Читать книгу Prosecco~Wellen - Ursula Flajs - Страница 24

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Nachtlauf

Melanie lief ziellos durch die Straßen. Zuvor hatte sie erfolglos beim Hoteleingang nach Marie Ausschau gehalten, aber sie vermutete, dass ihre Freundin eines der wartenden Taxis genommen hatte und auf dem Weg zum Hotel Rote Möwe war. Sie hatte überlegt, ebenfalls dorthin zu fahren. Doch sie war noch eingeschnappt, weil Marie den aufregenden Moment mit Jens unterbrochen hatte. Natürlich wusste Melanie, dass sie sonst von jemand anderem gestört worden wären, aber es beruhigte sie, auf Marie sauer sein zu können.

Melanie sog die kühle Nachtluft in ihre Lungen. Sie spürte, wie sie mit jedem Schritt ruhiger wurde und den schmachvollen Auftritt hinter sich ließ. Das Klappern ihrer Absätze hallte von den Wänden der Hausfassaden. Melanie war allein auf der Straße, sie musste in einem Viertel mit Bürogebäuden sein, weil es hinter den Fenstern dunkel war. Einheitliche Backsteinmauern reihten sich hier im Licht der Straßenbeleuchtung. Gelegentlich fuhr ein Auto langsam vorbei, doch Melanie lief gelassen weiter.

Sie hatte keine Angst davor, im Dunkeln allein auf der Straße zu sein. Sie konnte sich nicht erinnern, dass sie jemals um sich Angst gehabt hätte. Seit ihrer Kindheit hörte sie: „Melanie ist groß und stark, die kann auf sich selbst aufpassen!“ In der Schule war sie immer die Größte gewesen, größer als die Jungs in ihrer Klasse. Sie war Mellie-Tower! Sie hatte den Spitznamen ihrer Mitschüler gehasst und sich oft mit Fußtritten dagegen gewehrt. Wie gerne wäre sie klein und zart gewesen. Dann lernte sie Jakob kennen. Den sanften liebenswerten Jakob, der oft seinen Kopf auf ihre Schultern oder an ihren Busen legte, sodass Melanie sich manchmal wie seine Beschützerin vorkam.

Als sie an eine Kreuzung kam, bemerkte Melanie auf der gegenüberliegenden Straßenseite das einladende Leuchten eines Schildes. Matrosengrotte stand dort in roter Schrift und warmes Licht aus einigen Fenstern strahlte in die kalte Nacht. Die haben sicher Hafenwelle! Melanie lief zielstrebig über die Straße.

Marie packte ihren Handkoffer. Natürlich war es zu früh, weil der Heimflug erst am Sonntagabend gehen würde, doch sie musste sich beschäftigen. Zu Hause würde sie jetzt auf dem Crosstrainer stehen. Das war die beste Stressbewältigung für sie und gleichzeitig tat sie etwas für ihre Figur.

Sorgfältig legte sie alle Kleidungsstücke zusammen, die sie nicht mehr brauchen würde. Mit dem kleinen Fusselroller entfernte sie ein paar einzelne Fasern. Marie wusste, dass das unnötig war, weil sie zu Hause ohnehin alles waschen würde, egal ob sie es getragen hatte oder nicht, aber so blieb der Koffer sauber.

Ihre Gedanken schweiften immer wieder ab zu der hässlichen Szene mit Lilli, deren Worte Marie mehr verletzt hatten, als sie es jemals zugeben würde. Wie konnte Lilli nur so grob sein? Sollte Marie sich aufführen wie Melanie oder Emma? Oder gar wie Sandra? So benahmen sich anständige Frauen nicht, auch wenn Sandra und Emma ungebunden waren.

Bin ich prüde? Bin ich frigide?

Marie erinnerte sich an verletzende Worte von Johannes, die er ihr an den Kopf geworfen hatte, als er spätabends betrunken von einem Geschäftsessen nach Hause gekommen war. Er kroch zu Marie ins Bett und wollte mit ihr schlafen. Doch Marie fand seine Alkoholfahne und seinen Zustand abstoßend, also schubste sie ihn von sich.

