Читать книгу Prosecco~Wellen - Ursula Flajs - Страница 10
ОглавлениеZur goldenen Welle
Das Hotel war ein stilvolles Gebäude, das sich in eine prachtvolle Backsteinhäuserzeile reihte. Kurz vor achtzehn Uhr fuhr das Taxi vor dem Hoteleingang vor.
„Sieht historisch aus“, bemerkte Sandra. Da sich ihr Wissen über Baukunst auf ‚gefallen‘ oder ‚nicht gefallen‘ beschränkte, fügte sie hinzu: „Ich meine, es sieht alt und edel aus.“
Lilli blickte suchend umher. „Hier deutet aber gar nichts auf einen Wettbewerb hin!“, meinte sie stirnrunzelnd. Auch ihre Freundinnen sahen sich enttäuscht um. Keine Plakate, kein livriertes Empfangspersonal, kein roter Teppich und keine Fotografen waren zu sehen.
„Sind wir hier schon richtig?“ Emma blickte an dem hohen Bau nach oben, als erwarte sie, wenigstens an einem der Fenster einen lauernden Papparazzo zu entdecken.
„Ich glaube, wir müssen uns damit abfinden, dass hier heute kein gesellschaftliches Ereignis stattfindet“, verkündete Marie nüchtern. Sie übernahm würdevoll die Führung, indem sie durch die gläserne Eingangstür voranschritt.
Die Eingangshalle war groß und versprühte einen altehrwürdigen Charme. Rötliche Marmorsäulen, gesäumt von goldenem Stuck, stützten die hohe Decke. Elegante Sofas und Chintz-Sessel standen auf gediegenen Perserteppichen, der Empfangstresen war aus glänzendem Mahagoni.
„Mich würde es nicht wundern, wenn plötzlich ein Filmteam auftauchen würde, um die Neuauflage eines Agatha-Christie-Klassikers zu drehen.“ Melanie war wie ihre Freundinnen schwer beeindruckt.
Nun eilte auch ein livrierter Page herbei und entschuldigte sich mehrfach, dass er den Damen nicht die Tür geöffnet habe. Die Ladys nahmen die Entschuldigung gnädig zur Kenntnis und gaben dem Pagen, auf dessen Namensschild: George stand, die Chance, sich zu rehabilitieren, indem sie ihn baten, sie zum Saal für den A-cappella-Königinnen-Wettbewerb zu geleiten.
Boy George brachte sie über Marmorstufen einen Halbstock höher und stellte sie einem gedrungen wirkenden Mann im Nadelstreifenanzug vor. Dieser trug einen dunklen Schnauzbart, seine ebenfalls dunklen Haare waren wie ein Baldachin über die kahle Stirn frisiert.
„Gefärbt!“, tuschelte Lilli von hinten in Melanies Ohr.
„Guten Tag, meine Damen, der Prosecco-Chor – vermute ich da richtig?“ Ein Nicken der Damenrunde bestätigte seine Vermutung. „Da dürfen wir uns ja auf einen spritzigen Auftritt freuen“, fügte Mister Baldachin mit einem anzüglichen Grinsen hinzu.
Lilli schnaubte und murmelte etwas, dass nach „Idiot“ klang. Dafür musste sie einen Fußtritt von Melanie einstecken. Aber Mister Baldachin schien nichts bemerkt zu haben.
„Ich bin Franco Monetta von der Redaktion Singspuren. Herzlich willkommen!“ Franco Monetta verbeugte sich und gab den Blick auf eine kreisrunde Stelle am Hinterkopf frei, für die der Haarbaldachin nicht mehr ausgereicht hatte.
„Guten Tag, Herr Monetta.“ Lilli übernahm heute nicht nur farblich das Zepter. „Wo können wir uns einsingen?“
„Ein Raum am Ende des Flurs steht für Sie bereit“, erklärte Franco Monetta. „Aber zuerst erkläre ich Ihnen noch den Ablauf. Bitte folgen Sie mir in den Ballsaal!“
Der Saal war nicht sonderlich groß, aber ebenso elegant wie die Eingangshalle. Gegenüber der Eingangsflügeltür befand sich eine Bühne, welche beidseitig von einem dunkelroten Vorhang gerahmt wurde. Davor standen mehrere Stuhlreihen, die für etwa zweihundert Personen Platz boten. Hinter den Sitzplätzen befand sich ein Podest mit vier Stühlen für die Jury.
