Читать книгу Prosecco~Wellen - Ursula Flajs - Страница 19
ОглавлениеReeperbahn-Wonnen
Jens erwartete sie beim Ausgang der U-Bahn-Station St. Pauli. „Was für eine Augenweide du bist!“, raunte er Melanie zu. Lilli und Sandra schenkte er ein beiläufiges Nicken. „Aber wenn ich mich nicht täusche, wart ihr vorher zu fünft?“
„Nein, da irrst du dich nicht!“, erklärte Melanie, „Marie will einen langweiligen Abend im Hotelzimmer verbringen. Und wir können froh sein, wenn Sandra nicht schon auf dem Weg nach Weißrussland ist.“ Jens sah sie verständnislos an, deshalb fügte Melanie hinzu: „Sie ist mit Dimitri unterwegs.“
„Hoffentlich weiß das Mädel, was es tut!“, meinte Jens.
„Das Mädel ist über vierzig und unbelehrbar.“ Melanie zuckte mit den Schultern.
„Nun, das soll uns nicht den Abend verderben!“ Jens schob seinen Arm bei Melanie unter, die sich das widerstandslos gefallen ließ. „Wir müssen über die Straße! Treffpunkt ist vor dem Wonnepool“, rief er.
Lilli kicherte: „Wie bitte?“
„Vor dem Wonnepool!“, wiederholte Jens und drückte Melanies Arm fester an sich. Eine Hitzewelle breitete sich in Melanie aus, sie ließ sich die Haare vor ihr Gesicht fallen. „Das ist ein Etablissement für Singles und Paare, mit Sauna und Whirlpool. Dort kann man sich nach Lust und Laune gegenseitig verwöhnen!“, klärte Jens seine Begleitung auf. Er legte seinen Arm um Melanie. Er konnte das machen, ohne seine Schulter heben zu müssen, und drückte sie eng an sich, sodass ihr Busen an seine harte Brust gequetscht wurde. Einen Augenblick lang überlegte Melanie, sich zu befreien. Doch sie hatte sich selten in ihrem Leben so gefühlt – klein und beschützt.
„Ist das ein Swingerklub?“, hörte Melanie Lilli fragen.
„Ja, so in der Art, ist noch ganz neu! Es ist aber auch professionelles Personal da und man kann hier übernachten. Wie gesagt: nach Lust und Laune!“, erklärte Jens und grinste Melanie unverschämt an.
Emma starrte mit offenem Mund auf das rot beleuchtete Gebäude. Lilli schubste ihre Freundin mit einem selbstzufriedenen Grinsen: „Ich habe es ja gesagt, wir werden noch einiges zu sehen bekommen.“
Emma wurde von einer Antwort enthoben, da Jens auf eine Gruppe deutete, die sich vor dem Wonnepool versammelt hatte: „Ich sehe Riesen-Lars – das ist unser Tourguide!“ Er steuerte auf die bunt zusammengewürfelte Ansammlung zu, die aus etwa einem Duzend Personen bestand und rief dröhnend: „Hallo, Riesen-Lars!“
„Hey, Jens!“ Ein riesiger Mann mit rotblonden Haaren hob winkend seinen Arm. „Na, da hast du aber ’nen reizenden Harem dabei!“, brüllte er, sämtliche Köpfe drehten sich zu den Neuankömmlingen um.
Lilli reckte trotzig ihr Kinn und funkelte den riesigen Lars an: „Sie meinen wohl unseren Bodyguard Jens!“
„Sicher, meine scharfzüngige Schöne“, beschwichtigte Riesen-Lars.
Melanie hatte sich aus Jens Umarmung gelöst, sie blickte finster auf den Tourguide. Was quasselte dieser Idiot bloß? Ich bin schließlich verheiratet, fiel Melanie ein, obwohl sie gleichzeitig versuchte, diese Tatsache zu ignorieren.