„Marie, sei nicht so prüde! Du bist eine frigide Frau!“, hatte Johannes protestierend gelallt. Er schlief kurz darauf ein und schnarchte, während Marie mit Tränen in den Augen neben ihm lag. Am nächsten Tag entschuldigte er sich reumütig, aber tief in ihrem Inneren hatte Marie ihm nie verziehen. Vielleicht, weil es stimmt?

Emma lief hinter der Bühne vorbei und hörte den Gesang der Singing Ladys. Doch es war ihr einerlei, ob sie gut oder schlecht klangen. Sie konnte weder Melanie noch Marie sehen. Das hatte sie auch nicht erwartet, denn die beiden waren sicher schon auf dem Weg zurück ins Hotel.

Als Emma durch den breiten Flur ging, der am Konzertsaal vorbeiführte, schielte sie durch die offen stehenden Flügeltüren hinein. Ihr Blick glitt von hinten über die Publikumsreihen.

„Suchst du mich?“

Sie zuckte ertappt zusammen. Die bekannte raue Stimme war ganz nah an ihrem Ohr, ein heißer Lufthauch streifte ihren Nacken. Emma drehte sich langsam um. Riesen-Lars stand scheinbar gelassen vor ihr, er ließ in der rechten Hand einen Zimmerschlüssel baumeln. Doch sein Raubtierblick war alles andere als gelassen und wanderte zu ihrem tiefem Ausschnitt.

Emmas Mund öffnete sich, sie strich unbewusst mit der Zunge über ihre Lippen und musste schlucken, damit ihr der Speichel nicht aus dem Mund lief. Sie verbot sich, zu denken! Emma wollte wieder erleben, was sie in der letzten Nacht erlebt hatte.

Darum folgte sie Riesen-Lars wortlos, als er vor ihr her zum Aufzug schritt.

Sandra tätschelte Lillis Rücken: „Sch, sch, das wird schon wieder.“ Sie kramte in ihrer Handtasche nach einem Papiertaschentuch und reichte es ihrer Freundin.

„Neeein …“, schluchzte Lilli, bevor sie in das Taschentuch trompetete. „Auch wenn es stimmt, ich hätte das nicht zu Marie sagen dürfen. Sie kann ja nichts dafür, dass sie … so ist.“

„Ja“, meinte Sandra einsilbig, obwohl sie gerne erzählt hätte, wie oft sie Maries abschätzige Haltung ihr gegenüber gespürt hatte. Das beherrschte ihre Schwester gut – jemandem das Gefühl zu vermitteln, dass sein Verhalten unmöglich war.

Marie war wie eine jüngere Version ihrer Mutter, mit dem Unterschied, dass diese ihre Ansichten unverblümt äußerte: „Sandra, lach nicht so laut, das machen anständige Mädchen nicht! Sandra, das Kleid ist viel zu kurz! Was? Du hast schon wieder einen neuen Freund?“ Wenn ihr Vater nicht gewesen wäre, der seine jüngere Tochter stets als „meine kleine Prinzessin“ bezeichnete, hätte Sandra wohl Minderwertigkeitskomplexe bekommen. Ihr Vater kritisierte sie nie und half ihr, wenn sie Unterstützung brauchte.

Als Sandra und Rainer sich hatten scheiden lassen, hatte sie ihm das gemeinsame Haus überlassen, weil es neben Rainers Elternhaus gestanden hatte. Ihr Ex-Mann hatte das Sorgerecht für Lukas bekommen und Sandra musste als Abgleich keinen Unterhalt für ihren Sohn bezahlen. Ihr Vater kaufte daraufhin eine kleine Wohnung, in der Sandra kostenlos wohnen konnte. Sie musste nur für die Nebenkosten aufkommen. Die kleine Wohnanlage lag in der noblen Villengegend, in der auch Emma lebte.

„Eine Immobilie ist immer eine gute Wertanlage“, hatte er ihr erklärt.

