Читать книгу Prosecco~Wellen - Ursula Flajs - Страница 23

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Schwanengesang II

Nach dem Essen pilgerten sie wieder ins Hotel zurück. In der Gegend waren sie inzwischen bekannt, denn einige der Prostituierten machten gnädig Platz, damit die Frauen vorbeilaufen konnten. Endlich haben sie begriffen, dass wir ihnen keine Konkurrenz machen wollen. Melanie seufzte erleichtert. Obwohl sie bei genauerer Betrachtung nicht sicher war, ob das stimmte.

Mr. Fu Chang war noch im Dienst. „Bin elfleut, die Damen zu sehen!“, begrüßte er seine Gäste herzlich.

„Danke, das können wir nur zurückgeben“, bestätigte Lilli charmant. Sie hoffte, dass er sie nicht auf die nächtliche Suchaktion ansprach, über die ihn sein Kollege sicher informiert hatte. Aber Mr. Fu Chang war ein Gentleman.

Zu Melanies Nachfrage, ob eine Gesangsprobe auch um diese Zeit erlaubt sei, versicherte Mr. Fu Chang: „Natüllich – kein Ploblem! Del nebenan wohnende Hell hat sich schon intelessielt, wel die Damen sind.“

„Ah, ja“, antwortete Lilli verhalten und beschloss, nicht weiter darauf einzugehen. Es waren schon genügend Männer im Spiel, die den Chorausflug zu einer Seifenoper machten. Ihre Freundinnen schienen ähnlich zu denken, denn alle strebten eilig in Richtung Treppenhaus, während Mr. Fu Chang ihnen lächelnd nachwinkte.

Nach ein paar Aufwärmübungen sangen sie ihr Programm zweimal durch, wobei Laura ehrfürchtig zuhörte. Sie sagte: „Wow, ihr klingt wirklich gut!“

„Klar! Das tun wir!“, bestätigte Melanie und unterstrich das Ergebnis mit einem Daumen hoch für ihre Freundinnen. „Wir haben noch Zeit und müssen erst in zwei Stunden wieder beim Wettbewerb sein.“ Melanie gähnte. „Ich möchte mich ein wenig hinlegen, bevor wir aufbrechen. Was haltet ihr von einem Schönheitsschläfchen?“ Die Frage war rhetorisch, denn alle hatten Nachholbedarf und waren dankbar für diesen Vorschlag.

Nachdem Marie und Emma in ihr Zimmer gegangen waren, Laura sich auf das Sofa und Sandra sich in ihr Einzelbett gelegt hatten, schlüpften Melanie und Lilli einander zugewandt in das Doppelbett.

„Was für ein Dilemma …“, flüsterte Lilli.

„Was meinst du? Laura? Sandra? Emma? Marie? Mich …?“, flüsterte Melanie zurück.

„Alles ein bisschen viel, nicht?“, gähnte Lilli.

„Jaaa …“, hauchte Melanie und sank dank pizzageschwängerter Müdigkeit ins Land der Träume.

Melanie zupfte El Condor Pasa auf ihrer Westerngitarre und hörte in der Nähe das Echo einer E-Gitarre. Sie erblickte Jens, der mit seiner Gibson Les Paul neben ihr saß. Er grinste sie an und formte mit seinen Lippen einen Kussmund. Melanie kicherte, sie schickte ein Küsschen zurück.

Beide saßen im rotgoldenen Licht der tief stehenden Sonne, am Rand eines weiten Canyons. Melanie fühlte sich unendlich frei und hätte ewig so weiterspielen können.

Plötzlich fiel ein dunkler Schatten über die beiden. Ein riesiger Vogel – Melanie vermutete, dass es ein Condor sein musste – warf seinen Schatten über die Idylle. Der gewaltige Flügelschlag des Vogels zerzauste Melanies Haare und hämmerte laut in ihren Ohren. Das Glücksgefühl verebbte. Melanie blickte hilfesuchend zu Jens, doch der war verschwunden. Stattdessen flatterte der Condor an Melanies Seite und hob zu einem klagenden Schrei an. Er hatte Jakobs Gesicht.

„Uaaahhh …!“ Melanie raufte mit den Flügeln des Condors, damit endlich das dröhnende Hämmern aufhören würde.