Emma musterte den Hünen verstohlen, doch Riesen-Lars zwinkerte ihr wissend zu. Und er blickte schamlos auf ihren aufreizend verhüllten Busen, der aus der offenen Jacke ragte. Emma senkte verlegen den Blick, aber tief in ihr kribbelte etwas wohlig.
„Nun denn, meine Herrschaften, starten wir! Also hier sind wir mitten auf der Reeperbahn und …“ Während Riesen-Lars seine Gruppe informierte, blickte Emma versonnen auf den Wonnepool. Sie stellte sich vor, wie es drinnen aussah und was sich dort gerade abspielte.
Emma war kein unbedarftes Pflänzchen, auch wenn ihre Freundinnen sie gerne so hinstellten. Aber mit Männern hatte sie wenig Erfahrung.
Ihr Stiefvater hatte ihr nicht erlaubt, auszugehen, bis sie achtzehn war. Und Emma hatte erst mit zwanzig ihre Jungfräulichkeit verloren – auf einer Party in einem Gartenhäuschen, das von Robert, so hieß ihr Erster, aufgebrochen worden war. Doch Emma hatte sich nicht hingegeben, weil sie unbedingt Lust darauf gehabt hatte, sondern weil sie endlich ihre Unschuld verlieren wollte. Die Männer, mit denen sie danach ausging, wurden meist von ihrem dominanten Stiefvater vergrault, für den keiner gut genug für ‚seine‘ Emma zu sein schien.
Als sie Micha kennenlernte, glaubte Emma, er sei der Mann fürs Leben. Micha kam aus dem Osten von Deutschland, war als Wandergeselle unterwegs und arbeitete als Tischler im Betrieb ihres Stiefvaters. Sie trafen sich heimlich, da Emma wusste, dass ihr Stiefvater die Beziehung zu einem Angestellten nicht geduldet hätte. Als ihr Stiefvater sie beim Küssen ertappte, warf er Micha raus und drohte Emma, die andeutete, mit ihm fortgehen zu wollen, dass sie nicht mehr zurückkommen müsse, falls die Beziehung mit Micha scheitern würde.
„Wir leben in einem sicheren Hafen!“, hatte ihre Mutter eindringlich auf Emma eingeredet, als sie sich weinend Rat holen wollte. „Dein Stiefvater hat uns aufgenommen und wir haben alles, was wir brauchen. Uns geht es gut! Du kennst Micha doch viel zu wenig und weißt nicht, was dich erwartet, wenn du mit ihm fortgehst.“
Emma trennte sich von Micha. Doch seine letzten Worte vergaß sie nie: „Du solltest dich abnabeln! Werde endlich erwachsen und lebe dein eigenes Leben!“ Aber Emma hatte zu viel Angst davor. Irgendwann gab sie es auf, sich mit Männern zu treffen, weil sie die Missbilligung ihres Stiefvaters und die stumme Furcht ihrer Mutter nicht ertragen konnte.
Dann erkrankte ihre Mutter an Demenz, Emmas freie Zeit schrumpfte. Ihr Stiefvater stellte eine neue Hilfe für das Büro ein und Emma übernahm auf seinen Wunsch hin die Betreuung und Pflege ihrer Mutter. Vor ein paar Jahren verstarb ihr Stiefvater. Von dem Erlös der verkauften Tischlerei und mit dem Pflegegeld konnten beide leben. Aber Emma war gebunden. Sie lebte in einem antiken Käfig und versuchte, die Geister der Vergangenheit zu verscheuchen.
„Emma! Wo bleibst du?“
Lillis Rufe weckten Emma aus ihrer Zeitreise. Sie verharrte noch vor dem Wonnepool, die Gruppe war inzwischen weitergelaufen. „Ich komm schon.“ Sie hastete den anderen hinterher.