Sandra arbeitete seit ihrer Ausbildungszeit als Krankenschwester, sie verdiente gut. Außerdem übernahm sie viele Nachtdienste, weshalb sie sich eine ordentliche Summe ansparen konnte – das Geld, das sie Dimitri geliehen hatte.

Nachdem Lilli sich beruhigt hatte, wollte Sandra wissen, was sie am Vorabend verpasst hatte. „Was war eigentlich gestern Abend los? Was ist passiert?“

Lilli berichtete ihr alles, was es zu erzählen gab. Doch für Emmas armseliges Lügenmärchen hatte sie auch keine Erklärung. Sandra war verblüfft. Gut, dass sich zwischen Melanie und Jens etwas anbahnte, war niemandem verborgen geblieben. Dass es Johannes mit seiner Auszeit ernst meinte und er nicht so schnell zurückkehren würde, war auch zu erwarten gewesen. Aber die Sache mit Emma?

„Emma ist einfach verschwunden?“, wiederholte Sandra Lillis Worte. „Sie hat nicht erzählt, wo sie war?“

„Nein! Außer ihrer lahmen Ausrede hat sie nichts erzählt! Wir waren alle ratlos.“ Lilli stürzte sich dankbar auf das Thema, um sich von ihrem schlechten Gewissen abzulenken. „Ich meine, wenn sie einen One-Night-Stand hatte, kann sie es doch zugeben. Sie betrügt ja niemanden. Wer sollte etwas dagegen haben? Ich würde es ihr gönnen.“ Sie fand ohnehin, dass Emma wie eine Nonne lebte.

„Ist schon merkwürdig, es kann nur etwas sein, was sie auf keinen Fall erzählen möchte!“, kombinierte Sandra das Offensichtliche. Was das wohl war?

„Vielleicht ist sie lesbisch?“ Lilli hatte wieder zu ihrer unverhohlenen Spontanität zurückgefunden.

„Meinst du? Das kann ich mir nicht vorstellen! Sie war doch eine Zeit lang mit diesem Tischler zusammen, der sie dann verlassen hat.“ Sandra konnte sich noch gut an die niedergeschlagene Emma erinnern.

„Das wäre nicht das erste Mal, dass jemand erst später darauf kommt, was er für Vorlieben hat!“, lautete Lillis freudscher Beitrag. „Vielleicht outet sie sich noch?“ Sie klang begeistert und stellte es sich interessant vor, eine lesbische Freundin zu haben.

„Bitte halte dich mit deiner Vermutung besser zurück.“ Sandra musste ihre Freundin bremsen, bevor diese später mit einer weiteren unbedachten Äußerung das nächste Drama auslösen würde.

Ihr Blick fiel auf Laura, die mit angezogenen Beinen auf einem Sessel kauerte. Arme Kleine – du wärst zu Hause vielleicht besser aufgehoben. Sandras Gedanken wanderten zu ihrem Sohn Lukas, der sich dazu entschieden hatte, bei seinem Vater zu leben. Viele Menschen in ihrem Umfeld hatten versucht, ihr deswegen ein schlechtes Gewissen einzureden. „Ein Kind gehört zu seiner Mutter! Wie kannst du nur nachgeben?“, hatte ihre Mutter geklagt. Auch Marie und ihre Chor-Freundinnen äußerten sich kritisch, weil Sandra Lukas’ Wunsch nachgab, anstatt um ihren Sohn zu kämpfen.

Es war eine harte Zeit für Sandra gewesen. Sie hatte sich wie eine Rabenmutter und Versagerin gefühlt. Aber was hätte sie tun sollen? Rainer war ausgerastet, als er von ihrer Affäre mit einem Assistenzarzt erfahren hatte, und Lukas war so enttäuscht gewesen, dass er lange Zeit nicht mehr mit seiner Mutter reden wollte. Doch Sandra wusste, dass Lukas bei seinem Vater gut aufgehoben war, und Rainer liebte seinen Sohn über alles. Irgendwann hatte sich ihr Verhältnis zu Lukas wieder normalisiert, er verbrachte jetzt jedes zweite Wochenende bei seiner Mutter.

