herausstellte, dass die Strecke größtenteils über Kopfsteinpflaster führte. Diese Pflasterstraßen dürften, wenn es sie jetzt noch gibt, zu den letzten in niederländischen Städten gehören. Auf Kopfsteinpflaster fühlte ich mich im Prinzip wie ein Fisch im Wasser, aber jetzt begann es beim Start zu regnen. Die Pflastersteine werden dann speckglatt, Kurven sind beinahe nicht mehr zu fahren, und meine Kurventechnik war ehedem schlecht. In den ersten zwei Runden sah ich, wie bestimmt dreißig Fahrer stürzten. In der dritten Runde tauchte ein entgegenkommendes Auto auf der Strecke auf, das einzige Mal in den hunderten von Kriterien, die ich bestritten habe, dass ich so etwas erlebte.

Ich hatte wahnsinnige Angst, und die Stürze in den Kurven sorgten dafür, dass ich ziemlich schnell in der so-und-so-vielten Gruppe der Hoffnungslosen landete. Aufgeben war die einzige sinnvolle Tat, die ich mir ausdenken konnte. Aber ich würde natürlich weiterfahren, und wie ich mich selbst kannte (ich wurde immer stärker, je länger das Rennen andauerte), würde ich auch noch den neunzehnten Preis einsammeln. Als ich aber auf einmal bedachte, dass das ja auch schön für die Reportage sein würde, ging meine Flamme auf einmal aus. Mein Leben riskieren für ein Magazin, dessen Abonnenten einander Tschüssi zum Abschied zuriefen? Niemals. Ich stieg ab, eine vernünftige Entscheidung. Ich hatte fünf Runden absolviert, der Fotograf war noch nicht mal aus dem Café gekommen.

Auf dem Rückweg erzählte ich alles, wirklich alles über die Technik des Fahrens auf Kopfsteinpflaster, aber davon haben die Leserinnen des Magazins nie Kenntnis nehmen können.

* Die Leser kannten das Ergebnis dieser Weltmeisterschaft schon: 1. Maertens, 2. Saronni, 3. Hinault.

Die vierzehnte Etappe

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