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Rote Möwe

Melanie wollte am Hauptbahnhof erst noch ein Ankunftsgläschen nehmen und musste davon überzeugt werden, dass es dafür schönere Plätze gab. Als die fünf Frauen endlich in der U-Bahn saßen, diskutierten Lilli und Marie darüber, ob sich heute noch eine Shoppingrunde ergeben könnte.

„Am Jungfernstieg soll es tolle Geschäfte geben. Das ist ein Tipp von meiner Chefin“, erklärte Lilli.

„Ja, das habe ich auch gehört.“ Marie stand neben ihren Freundinnen, die sich zusammengesetzt hatten. Sie fand öffentliche Verkehrsmittel unhygienisch. Man wusste nie, wer hier schon gesessen hatte. Wenn es kälter gewesen wäre, hätte Marie Handschuhe getragen, um die Haltestangen nicht mit bloßen Händen berühren zu müssen. Sie war froh, dass sich Desinfektionstücher in ihrer Tasche befanden.

Melanie saß neben der stehenden Marie auf der Sitzbank: „Bis wir im Hotel sind, ist es bereits Mittag! Sollen wir nicht zuerst etwas essen gehen und danach die Gegend erkunden?“

„Also ich bin dafür, dass wir unser Gepäck auf die Zimmer bringen und gleich zu den Landungsbrücken gehen. Ich liebe das Meer!“ Emma blickte verträumt auf die vorbeizischenden Wände des U-Bahn-Tunnels.

„Dort ist die Elbe, du Träumerchen.“ Melanie lehnte sich an Emma. „Aber irgendwann fließt sie dann auch ins Meer“, fügte sie versöhnlich hinzu.

Das Hotel Rote Möwe lag in einer umtriebigen Straße. Die Freundinnen schoben ihre Trolleys über den Gehweg und wurden von taxierenden Blicken verfolgt. Anbieterinnen des leichten Gewerbes posierten hier wie in einem Spalier. Mit scheinbar gelangweilten Blicken verfolgten sie das offensichtlich unerwünschte Quintett.

„Wie peinlich, Lilli! Was für eine Gegend hast du denn ausgesucht?“ Marie schob sich ihre Sonnenbrille ins Gesicht, obwohl der Himmel bewölkt war.

„Auf allgemeinen Wunsch eine günstige mit einem akzeptablen Hotel. Und wir sind in Hamburg! Marie, du wirst noch ganz andere Sachen zu sehen bekommen!“, stellte Lilli klar.

Emma zog ihren Koffer wie in Trance hinter sich her, ihre Augen waren staunend auf die Schaufenster entlang des Gehwegs gerichtet. Grelle Neonplakate und blinkende Anzeigen versprachen Spaß für alle nur erdenklichen sexuellen Neigungen.

Sandra murmelte Emma begeistert ins Ohr: „Ein Wahnsinn! Man hört und liest überall davon, aber glauben kann man es erst, wenn man es mit eigenen Augen sieht!“ Sie blieb an einer schwarz abgeklebten Auslage mit der roten Aufschrift: Bondage Angels live stehen: „Was soll das sein?“

„Das will ich gar nicht wissen“, bemerkte Lilli altklug und schubste die grinsende Sandra weiter, während Emma einen verstohlenen Blick zurückwarf.

„Da ist es!“ Melanie deutete auf ein bescheidenes Schild mit der Aufschrift: Hotel Rote Möwe, welches über einem schmalen Eingang hing.

„Wo?“ Sandras Blick wanderte über die Häuserfront und suchte nach weiteren Anzeichen dafür, dass sich hier ein Hotel befand.

„Na, hier ist der Eingang – und da ist eine Klingel. Wir müssen wohl läuten, damit man uns reinlässt.“ Lilli fragte sich gerade, ob sie bei der Hotelwahl nicht sorgfältiger hätte sein sollen, doch die Bewertungen im Internet waren gut gewesen. Tapfer drückte sie den Knopf. An der Decke über dem Eingang blinkte das rote Licht einer Überwachungskamera.

„Sie wünsen?“ Eine blecherne Stimme tönte aus einem Kästchen neben der Klingel.

„Wir haben auf Lilli Hammer Zimmer reserviert, fünf Personen“, antwortete Lilli.

Die blecherne Stimme sagte: „Ja lichtig, bitte tleten Sie ain.“ Mit einem Surren öffnete sich die schwere Eingangstür.