„Unsere Fachjury besteht aus Harry Bert, der Ihnen wohl bekannt sein wird, sowie Frau Therese Mosswald, eine Professorin am Musikkonservatorium, dann noch einem Kollegen aus unserer Redaktion, Herr Reto Geser, und mir“, erklärte ihnen Franco Monetta.
„Wer ist Harry Bert?“, zischte Lilli Melanie zu – jedoch nicht leise genug.
„Sie kennen Harry Bert nicht! Sicher, es ist schon ein paar Jahre her, aber Der Junge mit der Mandoline und Möwengeflüster sollten Ihnen bekannt sein. Insbesondere, weil Sie auch nicht mehr zur jüngsten Generation gehören!“, scherzte er grinsend. Der Scherz kam bei Lilli allerdings nicht gut an. „Es tut mir leid, aber dieser Sänger ist bei uns in Österreich unbekannt und …“ Ein weiterer Tritt von Melanie ließ sie verstummen. Lilli wurde bewusst, dass es vielleicht unklug war, ein Jurymitglied vor den Kopf zu stoßen. „Vielleicht sind wir doch schon zu alt“, fügte sie selbstaufopfernd hinzu.
Herr Monetta lächelte säuerlich: „Das kann ich mir nicht vorstellen, Harry Bert feiert nächstes Jahr seinen siebzigsten Geburtstag. Aber wenn Sie meinen …“, er grinste süffisant.
Melanie streifte Lilli mit einem wütenden Seitenblick, als Franco Monetta sie hinter die Bühne geleitete. Emma und Sandra folgten schweigend, während Marie würdevoll hinterher schritt.
„Sie werden als dritter Chor an die Reihe kommen. Spätestens um viertel vor acht sollten Sie sich hier bereithalten. Welche …? Moment! Ja, hier habe ich die Liste. Ihr erstes Lied ist Only You – eine gute Wahl, das hat auch Chor Nummer 4 gewählt. Da kann die Jury gut einen Vergleich anstellen. Dann Just the way you are, ist zwar nicht so bekannt, aber ich bin darauf gespannt. Haben Sie noch Fragen?“
„Danke, Herr Monetta. Wir werden uns jetzt vorbereiten.“ Melanie schenkte ihm ihr schönstes Lächeln und schubste Lilli unsanft vor sich her.
„Was hast du dir dabei gedacht?“, schimpfte sie, als sie die Tür zum Proberaum zugeworfen hatte.
„Kennst du Harry Bert?“ Angriff war die beste Verteidigung – Lilli wusste selbst, dass sie nicht gerade diplomatisch gewesen war.
„Nein! Aber ist ja auch egal, oder? Es wäre nicht schlecht, wenn du mal nachdenken würdest, bevor du redest!“, keifte Melanie.
„Du bist einfach unge…!“ Lillis Protest wurde unterbrochen.
„Mädels, Give Peace a Chance.“ Emma schritt wieder einmal schlichtend zwischen die Streitenden ein. Melanie und Lilli verstummten, aber die Spannung zwischen den beiden Frauen war noch immer spürbar. Sandra hielt sich zurück, Marie stellte hingegen gelassen fest: „Ich finde, wir sollten das Ganze nicht so ernst nehmen. So wie es aussieht, wird das hier keine spektakuläre Show. Vermutlich sind wir nur das Animationsprogramm für die Hotelgäste. Aber machen wir das Beste daraus. Wir sind hier, um eine schöne Zeit zu haben, und das ist die Hauptsache oder etwa nicht?“
Bei Maries Worten löste sich die Spannung. Emma und Sandra umarmten Marie dankbar. Lilli und Melanie blickten sich reuevoll an und stürzten sich ebenfalls auf Marie. Nach einem ausgiebigen Gruppenknuddeln holte Melanie alle auf den Boden der Tatsachen zurück: „Los, Mädels, einsingen! Zeigen wir denen, was der Prosecco-Chor draufhat!“
Nach dem Einsingen machte sich trotz Melanies Anfeuerungsparole eine allgemeine Nervosität breit.