„Au! Spinnst du? Schlag mich nicht, Melanie! Wach auf, wir haben verschlafen!“ Eine empörte Stimme riss Melanie aus ihrem Albtraum. Die Stimme gehörte Lilli, die unsanft an ihrer Schulter rüttelte. Melanie blinzelte. Sie sah, wie Lilli aus dem Bett sprang und in Richtung Zimmertür taumelte. Als sie die Tür aufriss, hörte auch das Hämmern in Melanies Kopf auf.

„Was ist los bei euch?“ Marie rauschte in ihrem blauen Etuikleid, gefolgt von Emma, die ebenfalls ausgehfertig war, ins Zimmer. „Das Taxi wartet unten schon!“

„Oje, wir haben verschlafen“, widerholte Lilli das Offensichtliche. „Wie spät ist es?“

„In einer halben Stunde müssen wir beim Wettbewerb sein!“ Marie blickte tadelnd auf ihre zerknitterten Freundinnen. Lillis Haare standen zerzaust ab und Melanie wischte sich ihren Sabber aus dem Mundwinkel.

Stöhnend rappelte sich Melanie aus dem Bett. „Ich hatte einen Albtraum! Wäääh …“ Sie schüttelte sich bei der Erinnerung an den Riesenvogel.

Laura und Sandra blinzelten ebenfalls benommen unter ihren Decken hervor, sie gähnten herzhaft. Doch Lilli war am schnellsten von null auf hundert und übernahm das Kommando: „Los! Sandra, du gehst rüber ins Bad von Marie und Emma! Melanie, ab in unser Bad! Ich ziehe mich inzwischen an, dann tauschen wir! Und Laura ist sowieso gleich fertig!“

Protestlos, weil Widerstand zu viel Mühe gekostet hätte, folgte Melanie Lillis Befehl, wobei sie ein gemurmeltes „Feldwebel“ nicht unterdrücken konnte. Sandra schnappte sich ihre Kleider, den Kosmetikbeutel und rauschte mit Maries Zimmerschlüssel aus dem Raum.

Laura, die in ihren Klamotten geschlafen hatte, verkündete: „Bin schon fertig!“, und band ihren Pferdeschwanz neu zusammen. Inzwischen war ihr klar, dass man sie nicht alleinlassen würde, aber sie freute sich auf diesen Ausflug. Laura sah keine Gefahr, dass sie jemand erkennen könnte, ihre Mutter sah sich nicht einmal Musiksendungen im TV an.

„Das ist der Vorteil, wenn man jung ist! In unserem Alter kann man ohne Make-up nirgendwo mehr hingehen“, meinte Lilli, nachdem sie in ihr Kanarienvogelkleid geschlüpft war. „Aber in dem muffigen Pulli kannst du nicht mitgehen“, stellte sie dennoch fest, als sie Laura musterte. „Sandra leiht dir sicher ein Oberteil. Die Kleidung von ihr passt dir am ehesten.“

Melanie hatte sich in Rekordtempo frisch gemacht, sie stürmte wohlduftend aus dem Bad. „Wie im Barockzeitalter – mit Parfum einsprühen, anstatt sich zu waschen!“, gab sie Lilli, die nun ins Bad eilte, auf ihren Weg mit.

Zehn Minuten später hastete das Sextett aus dem Gebäude und bestieg das wartende Großraumtaxi. Laura trug jetzt eine seidige rosafarbene Bluse, die Sandra ihr geliehen hatte.

Vor dem Hotel Zur goldenen Welle stoben alle fluchtartig aus dem Taxi, sodass der Fahrer spöttisch anmerkte: „Aber zahlen wollt ihr schon?“

„Nein, nicht unbedingt!“, gab Melanie zurück, als sie ihm den dank seiner Wartezeit horrenden Betrag zuwarf. Dann rannte sie ihren Freundinnen hinterher.

In der Hotellobby bremste ein reges Gedränge die rennende Gruppe ab und sie mussten sich erst einen Weg bahnen. Als sie endlich hinter der Bühne eintrafen, empfing sie ein aufgeregter Franco Monetta: „Endlich, meine Damen! Sie sind zu spät! Das geht nicht, wir haben einen fixen Ablauf und müssen uns auf Sie verlassen können!“ Er blickte alle der Reihe nach tadelnd an. „Da ist aber jemand dazugekommen“, stellte Franco Monetta fest, als seine Augen an Laura hängen blieben.

„Sie singt nicht mit!“, erklärte Lilli und fügte sicherheitshalber hinzu: „Sie ist eine Nichte von mir. Ich möchte, dass sie in der Nähe bleibt!“

„Ähm …, gut, kleines Fräulein“, meinte Franco Monetta händeringend, „aber bitte, stehen Sie nicht im Weg herum und stören Sie den Ablauf nicht!“

„Ja …“, hauchte Laura ehrfürchtig.