Das Innere des Hotels entpuppte sich als angenehme Überraschung. Trotz Teppichläufern roch es weder muffig noch abgestanden. Ein frühlingsfrischer Jasminduft geleitete die Freundinnen über ein weiß getünchtes Stiegenhaus in den ersten Stock, wo sich die Rezeption befand.

Dort saß ein kleiner asiatischer Mann am Empfangstresen. Er trug einen schwarzen Anzug mit roten Paspeln am Revers. „Helzlich willkommen!“, sagte Mr. Fu Chang, so stand es auf seinem Namensschild. „Hatten Sie eine gute Leise, meine Damen?“

Melanie räusperte sich, während Lilli näselnd erwiderte: „Danke, wir sind wohlauf“, als würde sie an der Rezeption eines Luxushotels stehen. Marie verdrehte schmunzelnd ihre Augen und betrachtete die Bilder an den Wänden. Zarte Geishas in farbig leuchtenden Gewändern fächelten sich anmutig zu. Marie hätte niemals so auffällige Farben getragen, aber zu diesen zarten, puppenhaften Persönchen passten die bunten Gewänder. Sie überlegte, ob sie Johannes gefallen würden. Marie hatte eigentlich nie infrage gestellt, dass sie das Maß aller Dinge für ihren Mann war.

„Ganz schön bunt, oder?“ Melanies Blick war dem von Marie gefolgt. „Wir haben die Schlüssel. Komm!“

Der Miniaturlift bot nur Platz für drei Personen.

„Also, Mädels, wie machen wir es? Wir haben ein Dreibett- und ein Zweibettzimmer!“ Lillis Frage war rhetorisch, denn Melanie, Lilli und Sandra teilten sich immer ein Zimmer, während Marie und Emma das andere nahmen. Also quetschten sich zuerst drei Freundinnen in den Lift und ruckelten in die dritte Etage.

„Gut, dass wir so gedrängt stehen“, meinte Melanie, als der Lift ruckartig stehen blieb und ihre Knie einknickten, „sonst würden wir jetzt alle am Boden liegen.“

Dafür fanden die hellen Zimmer großen Anklang bei den Freundinnen.

„Toll!“, zeigte sich Lilli begeistert, als sie durch die hohen Fenster auf die Straße blickte, „falls uns langweilig wird, können wir uns ja das Treiben da unten ansehen.“

„Ich hoffe nicht, dass es so weit kommt.“ Melanie warf sich samt ihren Schuhen auf das Doppelbett und streckte ihre Arme und Beine von sich. „Ah, herrlich! Wow! Da ist sogar Stuck an der Decke!“

Lillis Stimme hallte aus dem Bad: „Alles schön sauber! Ich muss mal …“

Sandra warf ihre Handtasche auf das zusätzliche Einzelbett. An der Zimmertür klopfte es. Marie und Emma rauschten herein. „Tolles Hotel! Gute Wahl, Lilli!“, lobten beide.

„Danke! Weiß ich doch!“, tönte es aus dem Bad.

Melanie rappelte sich wieder vom Bett hoch und blickte erwartungsvoll in die Runde: „Und jetzt? Gehen wir was trinken?“ Sandra und Emma nickten. Marie schlug vor, zu den Landungsbrücken zu fahren und dort ein nettes Restaurant zu suchen.

„Genau! Wir haben ja ein paar Stunden Zeit, bis wir uns wieder aufbrezeln müssen.“ Lilli gesellte sich, in eine Parfümwolke gehüllt, dazu und rief: „Auf geht’s!“

Die grauen Wolken hatten sich fast verzogen. Erste Sonnenstrahlen wärmten gegen eine von Norden her wehende Brise an. Der riesige äthiopische Frachter, der gerade vorbeigeschleppt wurde, pflügte das dunkle Wasser und ließ diagonale Wellen ans Ufer schwappen.

Emma hätte am liebsten ihre Schuhe ausgezogen, sich hinunter auf das Holz der Landungsbrücken gesetzt und die Füße über dem Wasser baumeln lassen. Marie, die neben ihr stand, blickte einer Möwe nach, die mit einem kleinen Fisch im Schnabel vor ihren kreischenden Artgenossen floh. Sandra und Lilli lehnten nebeneinander am Holzgeländer der Aussichtsplattform und hielten ihre Gesichter mit geschlossenen Augen in die Sonne. Einzig Melanie scannte mit einem Radarblick die Umgebung ab. Er blieb an einer Reihe von Restaurants hängen, die auf den Landungsbrücken standen. „Schaut! Da unten können wir einkehren und fast am Wasser sitzen!“, rief sie.

