Читать книгу Die vierzehnte Etappe - Tim Krabbé - Страница 8
ОглавлениеFORM (1980)
Man nehme irgendeine Radsportzeitschrift und die Geschichte, die ich jetzt erzähle, steht drin. Sie ist ein Klassiker. Unzählige Male ist sie wirklich passiert, unter anderem in der Ronde van Nieuwpoort-Langerak für Senioren, letzten Samstag. Und weil ich da selbst mitfuhr, bin ich jetzt an der Reihe, sie zu erzählen.
Ich fuhr die ersten Monate dieser Saison nicht gut. Ständig sah ich, wie vor mir Spitzengruppen entstanden, ohne dass mich die gewohnte Wut darüber, dass sie noch nicht vollständig waren, überkam. Mitte Mai beschloss ich, das Fahrrad mal zwei Wochen in die Ecke zu schmeißen. Das macht Moser auch manchmal mitten in der Saison. Ich unternahm zwei Alte-Männer-Ausfahrten um die dreißig Kilometer, und dermaßen klassisch war die Geschichte, dass ich bei einer dieser Touren auf der IJ-Brücke von einem Radfahrer in normalen Klamotten auf einem normalen Fahrrad überholt wurde.
Laut Regenerationsschema musste ich an diesem Wochenende wieder anfangen, aber je näher der Zeitpunkt rückte, desto weniger Lust verspürte ich. Nieuwpoort-Langerak musste also schon mal abgeschrieben werden. Ich würde noch eine Woche später beginnen und dann extra frisch sein.
Eine Rechtfertigung für diesen apathischen Plan konnte ich aber gebrauchen, und deshalb fuhr ich Freitagabend bis zum Kopje van Bloemendaal. Ich würde meine Zeit messen, die ich für den Anstieg brauchte, und im Vergleich mit früheren Leistungen würde ich dann sehen können, wie schlecht es um mich bestellt war.
Der Anstieg zum Kopje ist eine gute Gelegenheit für ein Training, aber merkwürdigerweise sehr unbeliebt bei den Fahrern aus Amsterdam. Knetemann war der Einzige, der dort tagelang Kreise und Achten fuhr, aber ich habe auch teuer bezahlte Amateure erlebt, die mich anschauten, als machte ich ihnen ein unmoralisches Angebot, wenn ich mit ihnen zum Kopje hochfahren wollte, und die dabei den bekannten Unsinn auspackten: »Das geht auf die Beine, Mann.«
Zwei Hobbyradler, die auch zum Kopje fuhren, waren vor mir, und ich nahm mich etwas zurück, damit ich erst im Hochfahren an ihnen vorbeischießen und so wenigstens ein bisschen anonyme Hochachtung einheimsen würde. Unten beim Pfosten auf der rechten Seite der scharfen Kurve schaute ich auf meine Uhr und begann, hochzusprinten.
Mist, fährt der Kerl schnell, dachten die beiden Hobbyradler, aber ich war schon hinter der ersten Kurve verschwunden. Oben beim Briefkasten schaute ich wieder auf meine Uhr: Um drei Sekunden hatte ich meinen Rekord gebrochen, den ich im letzten Jahr in Bestform bis aufs Äußerste ausgereizt hatte. »Kann nicht sein«, sagte ich laut, obschon ich wohl weiß, dass es ausreicht, so was nur zu denken, wenn man alleine ist. Um es zu kontrollieren, fuhr ich sofort wieder runter und machte den Anstieg noch mal, wobei ich den frischgebackenen Rekord um zwei Sekunden pulverisierte. Er steht jetzt bei 2 Minuten und 19 Sekunden.
Es ist wohl klar, dass ich am nächsten Tag in Nieuwpoort-Langerak gewann. Natürlich kann man auch gewinnen, wenn man schlecht fährt, aber alles blieb so, wie es zu dieser Geschichte gehört. Ich fuhr mühelos und mächtig. Ich erlaubte mir ein kräftezehrendes und sinnloses Solo, platzierte mich bei allen Prämiensprints und hatte den Sieg dem Glück zu verdanken.
In der letzten Runde stürzte der größte Favorit. Kurz vor Schluss wagte ein anderer Fahrer einen Verzweiflungsangriff, der zu gelingen schien. Ich achtete nicht mehr auf ihn und bereitete ruhig den Sprint um den zweiten Platz vor. Der verlief perfekt. Nur musste ich, in der heillosen Geschwindigkeit der letzten hundert Meter, vor etwas ausweichen, und bevor ich merkte, dass das der Spitzenmann war, war ich schon ins Ziel gefahren.
Glück, das ist ein Bestandteil von Form. Ansonsten ist nicht viel darüber bekannt. Seit es Sport gibt, ist Form resistent geblieben gegen jegliche Erklärungsversuche und so wird es auch immer sein.
Sonntag, unterwegs nach Hause von einem nicht allzu ruhmreichen vierten Platz in Amersfoort, hörte ich im Radio einen Läufer, der erzählte, wie man ihn zur Weißglut brachte, indem man sein Blut unter verschiedenen Bedingungen auf den Milchsäuregehalt kontrollierte, um so seine Erschöpfungsprozesse zu bestimmen und mit diesem Wissen schlussendlich seine Erholung verbessern zu können. Demnach würde man Form in ihm kreieren können.
Eine Illusion. Das hat alles gar nichts damit zu tun, es ist geheim.