Riesen-Lars grinste ihr anzüglich entgegen: „Na, meine Schöne? Ich garantier es – heute wird es noch heißer!“ Emma errötete zum x-ten Mal, bevor Lilli schützend den Arm um ihre Freundin legte und Riesen-Lars mit einem bösen Blick strafte. Dieser nuschelte etwas, das klang wie: „Medusenblick.“ Aber Lilli blieb bewusst still. Sie hatte noch die peinliche Situation auf dem Gehsteig vor Augen und wollte Melanie, die scheinbar an Jens Arm angeklebt war, nicht den Abend verderben.
Riesen-Lars erzählte Geschichten von Bierflaschen werfenden Bordsteinrivalinnen und Messerstechereien zwischen konkurrierenden Zuhältern. Er zeigte ihnen die Schauplätze und ließ eine Schnapsflasche kreisen, aus der trinken konnte, wer wollte.
Lilli ließ die Flasche vorübergehen, da sie Fieberblasen bekam, wenn sie sich vor etwas ekelte. Melanie, die gerne eingekehrt wäre, nahm einen kräftigen Schluck, während Jens ihr beeindruckt den Rücken tätschelte. Emma grauste es vor Schnaps, aber sie nippte tapfer an der Flasche und verzog schaudernd ihr Gesicht.
„So, meine Herrschaften! Jetzt geht’s ans Eingemachte!“, klärte Riesen-Lars seine Reeperbahn-Schäfchen auf, als sie vor einer Holzwand zu stehen kamen. „Wir müssen uns jetzt aufteilen! Hinter dieser Wand ist die Herbertstraße, die ist für Frauen tabu!“, verkündete er dröhnend. „Ich habe folgenden Vorschlag: die Damen kommen mit mir. Wir werden einen spannenden Klub besichtigen, dort etwas trinken und sicher Spaß haben. Die Männer gehen allein durch die Herbertstraße. Wir treffen uns in einer Stunde am hinteren Ende der Straße wieder.“
Ein paar Männer, die einheitliche Jacken mit dem Aufdruck: Kegelbrüder Alberthausen trugen, schubsten sich gegenseitig grinsend. Bei den anwesenden Paaren gab es Getuschel und Diskussionen. Eine junge Frau zankte mit ihrem Partner, weil sie nicht einsehen wollte, warum man für die kurze Strecke eine Stunde benötigte.
„Jetzt ist Toleranz angesagt, meine Damen! Gönnt euren Männern doch mal was! Ein bisschen Appetit für die Nacht holen, gegessen wird dann zu Hause!“, bellte Riesen-Lars in die Runde.
Lilli war neugierig, sie hörte nicht, was Riesen-Lars sonst noch erzählte. Sie fand es eigenartig, dass sie nicht hinter die Holzwand gehen durfte. So schlenderte sie langsam zu dem schmalen Durchgang, hinter dem sich die Straße verbarg und schaute hindurch. Wumm! Mit einem kräftigen Stoß, begleitet von unflätigen Worten, wurde Lilli von einer aufreizend gekleideten Frau mit exotischem Aussehen zurück hinter die Wand befördert. Sie war erschrocken und sprachlos – was zusammen selten vorkam. Die Umstehenden sahen sie teils belustigt, teils mitfühlend an.
„Was habe ich gesagt? Kein Zutritt für Frauen!“, rief Riesen-Lars der erbleichten Lilli zu.
„Das ist ja gemeingefährlich“, brachte Lilli über ihre Lippen. Doch Riesen-Lars ignorierte sie. Stattdessen bearbeitete er die unschlüssigen Männer: „Man kann doch was trinken in der Herbertstraße! Ist nicht verboten! Oder wollt ihr brav mit euren Frauen mittrotten?“
Riesen-Lars wusste, wie man Männer im wahrsten Sinn des Wortes bei den Eiern packte. Nach ein paar gemurmelten Schwüren trennte sich die Gruppe nach Geschlechtern auf. Jens schenkte der verdutzten Melanie ein schnelles Küsschen auf die Wange, bevor er ebenfalls hinter der Holzwand verschwand. Riesen-Lars blieb als einziger Mann bei den Frauen. „Ich muss meine Mädels doch beschützen!“, und er klopfte sich lachend mit der Faust auf die Brust: „Mir nach, meine Schönen!“
Die weibliche Karawane trottete hinter Riesen-Lars das Trottoir entlang. Lilli hatte sich von ihrem Schreck wieder erholt und zwickte Melanie in den Arm: „Na, du! Sind wir jetzt schon beim Küssen angelangt?“
Doch Melanie antwortete nur verächtlich: „Also, Lilli, ein harmloses Wangenbussi ist kein Küssen!“
„Ja, aber ein Anfang“, lästerte Lilli weiter.