„Ja, Melanie, jetzt wird es wirklich höchste Zeit für was Flüssiges!“, neckte Lilli sie und hakte sich zwischen Melanie und Sandra ein. Gemeinsam steuerten sie auf Melanies Wunschziel zu. Marie und Emma schlenderten hinterher.

Auf dem Weg zu den Landungsbrücken hinunter kamen sie an einem Mädchen vorbei, dass sich sitzend an das Geländer der Holztreppe lehnte. Die Freundinnen ignorierten es, weil sie das Mädchen für eine Bettlerin hielten. Nur Lilli blickte zurück. Die bettelt doch gar nicht – sie sieht nur traurig aus. Trotz einem Funken schlechten Gewissens lief Lilli weiter. Melanie steuerte zielstrebig auf ein Fischrestaurant mit Terrasse im Freien zu und ersparte somit dem davor stehenden Gastwerber die Arbeit.

„Hier ist es gut. Es ist auch nicht windig. Super!“ Melanie warf sich in den ersten Sessel und zog sofort eine Getränkekarte von der Mitte des Tisches an sich. „Hmmm, Hafenwelle, ein Cocktail ähnlich dem Long Island Ice Tea. Das klingt spannend!“

„Ich würde eher sagen, dass klingt mörderisch! Also ich trinke höchstens etwas Verdünntes.“ Lilli zog eine Speisekarte zu sich heran. „Und ein Krabbenbrötchen nehme ich auch.“

Melanie konnte von ihren Freundinnen zu einer entschärften alkoholischen Variante überredet werden. Darum bestellten sie neben einem Imbiss nur Weißweinschorle für alle. Nachdem sie sich gestärkt hatten, fragte Melanie: „Wie sieht das weitere Programm aus?“ Sie schaute dabei bewundernd auf die glitzernde Elbe und lehnte sich mit wohlig gefülltem Bauch in ihren Sessel.

„Wir hätten noch Zeit für eine Hafenrundfahrt“, meinte Lilli.

„Klingt gut, das würde mir gefallen.“ Emmas Blick glitt über die Flotte an Ausflugsschiffen, die sich am Ufer entlang reihte.

„Ja, auf dem dort wär es schön!“ Sandra deutete auf einen blau gestrichenen Raddampfer, der sich wohl vom Mississippi hierher verirrt hatte.

„Das wird nichts mehr“, bemerkte Marie, denn der blaue Dampfer ließ in diesem Moment ein lang gezogenes Tuten ertönen und die Schaufeln setzten sich in Bewegung.

Sie entschieden sich für ein kleineres Schiff, das mit einladender Partymusik punktete. Sandra war bereits davor mit dem attraktiven Matrosen, der wohl Kunden anlocken sollte, ins Gespräch gekommen. Sie winkte die anderen heran.

„Das ist Dimitri“, stellte Sandra vor, „er arbeitet hier, bis er wieder eine Heuer auf einem Frachter bekommt.“ Sie bekundete ihre Kenntnisse von der ‚christlichen Seefahrt‘, indem sie Dimitri eine baldige Anstellung vorhersagte.

Lilli schubste Sandra. „Los, weiter, Olive, Popeye hat noch Arbeit.“

Sandra schenkte Dimitri ein strahlendes Lächeln, bevor sie unter Lillis Drängeln aufs Schiff stieg. „Ich weiß nicht, wieso du es immer so eilig hast“, protestierte sie. „Wie willst du da jemals einen Mann kennenlernen?“

Lilli verdrehte die Augen und schnauzte Sandra an: „Also ich muss mich ja nicht an jeden hängen, der mir über den Weg läuft.“ Als Sandra empört zu einer Erwiderung ansetzte, stellte sich Emma zwischen die beiden, legte jeweils einen Arm um sie und sang: „All we are saying, is give peace a chance.“ Das war eine Art Codewortzeile, die bei Zwistigkeiten zum Einsatz kam, seit die Freundinnen den Song Give Peace a Chance kurioserweise für eine Hochzeit einstudieren mussten. Und es funktionierte meistens – so auch diesmal. Lilli und Sandra grinsten sich wieder versöhnlich an. Danach gesellten sich die drei zu Melanie und Marie, die bereits an einem Tisch unter Deck saßen.

Der Matrose Dimitri war offensichtlich auch der Schiffskellner, denn kurz darauf salutierte er am Tisch und fragte in gebrochenem Deutsch: „Meine Damen, darf was bringen?“ Natürlich durfte er. Während die anderen auf Alkohol verzichteten und einen Cappuccino bestellten, wollte Melanie endlich die allseits gegenwärtige Hafenwelle probieren.