Melanies Blick schweifte inzwischen umher, aber sie konnte Jens nirgends entdecken. Vielleicht ist er nicht da? Seine Nachricht fiel ihr ein: „Bis heute Abend!“ Die Stimme der Vernunft sagte Melanie, dass es besser wäre, wenn sie ihn nicht mehr sehen würde, doch sie wusste gleichzeitig, dass sie sich nichts sehnlicher wünschte.

Franco Monetta scheuchte den Prosecco-Chor zum Einsingen in das letzte freie Probezimmer. Widerstrebend folgte Melanie ihren Freundinnen, während ihre Augen weiter die Umgebung nach Jens absuchten. Im Probezimmer musste sich Melanie zuerst sammeln, bevor sie ihr Amt als Chorleiterin ausüben konnte.

Sie waren kaum fertig mit ihrem Gesang, als jemand an die Tür hämmerte und eine tiefe Stimme rief: „Es ist Zeit!“

Melanies Herz machte einen Hüpfer, es pochte schneller. Jens! Da sie wie angewurzelt stehen blieb, öffnete Lilli die Tür. Im Türrahmen stand Melanies Objekt der Begierde – breitschultrig und ungeniert grinsend.

Nach einer verhaltenen Begrüßung verließen die Freundinnen im Gänsemarsch den Raum. Nur Melanie hielt sich zurück. Sie wartete, bis die anderen außer Sicht waren, dann ergab sie sich Jens’ Blick, der sich glühend in ihren Augen versenkte. Als Melanie mit letzter Selbstbeherrschung an dem großen Mann vorbeischlüpfen wollte, hielt er sie mit einem Arm zurück. Er drückte sie an den Türrahmen und küsste sie abrupt.

In einem ersten Impuls wollte Melanie ihn abwehren. Doch das Bedürfnis verschwand ebenso schnell, wie es gekommen war, und sie erwiderte den Kuss mit derselben Leidenschaft. Jens hielt sie mit seinen Armen gefangen, aber ihre Zungen tanzten Tango. Melanies ganzer Körper loderte, alle Bedenken verbrannten und pure Begierde erfüllte sie. So muss es letzte Nacht gewesen sein! Sie wünschte sich, Jens würde sie ins Zimmer zurückdrängen und mit allem beglücken, an was sie sich nicht mehr erinnern konnte.

„Jaaa …“, keuchte Melanie, als Jens die Hände unter ihren Po schob und sie an seine Hüften drückte. Sie spürte seine harte Erektion an ihrem Venushügel reiben.

„Melanie?“ Maries klare Stimme klatschte wie ein Kübel Eiswasser über die lustvolle Szene.

Jens ließ Melanie abrupt los, und wich einen Schritt in den Raum zurück, ohne aufzublicken. Sie ließ sein Shirt widerwillig zwischen ihren Fingern hindurchgleiten, zerrte aufgelöst an ihrem Kleid herum und registrierte Maries enttäuschten Gesichtsausdruck. Melanie erwiderte ihren Blick trotzig, doch sie schämte sich. Nicht, weil ihre Freundin sie ertappt hatte, sondern weil sie sich wünschte, Marie würde wieder verschwinden und sie mit Jens alleinlassen. Irgendwo in Melanie wurde eine rote Fahne hochgehoben: Jetzt reiß dich zusammen! Sie zuckte wie ein Fisch auf dem Trockenen.

„Du solltest kommen, wir sind gleich dran.“ Maries Stimme klang gleichmütig, sie blieb stehen und wartete.

Es kostete Melanie unendlich große Mühe, sich zu bewegen. Dann endlich stapfte sie an Marie vorbei, als wäre sie ein ferngesteuerter Zinnsoldat. Melanie bemerkte nicht, wie Jens von Marie mit einem eisigen Blick bestraft wurde.

Und sie hörte nicht mehr Maries Vorwurf: „Sie ist verheiratet!“

Und sie hörte nicht mehr Jens Erwiderung: „Sie ist erwachsen!“

Der Auftritt war ein Desaster. Im Nachhinein hätte niemand mehr sagen können, woran es genau lag.