„Ich weiß selbst, dass ich verheiratet bin!“, stellte Melanie klar, falls Lilli ihr deswegen auf die Nerven ging.
„Ich will dir keine Vorhaltungen machen und …“, verteidigte sich Lilli. Was sie sonst noch sagen wollte, ging in Riesen-Lars lautstarker Ankündigung unter: „So, da wären wir!“ Er deutete auf ein Gebäude, welches auf der anderen Seite der schmalen Gasse stand und seine Verputzschäden unter einem blutroten Anstrich tarnte. Die Fenster waren mit undurchdringlichen Gardinen verhangen, der Eingang von schwarz bemaltem Stuck umrahmt. Auf der dunklen Eingangstür prangte ein Griff aus Metall, der offensichtlich einen erigierten Penis darstellen sollte. Über dem Türstock hing ein Schild, auf dem: Zur Folterlust stand. Ein Raunen ging durch Riesen-Lars’ Gefolge. Einige der anwesenden Frauen kicherten, als sie den frivolen Türgriff sahen. Ein paar andere riefen „Wäää“ oder „Uiii“. Riesen-Lars war sichtlich stolz auf die Reaktionen seiner weiblichen Gruppe. Er schritt mit einem dröhnenden „Moin Moin!“ in das Gebäude voran.
Drinnen herrschte eine düstere Atmosphäre. Es war so dunkel, dass Emma auf Melanie prallte, weil diese plötzlich stehen geblieben war.
„Entschuldige, Melanie!“ Emma rieb sich die schmerzende Nase.
„Nichts passiert. Aber hier ist es dunkel wie in einer Höhle“, stellte Melanie fest.
„Eher wie in einer Hölle“, bemerkte Lilli schaudernd.
Langsam gewöhnten sich ihre Augen an die spärliche Beleuchtung und sie sahen auf der linken Seite eine Theke mit Hockern. Dahinter stand eine Barfrau mit hellblondem Haar. Sie trug eine schwarze Nietenkorsage, die ihren Busen so weit nach oben drückte, dass er jeden Moment herauszuspringen drohte. Sie lächelte den Neuankömmlingen einladend entgegen wie eine Marktverkäuferin hinter dem Gemüsestand. „Herzlich willkommen, meine Damen! Was darf es sein?“
„Sie können zuerst etwas trinken und dann eine Besichtigung machen oder umgekehrt. Wie Sie wollen!“, klärte Riesen-Lars die murmelnde Frauengruppe auf. Denn erst jetzt konnte man weitere Details des Etablissements erkennen, die für einigen Gesprächsstoff sorgten.
Lilli schubste Melanie und deutete auf einen riesigen Käfig, der in der Mitte des hohen Raumes von der Decke hing und knapp über dem Boden baumelte. Im Käfig waren Ledergurte angebracht. An den Wänden hingen düstere Gemälde, auf denen Männer und Frauen zu sehen waren, die sich bei Fesselspielen lustvoll quälten. In einer Ecke lehnte ein hochgestellter, mit rotem Lackleder ausgelegter Sarg, der ebenfalls mit Arm- und Fußfesseln versehen war. Ganz hinten im Raum befand sich eine schmale Treppe, die nach oben führte. Am Treppengeländer waren Ketten und Handschellen befestigt.