„Verdammt, warum bin ich nur so zappelig?“ Melanie zerrte am Ausschnitt ihres Kleides wie an einer imaginären Krawatte und fixierte das Getränkeangebot auf dem Tisch. „Die hätten ruhig was Anständiges zum Trinken herstellen können!“, maulte sie und schenkte sich aus dem Wasserkrug ein.
„Hinterher lassen wir es krachen. Versprochen!“ Lilli trippelte nicht minder nervös im Zimmer umher und klopfte sich mit der Faust auf die Brust. Sandra und Emma saßen blass auf zwei Stühlen. Sie sahen aus, als warteten sie auf ein Strafkommando. Einzig Marie wirkte ruhig und entspannt. Sie hatte die Fingerkuppen aneinandergelegt und summte vor sich hin. „Disziplin ist alles!“ Die oft gepredigten Worte ihrer Mutter hallten in ihren Ohren.
„Hört ihr?“ Lilli lief an die seitliche Zimmerwand und legte ihr Ohr daran. „Da singen sich auch welche ein!“ Jetzt waren deutlich Frauenstimmen zu hören, die Don’t worry, be happy schmetterten.
Melanies Kampfgeist erwachte wieder: „Los, Mädels, das können wir besser! Nochmals von vorn!“
Nach gefühlt fünf Minuten klopfte es an der Tür.
„Meine Damen, es ist Zeit!“ Franco Monetta steckte den Kopf herein und fuchtelte mit den Händen. Die Freundinnen strafften ihre Schultern, als sie ihm im Gänsemarsch folgten.
Hinter der Bühne tummelten sich scharenweise schick gekleidete Frauen, die sich summend oder flüsternd auf ihren Auftritt vorbereiteten. Franco Monetta hüpfte zwischen ihnen umher wie ein Hahn, der in seinem Hühnerharem Inventur machte. „So, meine Damen, ich muss jetzt auf meinen Juryplatz! Die Reihenfolge sollte klar sein. Alles Weitere übernimmt jetzt mein Kollege Jens Eriksen.“ Er deutete auf einen großen breitschultrigen Mann mit schulterlangen Haaren und verschwand winkend durch die Menge.
Jens Eriksen übernahm gelassen das Kommando. Er musste weder hüpfen noch schreien, da er alle durch seine Körpergröße überragte. „Als Erstes kommt der Chor Singschwalben dran. Bitte folgen Sie mir!“ Eine Gruppe von Frauen Ende zwanzig versammelte sich vor Jens Eriksen. Sie trugen dunkelblaue knielange Röcke und weiße Blusen mit blauen Punkten. Die Haare hatten alle mit einer weißen Schleife zusammengebunden.
„Wie ein Schülerchor!“, flüsterte Lilli naserümpfend in Maries Ohr.
Marie lächelte selbstsicher: „Wir sind eindeutig eleganter!“ Die Singschwalben strömten an dem dunkelroten Vorhang vorbei auf die Bühne und der einsetzende Applaus verriet, dass sich der kleine Saal gefüllt hatte.
Während Jens Eriksen hinter der Bühne seinen Zeigefinger an die Lippen hob und damit das letzte Geflüster zum Verstummen brachte, trällerten die Singschwalben los. Melanies stummes Augenrollen verriet, dass sie von der Darbietung nicht sonderlich beeindruckt war. Ihre Freundinnen teilten ihre Meinung. Melanie drehte ihren Kopf, um zu sehen, wie die anderen Sängerinnen auf diese Leistung reagierten. Ihr Blick blieb an Jens Eriksen hängen, der sie grinsend beobachtete. Melanie grinste zurück. Es war wirklich witzig, denn sie beide waren die Größten unter der wartenden Menschenschar. Er zwinkerte ihr zu und Melanie spürte, wie sie rot wurde. Verlegen senkte sie den Blick auf ihre Schuhspitzen.
Nach einem weiteren Auftritt eines Chores, den Melanie mit kräuselnden Lippen als „gefahrlos“ einstufte, war der Prosecco-Chor an der Reihe. Die Freundinnen schritten mit erhobenem Haupt auf die Bühne, lächelten unter dem aufmunternden Applaus der Gäste und begannen nach Melanies Zeichen für den Einsatz mit ihrem Gesang.