Dimitri bedachte Sandra mit einem Augenzwinkern, bevor er den Tisch wieder verließ. „Ich finde diesen russischen Akzent so anziehend“, gab Sandra zu. Lilli nahm Melanie kritisch ins Visier: „Du weißt schon, dass wir heute noch einen Auftritt haben?“

„Ich weiß, wie viel ich vertrage!“ Melanie blickte trotzig aus dem Fenster. Die anderen schwiegen verlegen. „Ihr wisst nicht, wie das ist: Immer nur zu Hause herumzulungern, hinter den Kindern herzuräumen und den Gatten zu bekochen. Da braucht man einfach mal ein bisschen Spaß und Ablenkung“, klagte Melanie resigniert.

Lilli bereute ihre unüberlegten Worte: „Entschuldige, Melanie. Ich wollte nicht auf dir rumhacken.“ Sie bedachte Melanie solange mit ihrem treuherzigen Bitte-verzeih-mir-Dackelblick, bis diese zu kichern begann.

„Warum suchst du dir nicht eine Arbeit?“ Lilli war klar, dass sie sich auf dünnes Eis begab, aber sie war der Ansicht, eine gute Freundin sollte auch die Wahrheit sagen dürfen.

„Was soll ich denn tun? Ich habe ja keine abgeschlossene Ausbildung! Mit einem abgebrochenen Musikstudium kommt man zu keinem Job. Aber was soll’s! Jetzt genießen wir unsere Reise.“ Melanie fegte das Thema vom Tisch. Dimitri kam ihr mit seinem vollen Tablett gerade gelegen.

Später begaben sich die Freundinnen aufs freie Oberdeck. Unter vielen „Ohs“ und „Ahs“ bewunderten sie die vorbeiziehenden Sehenswürdigkeiten. Am meisten Anklang fand die Elbphilharmonie mit den gebogenen Luxusfenstern und die Speicherstadt.

„Also der Michel würde auch zum Pflichtprogramm gehören“, versuchte Marie, ihre Freundinnen zu überzeugen.

„Ich weiß nicht, wir haben doch in Vorarlberg mehr als genug Kirchen.“ Sandra schaute wenig begeistert auf den dunklen Turm und verschwand mit einem: „Ich muss mal“, im Unterdeck.

Lilli blickte ihr wissend nach und sprach aus, was die anderen dachten: „Ich schätze, Dimitri hat schon gepunktet.“

Da Sandra längere Zeit nicht mehr auftauchte und es draußen zu kalt wurde, stiegen sie wieder ins warme Unterdeck. Dort saß Sandra mit lasziv übereinandergeschlagenen Beinen und unterhielt sich angeregt mit Dimitri, der sich vornübergebeugt stehend mit den Händen am Tisch abstützte und an Sandras Lippen hing. Hinsetzen durfte er sich vermutlich nicht. Marie blieb unvermittelt stehen und sagte: „Ich muss noch mal an die frische Luft!“ Dem fragenden Blick ihrer Freundinnen entgegnete sie: „Danke, ich bin gern allein“, und verschwand über die Treppe nach oben.

Draußen lehnte sich Marie an die Reling, schlang die Arme um sich und atmete die kühle Aprilbrise ein. Sie sinnierte darüber, warum Sandra ihr so auf die Nerven ging. Ihre jüngere Schwester verbreitete meist gute Laune und wirkte so sorglos, wie sie es schon als Kind gewesen war. Marie erinnerte sich noch an Sandras freudiges Gekreische, wenn sie auf den Knien ihres Vaters hatte reiten dürfen oder er sie mit den Händen in die Luft geworfen hatte. Marie war sich sicher, niemals vor Freude gekreischt zu haben. Johannes hatte sie einmal geneckt: „Du bist eine Eisprinzessin. Zeigst nur deine kalte Spitze. Komm, lass mich darunter sehen!“ Dann hatte er lustvoll an ihrem Ohrläppchen geknabbert. Marie war es immer zuwider gewesen, wenn Johannes seine Begierde so deutlich gezeigt hatte. Auch beim Sex – gerade beim Sex! Ihr war es am liebsten, wenn es dabei dunkel war und schnell ging. So konnte Johannes nicht bemerken, dass sie keinen Spaß daran hatte.

Es dauerte länger als geplant, bis sie wieder im Hotel ankamen, weil Lilli unterwegs einen Abstecher in eine Boutique hatte machen wollen und ihre ohnehin üppige Garderobe um ein gelbes Cocktailkleid bereichert hatte.