„Halleluja, das ist eine Bude!“, raunte Lilli in Melanies Ohr.
„Meinst du, der wird auch benutzt?“, fragte Melanie leise und deutete sich gruselnd auf den Sarg. Leider sprach sie nicht leise genug. Denn Riesen-Lars stand grinsend hinter den beiden. „Darauf könnt ihr wetten! Oben gibt’s noch mehr zu sehen! Das hier ist ein Sadomasoklub! Während der Führungen sind keine praktizierenden Kunden da. Später jedoch …“ Er schaute zu Emma, die irgendwie benommen wirkte.
„Wir werden uns allein umsehen!“, sagte Lilli selbstbewusst und stellte sich neben Emma.
„Aber sicher! Wie Sie wollen, schöne Frau!“ Riesen-Lars zuckte mit den Schultern. Er trat an die Theke, um sich mit der Barfrau zu unterhalten.
Einige aus der Gruppe waren bereits im oberen Stockwerk. Von dort hörte man Gekicher und erstaunte Ausrufe. Melanie, Lilli und Emma stiegen ebenfalls über die recht schmale steile Treppe nach oben.
„Genau richtig, um sich den Hals zu brechen!“, kritisierte Lilli naserümpfend.
„Ich könnte nicht runterfallen, ist kein Platz dafür!“, war sich Melanie sicher.
Doch die Einzige, der die Treppe wirklich hätte gefährlich werden können, war Emma. Sie drehte ständig den Kopf in alle Richtungen und hatte kein Auge für ihre Füße. Emma wusste nicht, ob sie angewidert oder fasziniert sein sollte. Oben angekommen bewegte sie sich hinter den anderen durch die verschiedenen Räume.
Melanie und Lilli zogen plaudernd weiter, doch Emma verharrte in einem Zimmer, in dem ein großes Metallbett stand. Auf einer schwarzen Kommode lagen neben riesigen Dildos Gegenstände, bei denen sie keine Vorstellung davon hatte, was man damit tun könnte. An einer Wand hingen Peitschen und Ledergurte, die mit verschiedenen großen Metalldornen besetzt waren. Ein Teil in Emma war entsetzt, aber ein anderer Teil war erregt, was Emma noch mehr verunsicherte. Sie stellte sich vor, wie sie auf dem Bett lag und wartete … Doch worauf? Ein heftiges Verlangen durchströmte Emma. Beschämt verließ sie den Raum – das hier war abartig! Ich bin doch nicht pervers?
Lautes Gekreische ihrer Freundinnen führte Emma in den nächsten Raum. Dieser war ähnlich wie eine gynäkologische Praxis eingerichtet. Neben dem Untersuchungsstuhl, an dem man die Beine festbinden konnte, lagen verschieden große Spekula auf einem Regal.
„Also ich möchte wissen, wem so etwas Spaß macht“, rätselte Lilli angewidert.
„Ja, ich auch. Ich bin jedes Mal froh, wenn ich es hinter mir habe, einmal im Jahr zum Frauenarzt reicht.“ Melanie schüttelte sich.
„Oh …, ja …“, sagte Emma lahm.
Lilli musterte Emma, die einen eigenartigen Ausdruck auf ihrem Gesicht hatte. „Sag bloß, das reizt dich?“, fragte Lilli. Sie kicherte, um die Scherzhaftigkeit ihrer Frage zu unterstreichen.
„Nein, nein. Was denkst du denn?“ Emmas Entrüstung klang halbherzig. Sie drehte sich um und verließ das Zimmer.
„Ich glaub, wir kennen unsere Emma nicht richtig“, raunte Lilli Melanie zu.
