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Super-GAU in St. Pauli

Marie starrte auf ihr Handydisplay. Es war bereits zweiundzwanzig Uhr. Sie lag auf dem Bett, nachdem sie zuvor stundenlang auf dem unbequemen Sessel neben der Kommode gesessen hatte. Marie spielte zuerst mit dem Gedanken, sich in die kleine Hotelbar zu setzen, aber sie wollte nicht für eine Frau auf Männerfang gehalten werden.

Als ihre Freundinnen aufgebrochen waren, hatte Marie Johannes eine Nachricht geschrieben, bis jetzt aber noch keine Antwort bekommen. Er arbeitete am Abend oft länger, auch am Freitag, aber um diese Zeit müsste er längst fertig sein. Warum antwortete Johannes nicht? Sonst reagiert er auch auf jeden Piepser seines Handys, ärgerte sich Marie.

Sie hatte lange überlegt, was sie schreiben sollte: „Wie geht es dir? Gibt es was Neues wegen der Weißenstein-Villa? Bist du schon ausgezogen? Oder: Warum hast du mich verlassen? Hast du vergessen, was du mir auf unserer Hochzeit versprochen hast? Ich werde dich glücklich machen und bis an mein Lebensende lieben!“

Die Hochzeit war Maries glücklichster Tag in ihrem bisherigen Leben gewesen. Mit zweihundert Gästen feierten sie an einem beliebten Ort für den gehobenen Anspruch: im Palast von Hohenberg. Marie trug ein schmal geschnittenes italienisches Designerkleid aus elfenbeinfarbener Spitze. Sie sah umwerfend aus. Die sechs Brautjungfern umrahmten die Braut in eleganten bordeauxroten Satinkleidern.

„Marie, ich bin so stolz auf dich! Du siehst aus wie eine Königin!“, waren die ersten Worte ihrer Mutter nach der Trauung gewesen. Ihr Vater drückte sie an sich und flüsterte: „Ich wünsche dir von ganzem Herzen, dass du glücklich wirst, meine Tochter!“ Sie fand die Worte ihres Vaters merkwürdig, denn sie war doch schon glücklich. Johannes hatte Marie stolz seinen Arbeitskollegen und seinem Chef vorgestellt, der große Stücke auf seinen ‚besten Mann‘ hielt. „Mit dieser Frau wirst du es weit bringen!“, hörte sie ihn sagen, als er Johannes gratulierte.

Marie schwebte den ganzen Tag über wie auf Wolken. Auch am Abend, als die Hochzeitsgesellschaft ausgelassener wurde, ließ sie nicht zu, dass etwas ihren Freudentag trübte.

Sandra flirtete hemmungslos mit einem Kollegen von Johannes. Marie bekam mit, wie dieser dem frisch angetrauten Ehemann zuraunte: „Also wenn deine Braut auch so eine heiße Nummer ist, kannst du dich freuen!“ Worauf Johannes, der schon einiges getrunken hatte, ihm etwas Unverständliches ins Ohr lallte. Der Kumpel klopfte grinsend auf Johannes Schulter: „Kann man alles anlernen.“

Eine Zeit lang blieb der Sessel ihres Vaters an der Tafel leer und eine der Brautjungfern fehlte beim Werfen des Brautstraußes. Aber ihre Mutter bemühte sich darum, die Gäste zu unterhalten, bis ihr Vater nach einer halben Stunde wieder auftauchte. Marie versuchte, den eisigen Blick zu ignorieren, den ihre Mutter ihrem Vater zuwarf, bevor sie wieder strahlend in die Menge lächelte.

Auch Marie behielt den ganzen Abend über ihre Haltung. Sie trank wenig und plauderte mit allen Gästen. Sie verhielt sich würdevoll – wie eine Königin.

Vor ein paar Stunden hatte Marie den Mut gefasst, Johannes zu schreiben, was ihr wirklich am Herzen lag: „Lass uns noch einmal darüber reden! Ich könnte früher nach Hause kommen! Soll ich schauen, ob ich morgen einen Flug bekomme? In Liebe, Marie.“

Die Nachricht enthielt die Aufforderung, dass Johannes heute noch antworten sollte. Leichte Gewissensbisse wegen des verpassten Finalauftrittes verdrängte Marie. Ihre Freundinnen mussten ohne sie singen, ihre Ehe war wichtiger!

Vielleicht hat Johannes die Weißenstein-Villa verkauft und feiert mit seinen Kollegen den erfolgreichen Abschluss? Vielleicht würde er Marie in Ruhe antworten, wenn er wieder zu Hause war? Sie war sich sicher, dass es so sein musste!

Marie beschloss, in der Zwischenzeit zu duschen. Sie nahm das Handy mit ins Bad und bemühte sich, ihre Abendtoilette so schnell wie möglich zu erledigen. Dann schlüpfte sie in ihrem Satinpyjama unter die Decke. Das Handy deponierte sie in Griffweite neben sich. Marie starrte darauf, bis ihre Lider schwer wurden und sie in einen unruhigen traumlosen Schlaf glitt.

Mozarts kleine Nachtmusik weckte sie. Johannes! Sie war sofort hellwach, tastete nach dem Telefon und blickte auf das Display, es war drei Uhr morgens. Aber es war nicht Johannes.

„Lilli …?“, krächzte Marie.

„Du musst sofort nachschauen, ob Melanie in ihrem Zimmer ist! Und ist Emma bei dir? Die sind beide verschwunden!“ Lillis Stimme klang panisch.