„Wir müssen heute Abend Eindruck machen!“, erklärte sie ihren Freundinnen. „Du lässt uns alle daneben verblassen“, neckte Emma Lilli und strich sich mit den Händen über ihre runden Hüften.

Alle scharten sich im größeren Dreibettzimmer, um sich gemeinsam „aufzubrezeln“, wie sich Melanie ausdrückte. „Gott, ich sehe aus wie Obelix, der Gallier!“, klagte sie, als sie sich im großen Wandspiegel betrachtete. Mit ihrer beachtlichen Körpergröße von einhundertachtundachtzig Zentimetern hatte sie sich niemals anfreunden können.

„Unsinn!“ Lilli zupfte den Saum von Melanies pflaumenblauem Kleid in die Länge und stellte sich hinter sie. „Sieh nur, die A-Linie und diese Länge passen perfekt zu deiner Figur. Dein Körper hat die Form einer Birne. Und die Farbe passt super zu deinen grauen Augen.“ Im Hintergrund hörten sie Sandra lachen: „Und was für ein Obst bin dann ich?“

„Also ein Früchtchen bist du ganz sicher“, stellte Lilli grinsend klar. „Aber ernsthaft, klein und zart wie du bist, kannst du fast alles tragen. Das Kleid steht dir übrigens gut“, lobte sie Sandras enges hellblaues Kleid, „obwohl du für diese Kleiderlänge langsam doch zu alt bist.“ Diese Anmerkung konnte sich Lilli nicht verkneifen.

„Was soll das heißen, zu alt? Solange ich es mir leisten kann, trage ich kurze Kleider!“ Sandra blickte stolz auf ihre schlanken Beine, die in hohen Pumps endeten.

„Recht hast du!“, bestätigte Emma und jammerte: „Ich hätte gerne so eine Figur! Ich wurde im falschen Jahrhundert geboren. Rubens wäre mir mit seinem Pinsel nachgelaufen.“ Erst als ihre Freundinnen in schallendes Gelächter ausbrachen, wurde sich Emma bewusst, was sie soeben gesagt hatte und ein Hauch von Rosa überzog ihre Wangen.

„Ach, Emma, wir haben doch alle unsere Problemzonen.“ Dass Maries gutgemeinter Trost unglaubwürdig war, entging keiner ihrer Freundinnen.

Emma starrte auf Maries tadellose Figur, die in einem dunkelblauen Etuikleid sehr gut zur Geltung kam. „Wo bitte, hast du denn eine Problemzone?“ Man hörte selten klagende Worte von Emma. Marie murmelte verdutzt etwas von: „… zu schmale Hüften und krumme Zehen.“

„Du jammerst wirklich auf hohem Niveau!“ Lillis Blick wanderte über Maries perfekte Erscheinung. Dann zupfte sie an Emmas lavendelfarbigem Wickelkleid herum. „Übrigens, du siehst sehr gut aus. Die Farbe passt prima zu deinen himmelblauen Augen!“ Emma strahlte dankbar, immerhin hatte sie das Kleid auf Lillis Empfehlung hin gekauft.

„Du bist jetzt die Einzige, die nicht in einer Beerenfarbe gekleidet ist!“, stellte Melanie fest. Lilli stach in ihrem gelben Modell aus der farblich harmonisch gekleideten Runde heraus. „Wie ein Kanarienvogel“, fügte Melanie frech hinzu, obwohl sie ahnte, dass ihr dafür ein Rüffel drohte.

Erstaunlicherweise blieb Lilli diesmal gelassen: „Weißt du, Melanie, wenn wir alle im gleichen Farbton kommen, sieht das zwar einheitlich aus, aber wir wollen ja einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Und außerdem macht es mir nichts aus, im Mittelpunkt zu stehen!“, fügte sie selbstbewusst hinzu. Lillis Ehrlichkeit war entwaffnend.

Als sie gemeinsam an Mr. Fu Changs Tresen vorbeistöckelten, schenkte dieser dem eleganten Quintett ein erfreutes Lächeln. „Wünse ainen sönen Abend, die Damen!“

Vor dem Hotel wartete bereits das zuvor georderte Großraumtaxi, da sie sich aus zwei Gründen gegen die U-Bahn entschieden hatten. Erstens wollte keine der Freundinnen aufgedonnert durch die Flaniermeile von St. David laufen. „Ich hab schon einen Job!“, hatte Lilli verkündet. Und zweitens fanden die Freundinnen, dass eine Ankunft im Taxi vor dem Hotel glamouröser wirkte.

Prosecco~Wellen

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