„Lass sie doch in Ruhe!“, verteidigte Melanie ihre Freundin. „Höchste Zeit, dass Emma was Neues sieht und erlebt. Die Arme ist doch ständig gefordert mit ihrer Mutter. Ist doch klar, dass das hier ein Riesenabenteuer für sie ist. Sei nicht so fies!“
Melanie ging aus dem Raum und ließ eine nachdenkliche Lilli zurück. Als Lilli ihren Moment der Reue erfolgreich verarbeitet hatte, folgte sie den anderen.
Nachdem die Freundinnen alles inspiziert hatten – eine mittelalterliche Folterkammer, in der sich Melanie für ein Foto in die eiserne Jungfrau stellte; eine Gruft mit einem offenen Sarkophag, in den Lilli frech ein Bein hielt, und einem Zimmer, dessen Wände mit allerlei Märchenfiguren in unzüchtigen Posen bemalt waren –, kehrten sie wieder über die steile Treppe in die Bar zurück. Offensichtlich waren sie die Letzten, denn sämtliche Augen waren auf sie gerichtet, als sie sich wieder zu ihrer Gruppe gesellten.
„Wir haben es überlebt“, beteuerte Melanie der wartenden Menge, „und wir haben Durst!“ Melanie bestellte eine Hafenwelle. „Ich brauche jetzt was Starkes!“
Emma und Lilli begnügten sich mit Weißweinschorle. „Die Nacht ist noch jung“, betonte Lilli, Emma nippte stumm an ihrem Glas.
„Wann treffen wir uns wieder mit den anderen?“, wagte eine junge Frau Riesen-Lars zu fragen. Sie blickte demonstrativ auf ihre Armbanduhr.
„Bald! Bald meine Damen! Jetzt trinken wir erst gemütlich aus. Die Männer sollen doch auch ihren Spaß haben!“ Der Hüne grinste ungeniert.
Man konnte der jungen Frau ansehen, dass ihr genau das Sorgen bereitete. Doch Riesen-Lars leerte gemütlich sein Bierglas und orderte unbeschwert ein neues.
Nachdem er das zweite Glas halb ausgetrunken hatte, erzählte er ein paar Anekdoten, die er angeblich selbst erlebt hatte. Von den Mädchen, deren Zuhälter er gewesen war, von Konkurrenten, die er hatte kaltstellen müssen und von einer Riesenprügelei vor der Davidwache, wo auch ein paar Polizisten was abbekommen hatten.
Wenn das alles wahr ist, müsste er normalerweise im Gefängnis sitzen, war sich Melanie sicher. An Lillis gerunzelter Stirn erkannte sie, dass ihre Freundin den gleichen Gedanken hegte. Emma hing gespannt an Riesen-Lars Lippen. Melanie fragte sich, ob sie sich täuschte, weil sie so etwas wie Bewunderung in Emmas Blick sah. Ich glaube, wir kennen Emma wirklich nicht richtig. Melanie würde ihre Freundin bei Gelegenheit einmal einem Verhör unterziehen.
Nachdem mehrere Frauen nun zum Aufbruch drängten, musste sich Riesen-Lars wohl oder übel erheben. Melanie leerte die zweite Hafenwelle in einem Zug und lief ihren Freundinnen nach.
„Ahhh! Die frische Luft tut gut!“ Melanie nahm im Freien einen tiefen Atemzug, ein paar Motorräder rauschten vorbei.
„Frische Luft, ja sicher“, stänkerte Lilli und blickte auf die blauen Dunstfahnen der Zweiräder. Trotzdem war sie froh, der Höllengrotte entkommen zu sein. Emma stakste gedankenverloren hinter ihren Freundinnen her.
„So, jetzt noch hier um die Ecke und …“, dröhnte Riesen-Lars, „da sind sie ja schon, die Männer!“
Die Männer erwarteten sie bereits am anderen Ende der auch hier mit einem Bretterverschlag abgetrennten Herbertstraße. Die meisten hatten ein Grinsen im Gesicht, ein paar wirkten verlegen. Aber Jens stand selbstbewusst vorne und winkte Melanie zu: „Wie hat es euch gefallen?“
„Das war vielleicht eine Bude!“, ließ Melanie verlauten. „Wie war es bei euch?“
„Nichts Neues!“, gab Jens gelassen zu.