Als der letzte Ton verklang, wussten sie, dass ihre Darbietung umwerfend gewesen sein musste, denn tosender Applaus schwappte auf die Bühne. Die Sängerinnen verbeugten sich mit strahlenden Gesichtern. Lillis Blick wanderte zum Jurypodest. Harry Bert musste wohl der grauhaarige Mann sein, der mit der selbstsicheren Ausstrahlung eines erfolgreichen Künstlers am Jurytisch saß. Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und hoffte, dass Franco Monetta ihre aufmüpfigen Kommentare für sich behalten hatte.
„Los, Lilli! Wir sind fertig!“ Melanie hakte sich bei Lilli unter. Mit einem letzten Winken folgten sie Sandra, Emma und Marie, die bereits hinter dem Vorhang verschwunden waren.
„Na, das ist doch super gelaufen!“ Melanie und Lilli gesellten sich zu ihren wartenden Freundinnen, denen die Erleichterung anzusehen war. Ein pantomimisches „Juhuuu“ von Emma und eine freudig hüpfende Sandra sprachen für sich. Marie strahlte mit den anderen um die Wette und alle umarmten sich stürmisch.
„Eine reife Leistung!“, flüsterte eine männliche Stimme in Melanies Ohr. Jens Eriksen war von hinten an sie herangetreten. Als sie sich umdrehte, hob er beide Daumen in die Höhe.
„Danke!“, hauchte Melanie und senkte züchtig ihre Augenlider. Jens Eriksen schenkte ihr ein freches Grinsen, bevor er den nächsten Chor auf der Bühne ankündigte. Die Singing Ladys zeigten sich ebenfalls siegeswillig. Der Chor bestand aus sechs hübschen Frauen um die dreißig, die ihren Gesang mit einer hüftschwungreichen Choreografie aufpeppten.
„Sie wissen, wie man punktet“, flüsterte Lilli beeindruckt. „Salsa tanzen und sie klingen auch nicht schlecht.“
„Gesungen haben wir besser! Wenn alles korrekt abläuft, müssten wir ins Finale kommen!“, konterte Melanie. „Falls nicht, ist das sowieso nur ein Pseudo-Wettbewerb!“
Melanie sollte Recht behalten. Nach dem letzten Auftritt versammelten sich alle Chöre auf der Bühne. Franco Monetta bahnte sich zwischen den Frauen seinen Weg nach vorne.
„Meine sehr geehrten Damen! Danke für ihre Darbietungen, die wirklich eine großartige Qualität boten …“ Er führte einen ausufernden Monolog, während die angesprochenen Damen auf der Bühne ungeduldig warteten.
„Nun sag schon …“ Melanies Gebet wurde erhört.
„Und die drei Finalisten um den Titel der A-cappella-Königinnen siiind …“ Ein nervenzehrender Trommelwirbel übertönte jedes andere Geräusch, bevor er abrupt verstummte und Franco Monetta rief: „Die Singschwalben, der Prosecco-Chor und die Singing Ladys!“
Ein Jubelgeschrei erfüllte den Saal, wobei der Prosecco-Chor nicht minder enthusiastisch hüpfte wie die rund zehn Jahre jüngeren Konkurrentinnen. Franco Monetta informierte das Publikum noch über das Finale am folgenden Samstag, doch auf der Bühne hörte ihm niemand zu – zumindest nicht der Prosecco-Chor.
„So, jetzt lasst uns feiern!“ Lilli hakte sich bei Marie unter, die ungewohnt aufgekratzt wirkte. Sandra, Emma und Melanie lagen sich in den Armen und kicherten ausgelassen.
„Jaaa – jetzt brauche ich was zu trinken!“ Melanie zog ihre Freundinnen von der Bühne.
„Sollen wir hier …?“ Sandra sah sich im langsam sich leerenden Saal um.
„Nein! Ich habe im Lust-auf-mehr reserviert! Schon vergessen?“ Lilli hatte den Tipp aus einem Internetforum. Ein anspruchsvolles Lokal mit prickelnder Atmosphäre – das klang genau richtig! Es lag in einer Seitenstraße an der Reeperbahn und hatte gute Bewertungen bekommen.
„Auf geht’s!“ Melanie schob ihre Freundinnen in Richtung Ausgang und erhaschte dabei noch einen anzüglichen Seitenblick von Jens Eriksen.