Vielleicht daran, dass Melanie trotz Stimmgabel den falschen Ton vorgab oder dass sie alle Einsätze verpatzte. Oder daran, dass Maries Sopranstimme versagte und sie stattdessen wie eine Heulboje klang. Oder daran, dass Emma Riesen-Lars im Publikum entdeckte und bei Only you völlig aus dem Takt geriet. Oder daran, dass Sandra dem Drama nichts entgegensetzen konnte, weil sie vor Unsicherheit so leise sang, dass ihre Stimme kaum noch zu hören war.

An Lilli lag es sicher nicht! Sie war, wenn man es so nennen wollte, die ‚Rampensau‘ des Abends und gab ihr Bestes, um die gesangliche Disharmonie des Chores auszugleichen. Sie trällerte wie eine Nachtigall und versuchte, die Ehre des Prosecco-Chors zu retten. Doch umsonst. Wie ein elegischer Trauergesang, dachte Lilli nach dem letzten Ton erschüttert. Wir sollten uns auf Beerdigungen spezialisieren.

Der höfliche Applaus fiel entsprechend kläglich aus, Franco Monetta rang sichtlich um passende Worte: „Ja, das war interessant …“, stammelte er und ließ sich zu einem „manchmal läuft es nicht so, wie geplant“ hinreißen, sodass auch die musikalisch Unerfahrenen im Publikum den Flop mitbekamen.

Die Freundinnen flohen beschämt von der Bühne, wichen den hämischen Blicken des nächsten Chores aus und fanden erst in ihrem Proberaum Zuflucht. Doch nicht lange.

„Was war denn das?“, schimpfte Lilli mit ihren Chor-Freundinnen, kaum dass sie die Tür hinter der eingeschüchterten Laura zugeschlagen hatte. „Wozu haben wir geprobt? Dafür hätten wir nicht nach Hamburg kommen müssen! Wir können uns ja nirgends mehr blicken lassen!“

Dass sich die anderen nicht an ihrer Tirade beteiligten, machte Lilli noch wütender. Sie blickte ihre Freundinnen der Reihe nach finster an, bevor sie ihnen entgegenschleuderte: „Ihr mit eurer Vögelei – wie ein Haufen hormongesteuerter Teenager!“

Drei Köpfe duckten sich unter Lillis Worten, nur Marie reckte sich empört in die Höhe. „Jetzt mach mal eine Pause, Lilli!“, beschwerte sie sich. „Du braucht nicht alle in einen Topf zu werfen!“

„Ich weiß schon, Marie, du bist zu prüde zum Vögeln! Aber vermutlich die Einzige, der hemmungsloser Sex gut tun würde …“ Peng!!! Die Worte schossen aus Lillis Mund. Sie schienen wie in Zeitlupe in der Luft zu schweben, bevor sie Marie trafen. Lilli bereute ihren unüberlegten Ausbruch sofort, entsetzt machte sie einen Schritt auf ihre Freundin zu. Doch Marie hob abwehrend die Hände. Sie drehte sich auf dem Absatz um, griff nach ihren Sachen und verließ wortlos den Raum.

Die darauffolgende Stille war so laut, dass Emma das dringende Bedürfnis überkam, ihre Ohren zuzuhalten.

Lilli stand mit bleichem Gesicht da: „Das wollte ich nicht! Es tut mir so leid!“ Hilfesuchend wandte sie sich an Melanie. Aber ihre Freundin klopfte ihr nicht beruhigend auf die Schulter, sondern bedachte sie nur mit einem Das-musste-ja-mal-so-kommen-Blick. Sandra stand stumm neben Laura, die wippend auf einem Sessel saß und ihre Arme um die angezogenen Knie geschlungen hatte.

„Ich sollte ihr nachgehen“, krächzte Lilli.

„Ich glaube, du solltest mal gar nichts machen. Halt einfach den Mund! Und kümmere dich um Laura.“ Melanie schnappte sich ihren Mantel und verließ ebenfalls das Zimmer.

Emma betrachtete Lilli mitleidig, aber sie war zu aufgewühlt, um ihre Freundin zu trösten. Sie schlich mit einem kurzen „Bis später …“ hinaus.

Lilli blieb mit hängenden Armen stehen. Als sie in Sandras mitfühlende Augen sah, brachen alle Dämme. Die Tränen kullerten wie aus geöffneten Schleusen über ihre Wangen. Lilli wischte mit den Händen über ihr Gesicht, weshalb sich ihr Make-up zu einer grotesken Maske verwandelte. Laura musste an einen Zombie denken und duckte sich gruselnd. Sandra legte die Arme um ihre schluchzende Freundin.

Prosecco~Wellen

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