Melanie war sprachlos. Sie war sich nicht sicher, ob Jens nur Spaß machte oder ob er seinen Kommentar ernst meinte. Aber sie ging von der zweiten Möglichkeit aus. Was für ein frecher Sack! Doch wenn Melanie ehrlich war, musste sie sich eingestehen, dass sie Jens für seine Direktheit bewunderte.
Die Kurzzeit-Strohwitwen gesellten sich wieder zu ihren Männern. Während ein paar mit ihren Partnern schäkerten, zankte sich die junge Frau, die zuvor zum Aufbruch gedrängt hatte, mit ihrem Freund. Worte wie „niveaulos“ und „abartig“ prasselten auf den jungen Mann ein, der genervt in den dunklen Himmel starrte. Daraufhin ließ sie ihn mit einem wütenden Schnauben stehen und lief grußlos davon. Nach einem entschuldigenden Blick in die Runde folgte der junge Mann seiner Freundin, beide waren bald im Menschengetümmel verschwunden.
„Also dann, meine Herrschaften!“ Riesen-Lars klatschte ungerührt in die Hände. „Jetzt mal zum Ehrenkodex. Kein Mann erzählt hier seiner Frau, was in der Herbertstraße passiert ist!“ Das zustimmende Nicken vonseiten der Männer und die gemurmelten Einwände der Frauen ignorierte Riesen-Lars gleichermaßen. Stattdessen hob er seinen Arm, obwohl das bei seiner Größe nicht notwendig gewesen wäre, und zeigte mit ihm nach vorne. „Alles mir nach! Auf geht’s zur Großen Freiheit!“
„Aber da waren wir gestern schon“, meckerte Lilli.
„Da gibt es noch mehr Lokale!“ Melanie lief bereitwillig hinter Riesen-Lars her, Jens legte seinen Arm um ihre Schultern. Lilli folgte ihnen mit gelangweiltem Blick und Emma tappte schweigsam hinterher.
Die Große Freiheit empfing sie mit Lärm und Getümmel. Ganze Menschenhorden waren unterwegs: eine singende Frauenpolterabendrunde in lila Tutus; eine Gruppe Männer, auf deren T-Shirts: Letzte Nacht in Freiheit stand, und die Krawatten mit einem Totenkopfmotiv umgehängt hatte; eine weitere Sightseeing-Truppe, die von einem Travestiekünstler angeführt wurde, der es in seinen Plateauschuhen locker mit Riesen-Lars’ Größe aufnehmen konnte und eine grölende Männermeute, die Shirts mit der Aufschrift: Feuerwehr brennt durch trugen.
„Wir gehen jetzt in die Heiße Grotte“, verkündete Riesen-Lars. Er deutete auf ein blinkendes Neonschild, das über einem höhlenähnlich gestalteten Eingang hing.
„Schon wieder so ein Loch!“, maulte Lilli.
„Dieses Loch hat Tradition! Es gehört zu den ältesten Lokalen in der Gegend!“, verteidigte er die Bar und musterte Lilli kopfschüttelnd, als wäre sie eine Kulturbanausin. Lilli zuckte gleichgültig mit den Achseln. Sie schob Emma, deren Augen an dem halbnackten Reintreiber im Lendenschurz hingen, vor sich her in die Heiße Grotte. Melanie ließ sich widerstandslos von Jens führen und freute sich bereits auf das nächste Getränk.
Im Inneren des Lokals war die Hölle los. Es war brechend voll und lautstarke Partymusik dröhnte den Neuankömmlingen entgegen. Von der Decke hingen stalaktitähnliche Gebilde, die ebenso wie das gesamte Lokal in rotes Licht getaucht waren.