Marie rappelte sich benommen hoch, als ihre Freundin hastig schilderte: „Ich weiß nicht, wann sie weg sind! Ich war mit ein paar Leuten auf der Tanzfläche, wir haben vielleicht eine halbe Stunde getanzt. Als ich zurück zum Tisch kam, war Emma weg, ebenso wie Riesen-Lars. Und Melanie, die vorher mit Jens an der Bar gewesen ist, auch. Ich habe zuerst gedacht, sie sind mit den Typen zum Rauchen hinausgegangen. Nach einer Weile hab ich nachgeschaut, aber draußen war niemand. Habe von beiden keine Nachricht bekommen und sie reagieren nicht auf meine Anrufe! So ein Scheiß!“ Lilli brüllte nun.

„Jetzt beruhige dich, Lilli!“ Marie machte das Licht an, doch Emmas Bett war unberührt. Sie beschloss, schnell im Zimmer ihrer Freundinnen nachzusehen, bevor Lilli hysterisch wurde.

„Ich klopfe nebenan!“, sagte Marie und schlüpfte in ihre Flipflops. „Und wer ist denn Riesen-Lars?“

Marie streifte hastig ihre Jacke über. Auch wenn es mitten in der Nacht war, wollte sie keinesfalls nur im Pyjama durch den Flur laufen. Lillis Panik ging ihr nahe. Von der üblichen Selbstsicherheit ihrer temperamentvollen Freundin war gerade nichts zu spüren gewesen, und Lillis Beschreibung von diesem Riesen-Lars ließ nichts Gutes erahnen.

Sie eilte durch den Flur zum nächsten Zimmer. Unschlüssig stand Marie vor der Tür, sie legte ihr Ohr daran. Sollte sie anklopfen? Um diese Zeit? Zögernd tat sie es, aber hinter der Tür war kein Laut zu hören. Marie überlegte kurz, dann lief sie über die Treppe in den ersten Stock zur Rezeption.

Heute war wieder der Kollege von Mr. Fu Chang im Dienst. Er blickte Marie fragend entgegen: „Was kann ich für Sie tun, meine Dame?“

„Ähm …, ich brauche Ihre Hilfe“, stammelte Marie. Sie tadelte sich innerlich für ihre Unbeholfenheit. Auf keinen Fall wollte sie preisgeben, wie unangenehm ihr die Situation war. Sie gab sich beherrscht: „Ich würde gerne wissen, ob meine Freundinnen von Zimmer 303 bereits zurück sind. Ich kann sie telefonisch nicht erreichen. Könnten Sie bitte nachsehen?“

Der Nachtportier hob kaum merklich seine Augenbrauen: „Ich habe, seit ich im Dienst bin, keine von den Damen aus diesem Zimmer kommen oder gehen gesehen.“

Aha, wir sind bereits bestens bekannt. Seine überhebliche Art ärgerte sie. Deshalb hakte sie nach, obwohl sie die Antwort ahnte. „Aber möglicherweise haben Sie die Damen übersehen?“

„Ich kann Ihnen versichern, dass dies nicht der Fall ist.“ Der Nachtportier lächelte säuerlich.

Arroganter Kerl! Marie wünschte sich Mr. Fu Chang herbei. „Könnten Sie bitte nachsehen? Ich möchte nicht laut klopfen müssen, sonst wachen noch die anderen Gäste auf!“ Marie zog nun ihrerseits die Augenbrauen nach oben. Bei einem guten Portier hätte sie nicht darum betteln müssen!

„Nun ja, das wird vermutlich besser sein.“ Der Nachtportier erhob sich endlich und verschwand im Hinterzimmer. Mit einem klimpernden Schlüsselbund kam er wieder zurück. „Bitte sehr, nach Ihnen.“ Gnädig ließ er Marie, die in ihrem Pyjama ausnahmsweise gerne darauf verzichtet hätte, den Vortritt.

Als sie vor Zimmer 303 stehen blieben, klopfte der Portier kurz an. Nachdem keine Antwort kam, sperrte er die Tür auf. Doch wie Marie befürchtet hatte, herrschte in dem Hotelzimmer gähnende Leere. Auch der Nachtportier schien nicht überrascht zu sein. Er wartete auf Maries stummes Nicken, dann schloss er die Zimmertür wieder ab: „Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“

„Nein, danke!“ Marie drehte sich grußlos um und zog sich in ihr Zimmer zurück. Sie wählte Lillis Nummer.

„Ja, Marie! Und?“, stieß ihre Freundin hervor.

„Lilli, das Zimmer ist leer“, erklärte Marie mit zaghafter Stimme.

„Ich sitze im Taxi und bin in zehn Minuten im Hotel!“ Lilli klang wieder beherrscht. Marie brachte nur ein klägliches: „Hm …“, hervor.

Lilli war beunruhigter, als sie es zugegeben hätte. Es nützte jedoch niemandem, wenn sie auch noch die Nerven verlor. Aber wo waren Melanie und Emma? Nein, wo waren drei ihrer Freundinnen? Denn erst jetzt fiel ihr auf, dass sie seit dem Nachmittag auch von Sandra nichts mehr gehört hatte.

Ich fass es nicht – so was rücksichtsloses, verdrängte Lilli in Gedanken ihre Sorgen, bevor sie eilig den Fahrer bezahlte und aus dem Taxi stieg. Sie hastete über den Gehweg, da bemerkte sie eine Gestalt, die in einer dunklen Ecke auf dem Boden neben dem Hoteleingang kauerte. Lilli drückte schnell die Türglocke, um eingelassen zu werden, als die Person den Kopf hob. Ein tränennasses Gesicht blickte ihr entgegen.

„Laura …?“

Prosecco~Wellen

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