Auch Lilli schien Lauras Anwesenheit wieder zu bemerken und meinte: „Na, Kleine, du denkst sicher: vom Regen in die Traufe.“ Sie beugte sich zu Laura und strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht. „Komm, wir fahren zurück in unser Hotel.“

Der Oberkörper der Frau hing schief über dem Tresen.

„Dieser blöde Barhocker, da sitzt man wie auf einer Schaukel …“ Sie nahm den letzten Schluck von einem weiteren Glas Hafenwelle und nuschelte dem Barkeeper entgegen: „Noch mal dasselbe!“

Der freute sich zwar, wenn seine Gäste teure Drinks bestellten, war aber nicht scharf darauf, dass jemand seinen Bartresen vollkotzte. Zudem war die Frau nicht gerade eine Gazelle, die man leicht anheben konnte, wenn sie umkippte.

Der Barkeeper hatte bald durchschaut, dass die Frau sich nur volllaufen lassen, aber nicht abgeschleppt werden wollte. Er machte seinen Job schon lange genug. Anfangs versuchten noch ein paar Typen in der Bar, bei ihr zu landen: „Hallo schöne Frau, darf ich dich einladen“ oder: „So allein, Süße?“

Die Große hatte alle Angebote abgelehnt. „Danke, hab schon genug Probleme!“

Der Barkeeper wäre dankbar gewesen, wenn sie sich auf einen Kerl eingelassen hätte. Dann würde ihm erspart bleiben, was er unausweichlich auf sich zukommen sah. Er blickte in ihre glasigen Augen. „Bist du sicher, dass du noch was verträgst, Süße? Ich glaub, ich ruf lieber ein Taxi! Schlaf dich aus, morgen sieht alles anders aus“, riet er seinem lallenden Gast.

„Nein! Nix sieht morgen besser aus! Ist dasselbe Drama wie heute!“, maulte die Betrunkene.

„Wo wohnst du denn? In einem Hotel? Sag mir die Adresse, ich ruf dir ein Taxi.“ Der Barkeeper gab nicht auf, Hafenwelle war verdammt harter Tobak.

Die Frau warf ihm einen wütenden Blick zu: „Wenn ich nix mehr krieg, dann geh ich halt woanders hin!“

Das wäre dem Barkeeper ohnehin am liebsten gewesen, aber leider kam ihre Entscheidung zu spät. Die Frau wollte sich vom Tresen wegschieben, damit sie aufstehen konnte. Sie verhakte sich jedoch mit den Beinen in den Fußstützen des Barhockers und kippte samt diesem um. Wumm! Mit einem lauten Poltern stürzte die Frau zu Boden, sie blieb dort regungslos liegen.

„Na, super!“, rief der Barkeeper genervt und lief um den Tresen herum.

Als Lilli und Sandra, gefolgt von Laura, ihr Hotelzimmer betraten, wartete ein leerer Raum auf sie. „Wo ist Melanie?“ Lilli blickte verwundert zu Sandra, die nur ihre Augenbrauen hob. Sie fragte kleinlaut: „Schaust du nach, ob sie bei Marie ist?“

„Sicher“, meinte Sandra achselzuckend, sie wählte die Nummer ihrer Schwester.

Marie nahm sofort ab und blaffte für alle gut hörbar: „Ja? Was ist?“

„Hallo, Marie.“ Sandra unterdrückte ihren Unmut: „Ist Melanie bei dir?“

Lilli beobachtete gespannt ihre Freundin, während diese stirnrunzelnd ihrer Schwester zuhörte. „Nicht, aha … und Emma? Auch nicht! Danke, Ma…“ Sandras Stimme brach ab, sie blickte pikiert auf ihr Handy.

Dass Marie einfach aufgelegt hatte, kümmerte Lilli im Augenblick aber nicht. „Was? Beide sind nicht da!“, rief sie. „Nicht schon wieder!“

Prosecco~Wellen

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