Читать книгу Die vierzehnte Etappe - Tim Krabbé - Страница 13
ОглавлениеLIEBER EDELMÜTIG ALS MÜDE (1980)
In den Niederlanden war ich dazu verurteilt, Kriterien zu fahren, kurze Rundstreckenrennen, in denen Radrennsport zum Geschwindigkeitssport degradiert ist und die Ermüdung eine Nebenrolle spielt. Aber ohne Ermüdung schreibt der Radrennsport selten ergreifende Geschichten.
Dann die Tour du Var! Von den zehn einzelnen Etappen, aus denen sie bestand, gehören auf jeden Fall fünf zu den zehn packendsten Rennen, die ich je gefahren bin. In der Tour du Var hatte der Radsport seine ursprüngliche Form, die einer Prüfung des Durchhaltevermögens. Wir fuhren jeden Tag einhundertzwanzig Kilometer durch schweres Terrain; so fand ich im letzten Monat meiner Radsportkarriere doch noch heraus, wie sich eine Tour de France anfühlt. Das ganze Leben hat sich in ein großes Fahrrad verwandelt. Auf die Frage, die sich jeder Mensch manchmal stellt, nämlich: Was mache ich in diesem Moment, schien in meinem Fall die Antwort stets zu lauten: Ich sitze auf einem Rennrad. Natürlich waren die Etappen auch irgendwann zu Ende, aber dann wurde ich sofort zum Hotel gefahren, wo ich mit Radrennfahrern zu Abend aß und über Radsport quatschte.
Dann versuchte ich, etwas zu schlafen, aber bevor ich einigermaßen wach war und mich fragte, was ich eigentlich machte, saß ich wieder auf einem Rennrad, denn der Start war morgens.
Kein Wunder, dass ich schließlich in einer tiefen Müdigkeit versank, und nicht nur ich. Am dritten Tag war nach einem endlosen Anstieg unmittelbar nach dem Start eine Spitzengruppe mit acht Mann übrig geblieben, für alle verbleibenden Anstiege. Eine Stunde später, auf einem kilometerlangen Streckenabschnitt mit einer dicken Schicht frisch gelegtem Splitt, hatte einer von uns einen Reifendefekt. Es tat mir sehr leid für ihn, doch ich freute mich vor allem über den Vorteil, den mir das bringen würde, denn er war eine Minute vor mir.
Aber aus meiner Gruppe wurde mir die Entscheidung mitgeteilt, dass wir warten sollten. Wir hatten genug Vorsprung, vier Minuten laut der letzten Nachrichten. Die Initiative schien mir vom Träger des Gelben Trikots auszugehen, und seine Autorität akzeptierte ich. Wir rollten locker dahin, bis der Pechvogel wieder da war. Später habe ich gefragt, ob so ein Warten normal ist, aber das schien nicht der Fall zu sein: Es war eine spontane Geste. Wir waren schon so lange zusammen, dass in der Tat ein starkes Gefühl der Kameradschaft entstanden war, dem wir uns umso schneller hingaben, weil Ermüdung nun mal sentimental macht.
Aber hat die Ermüdung nicht auch selbst eine Rolle gespielt? Locker dahinrollen kostet weniger Kraft. Später am Tag wurde noch mal gewartet, jetzt auf einen Fahrer aus unserer Gruppe, der seinen Sattel verloren hatte. Zehn Kilometer lang fuhr er im Stehen in unserem speziell angepassten Tempo, aber weil sein Mechaniker das Problem nicht beheben konnte, kam er schließlich mit Tränen in den Augen zu uns, um uns zu sagen, dass wir ohne ihn weiterfahren müssten. Mir kam die Mitteilung nicht gelegen, weil ich müde war, und ich wäre bereit gewesen, noch stundenlang edelmütig zu sein. Aber die Windstaffel war zügig wiederhergestellt, und wir erreichten den Zielort mit sieben Minuten Vorsprung auf das Peloton und noch mehr auf den unglücklichen Sattelverlierer.
Ein paar Tage später lernte ich eine Müdigkeit von einer Dimension kennen, die mir neu war. Ich befand mich in einer Spitzengruppe mit zwölf Mann, die eigentlich wenig Bedeutung hatte, denn alle prominenten Fahrer waren dabei und die Würfel in der Gesamtwertung waren schon längst gefallen. Aber es war eine Etappe mit hundertdreißig Kilometern, und ich hatte einen schlechten Tag. Ich war schon zwei Mal bei Anstiegen abgehängt worden, und auch nach einem Platten hatte es mich große Mühe gekostet, zurückzukommen. Da wurde nicht auf mich gewartet. Waren zwölf Mann zu viel, damit eine Kameradschaft entstehen konnte? Vielleicht hatten sie ja schon gewartet, aber ich war zu erschöpft gewesen, um es zu merken. Auf jeden Fall betete ich, dass ich nicht noch mal abgehängt werden würde, für meine Platzierung in der Gesamtwertung und für die Chance, die ich im Sprint haben würde.
Noch fünfzehn Kilometer bis zum Ziel, der letzte Anstieg lag hinter uns, und ich war immer noch mit dabei. Ich übernahm schon längst keine Führungsarbeit mehr und ich fürchtete mich vor nichts so sehr wie vor den Huckeln auf der Straße, die den Rausch stören würden, in dem ich mich befand. Zu essen hatte ich nichts mehr, und ich fragte einen anderen Fahrer. Er reichte mir eine Portion Fruchtmus rüber, und das war der Gnadenstoß.
Ich hatte nämlich gedacht, dass er Feigen dabeihatte. Zu einer Armbewegung, die Feige zu nehmen, hätte ich mich noch in der Lage gefühlt, aber meiner vorgenommenen Armbewegung eine neue Bedeutung zu geben, das überstieg meine Kräfte. Kurz darauf, auf einem flachen Abschnitt, wurde ich abgehängt. Die Überraschung hatte meinen Rausch gestört. Auf den letzten Kilometern verlor ich noch mal zwei Minuten und damit rutschte ich vom fünften auf den sechsten Platz ab, der zu meiner Platzierung im Schlussklassement der Tour du Var 1980 wurde.