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EIN ALTER SCHWEIZER (1981)

»Lange Zeit war Oberhänsli so gut wie unbekannt, sogar in seinem eigenen Land.« Keine Angst, Radsportliebhaber, Oberhänsli ist kein Fahrer, von dem Sie gehört haben müssten. Er war ein Schweizer Komponist von Schachproblemen, der von 1842 bis 1913 lebte, und das Zitat (aus einem 1921 erschienenen amerikanischen Schachbuch) fällt mir immer wieder ein als unübertroffenes Beispiel mikroskopischen Ruhms.

Ich meine, »wer ist dieser alte Knacker«; wenn Johan van der Velde das dachte, als er bei Lüttich–Bastogne–Lüttich in einer Spitzengruppe landete, in der auch der zweiunddreißigjährige Schweizer Fuchs fuhr, dann würde ich ihm das nicht übelnehmen.

Und ein wenig später, als Fuchs durch das Zusammentreffen von Anstiegen, Einbrüchen und Stürzen auf einmal allein an der Spitze lag, müssen alle die Stirn gerunzelt haben. Fuchs der Sieger von Lüttich–Bastogne–Lüttich? So, wie große Fahrer gerne große Rennen gewinnen, wollen große Rennen gerne von großen Fahrern gewonnen werden. Das Amstel Gold Race freute sich über Hinault, Lüttich–Bastogne–Lüttich fürchtete sich vor Fuchs.

Ich frage mich manchmal, wie gut sich die fünfhundert Fahrer, die zusammen das europäische Profipeloton bilden, eigentlich kennen. Von den paar Etappenrennen, die ich bestritten habe, weiß ich, dass es Tage dauert, bevor sich das Peloton auch nur einigermaßen ausdifferenziert hat – und sogar dann bestehen die paar Fahrer, die man von den achtzig erkennt, aus nicht viel mehr als einem Verband um den Arm oder den getrockneten Salzrändern auf ihrer Radhose.

Und aus der Startnummer natürlich – aber bei den Profis, bei den Eintagesrennen im Frühjahr, ändern diese sich ja jeden Tag; wie halten sie sich auseinander?

Natürlich war es Pollentier, der vor ein paar Jahren für die Standardanekdote auf diesem Gebiet gesorgt hat. Er war Belgischer Meister geworden, und weil in allen großen Radsportnationen die Landesmeisterschaften am selben Tag ausgetragen werden, fragte er in der Umkleide, wer die anderen Titelträger waren. Für Frankreich nannte man Tinazzi, und Pollentier fragte, wer das denn sein möge, in welchem Team er fuhr. »Bei Flandria«, war die Antwort. Dass er selbst auch bei Flandria fuhr, das wusste Pollentier dann noch wenigstens.

Ganz im Allgemeinen habe ich den Eindruck, dass Fahrer in einem Quiz, in dem sie selbst das Thema wären, keine Chance hätten gegen einen auch nur mittelmäßigen Kenner. Hinault benennt in Interviews die Jahreszahlen seiner wichtigsten Siege so oft falsch, dass ich vermute, dass bei den paar Ausnahmen, bei denen er richtig lag, die Autoren korrigierend eingegriffen haben. Und in persönlichen Gesprächen ist mir immer wieder ein weitgehender Mangel an Wissen der eigenen Trivia bei Radrennfahrern aufgefallen: Sie kennen keine Jahreszahlen, keine Rekorde, keine Ehrenlisten.

Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Knetemann zu den Zeitfahrqualitäten von Poulidor, der zu der Zeit sein Teamkollege war. Ich behauptete, dass Poulidor zwar ein sehr guter, aber doch kein hervorragender Zeitfahrer war, woraufhin Knetemann meinte, dass er doch wohl drei Mal den Grand Prix des Nations (das wichtigste, schwerste Zeitfahren) gewonnen hatte. Das konnte ich erst später nachschlagen; Poulidor hat ein Mal dort gewonnen, 1963, ganz am Anfang seiner Karriere.

Aber ich finde, dass man diesen Mangel an Wissen billigen kann; Radsport ist ein so anspruchsvolles Fach, dass die Ausübenden dafür viele andere Bildungsgebiete aufgeben müssen. Das Verfolgen der Radsportliteratur scheint dazuzugehören.

Angesichts der Hunderte von Fahrern, denen er begegnet, wie kann man dann von einem jungen Fahrer wie Van der Velde verlangen, dass er jemanden wie Fuchs kennt? Er hat die unentbehrlichen Jahrbücher Vélo nicht in der Tasche, in denen ich gerade nachlese, dass Fuchs vor allem gut klettert, ein ordentlicher Rundfahrer ist und jedes Jahr ein bis drei Rennen gewinnt, vor allem in seinem eigenen Land und in Italien.

Van der Velde wird ihm in der Tour de Romandie wohl mal begegnet sein, aber als er nach dem Ende von Lüttich–Bastogne–Lüttich sagte, er habe gewusst, dass Fuchs kein außergewöhnlicher Sprinter sei, bekam ich den Eindruck, dass er sich das nur ausgedacht hatte. Vermutlich hatte er nach der Zieldurchfahrt schnell jemanden gefragt, wie Fuchs hieß, damit er nicht über »meinen Fluchtgenossen« oder »diesen alten Schweizer« reden musste.

Na gut, Van der Velde gewann den Sprint ohne Probleme. Lüttich–Bastogne–Lüttich atmete erleichtert auf.*

* Van der Velde wurde später wegen Dopings disqualifiziert, und Fuchs wurde zum Sieger erklärt.

Die vierzehnte Etappe

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