„Hier dürfte man keinen Stier reinlassen!“, brüllte Melanie. Jens drückte sich an sie, als wäre er geschubst worden, und raunte ihr ins Ohr: „Der ist schon da!“ Melanie war so erstaunt, dass es ihr kurz die Sprache verschlug. Doch sie badete bereits in alkoholgetränkter Feierstimmung, also ignorierte sie Jens’ Bemerkung und fragte bloß: „Hafenwelle?“
„Gute Idee!“ Jens setzte seine stattliche Größe ein, um sich mit Melanie gemeinsam in Richtung Bar vorzuarbeiten, wo er zwei Hocker eroberte.
Inzwischen hatte Riesen-Lars seine restlichen Schäfchen an den letzten freien Tisch geführt, auf dem ein Reserviert-Schild stand. Als alle Platz nahmen, setzte sich Lilli neben Emma, doch der Tourguide quetschte sich mit einem rhetorischen „Na, ihr Süßen, darf ich?“ zwischen die beiden. „Muss das sein?“, nörgelte Lilli. Doch Riesen-Lars machte sich nicht die Mühe, zu antworten. Stattdessen winkte er der Kellnerin.
Melanie und Jens tranken inzwischen an der Bar ihre Hafenwelle. Sie steckten die Köpfe zusammen, um sich trotz des Lärms unterhalten zu können. Jens erzählte von der Band, in der er Gitarrist war. „Wir spielen Rock und alles, was uns Spaß macht. Wir sind viel unterwegs, treten bei Festivals auf, machen Gigs in Lokalen und sind bei größeren Konzerten schon als Vorgruppe aufgetreten.“ Melanie hing mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Wehmut an seinen Lippen: „Wow, toll!“
„Und du hast nie daran gedacht, mit Musik weiterzumachen?“, fragte Jens.
„Doch, am Anfang schon.“ Melanie starrte in ihr Glas. „Aber das hätte nicht funktioniert! Meine Mutter hat klargestellt, dass sie nicht auf meine Kleinen aufpasst, damit ich wieder aufs Musikkonservatorium kann.“ Sie erinnerte sich an ihre mahnenden Worte: „Du hast sie in die Welt gesetzt, also kümmere dich auch um deine Kinder!“
„Als meine Mädchen in den Kindergarten und die Schule gekommen sind, habe ich nochmal mit dem Gedanken gespielt, aber dann bin ich wieder schwanger geworden. Und das war es dann! Irgendwann ist halt die Luft raus. Und jetzt bin ich sowieso im Teelichtalter“, fügte Melanie resigniert hinzu.
„Du bist was?“ Jens prustete beinahe den Schluck Hafenwelle über Melanie, den er gerade genommen hatte.
„Na, im Teelichtalter! Das ist das Alter, wo man mit schummriger Teelichtbeleuchtung einfach besser aussieht“, klärte Melanie ihn auf, wobei sie ein Schmunzeln nicht unterdrücken konnte. Jens lachte laut auf, nahm Melanie aber gleich wieder ins Visier.
„Aber du bist eine sehr attraktive Frau und du bist im besten Alter! Wer sagt denn, dass du nicht mehr durchstarten kannst? Gib deine Träume nicht auf!“ Jens leidenschaftlicher Apell war Balsam für Melanies Seele. Sein Blick ruhte in ihren grauen Augen. Sie war schon lange nicht mehr so angeblickt worden.
Melanie liebte Jakob, aber das Prickeln in ihrer Beziehung war verschwunden. Ihr Sexleben hatte einen obligatorischen Charakter wie die Samstagsabendshows im Fernsehen. Ihre Gespräche drehten sich meist um die Kinder, das Haus oder was es im Garten zu tun gab. Es war schön, mit jemandem zu reden, der ihre Träume wahrnahm, der sie ermutigte. Und als Jens sich vorbeugte, um Melanie zu küssen, wich sie nicht zurück. Sie verscheuchte ihre letzten Bedenken und gab sich dem wundervollen Gefühl hin, begehrenswert zu sein.