Читать книгу Prosecco~Wellen - Ursula Flajs - Страница 13
ОглавлениеKatzenjammer I
Obwohl sie darauf gewettet hätte, ihre Freundinnen zu hören, bekam Lilli nichts von deren Rückkehr mit. Als sie am Morgen die Augen öffnete und verschlafen nach ihrem Handy langte, lag die schnarchende Melanie neben ihr im Bett. Eine säuerliche Alkoholfahne umwehte sie. Es war bereits neun Uhr und Laura lag nach wie vor zusammengerollt auf dem Sofa. Doch Sandras Einzelbett stand unberührt an der Wand.
„Verdammt!“, schnaubte Lilli und schüttelte Melanie unsanft.
„Was? Nein …!“, protestierte Melanie und versuchte, sich die Decke über den Kopf zu ziehen. Aber Lilli kannte keine Gnade. Sie lieferte sich mit Melanie einen Zweikampf um die Decke und holte ihre Freundin endgültig aus dem Schlummerland.
„Wach auf, du Schlafmütze! Wo ist Sandra?“
„Was? Wo? Ah …!“ Melanie krächzte und blickte durch verquollene Augenschlitze in Lillis Richtung. Sie sah jämmerlich aus. Lilli verspürte Lust, ihr das direkt unter die Nase zu reiben.
„Wo ist Sandra!“, polterte Lilli noch mal.
„Bei Dimitri!“ Melanie tat, als wäre das die selbstverständlichste Sache der Welt.
„Warum hast du das zugelassen? Du weißt doch, wie Sandra ist! Womöglich ist sie schon auf einem Mädchenhändlerschiff unterwegs in Richtung Afrika oder auf dem Weg nach Russland, um dort zu heiraten!“ Lilli übertrieb absichtlich, weil sie dem unbändigen Drang nachgab, ihre verkaterte Freundin zu reizen.
„Mensch, Lilli, Mädchenhändler? Heiraten? Sandra ist über vierzig! Da kann sie wohl selbst entscheiden, was sie tun will“, tappte Melanie in die Falle. Sie verzog ihr Gesicht und griff sich an den Kopf. „Auuuweh … ich brauche Alka Seltzer!“ Melanie stemmte sich aus dem Bett und stakste in Richtung Bad, dabei hielt sie eine Hand über ihre lichtempfindlichen Augen.
Lilli starrte ihr wütend nach. Sie griff nach ihrem Handy und wählte Emmas Nummer. Nach einer halben Minute hörte sie Emmas verschlafene Stimme: „Lilli? Morgen, was ist?“
„Wo ist Sandra? Und warum hast du sie nicht aufgehalten?“ Lilli war in Fahrt.
„Sie wollte nicht mit uns ins Hotel! Ich hab’s versucht, aber sie wurde richtig zornig und hat gesagt, dass sie selbst entscheiden könne“, verteidigte sich Emma. „Hast du sie telefonisch nicht erreicht?“
Lilli griff sich an die Stirn: „Oh, nein! Entschuldige, Emma! Das mach ich sofort!“ Schnell wählte sie Sandras Nummer. Diesmal musste sie länger warten. Eine gut gelaunte Sandra kicherte in Lillis Ohr, während im Hintergrund eine Männerstimme irgendwelche russischen Koseworte gurrte.
„Guten Morgen, Lilli. Was gibt’s?“
Lilli sagte erst nichts. Ihre Wut verpuffte angesichts der Tatsache, dass es Sandra offenbar bestens ging. Trotzdem blaffte sie: „Danke, Sandra, mir geht es jetzt auch gut! Jetzt, da ich weiß, dass du noch lebst!“
„Ach, Lilli, mach mal halblang! Mir geht es super! Ohhhh … Dimitri, warte …“ Sandra keuchte kurz auf: „Äh, Lilli, ich bleibe noch ein bisschen. Ich melde mich später und …“ Der Rest von Sandras Worten ging in einem überraschten Aufstöhnen unter, bevor die Verbindung unterbrochen wurde.
Lilli blickte entrüstet auf ihr Handy. Dann warf sie es auf den Nachttisch. Ihr Blick fiel auf das Sofa, wo ein blaues Augenpaar über dem Rand der Decke hervorguckte. Sie hatte das Mädchen in der Hektik ganz vergessen.
„Guten Morgen, Laura. Hab ich dich geweckt? Sieht schon besser aus, dein Auge.“ Lilli schwang sich aus dem Bett und trat an das Sofa. „Wie geht es dir?“
„Danke, gut“, piepste Laura und blickte in Richtung Bad. Dort hörte man das Wasser rauschen und eine laute Stimme Atemlos schmettern.
„Die Singdrossel ist Melanie und in dem unbenützten Bett hätte Sandra schlafen sollen. Aber wie du vielleicht mitbekommen hast, hat sie woanders genächtigt“, klärte Lilli ihren Schützling auf. Laura nickte und zog die Decke enger um ihren Körper. Lilli setzte sich an den Rand des Sofas, wobei sie tief einsank. „Hast du überhaupt schlafen können?“, fragte sie behutsam das zierliche Mädchen.
„Ja, danke, gut. Sogar sehr gut!“ Laura brachte ein Lächeln zustande und blickte vertrauensvoll auf Lilli.
Die Tür zum Bad wurde aufgerissen. Melanie rauschte wohlduftend und in ein weißes Handtuch gehüllt ins Zimmer. Dann blieb sie abrupt stehen und starrte auf Laura. „Wer bist denn du?“ Ihr Blick wanderte von Laura zu Lilli und wieder zurück. Offensichtlich hatte sie die nächtliche Mitteilung von Lilli noch nicht gelesen oder sie hatte die Nachricht vergessen.
„Das ist Laura“, erklärte Lilli. „Marie und ich haben sie gestern Abend aufgelesen. Ich habe ihr angeboten, bei uns zu übernachten.“
Melanie fixierte zuerst Laura, dann wechselte sie einen stirnrunzelnden Blick mit Lilli. „Soso, hallo, Laura, ich bin Melanie.“ Sie nickte der eingeschüchterten Laura zu.
„Möchtest du jetzt ins Bad, Laura?“, fragte Lilli, während sie sich erhob. Laura nickte brav, krabbelte aus dem Hängesofa und huschte ins Bad. Danach klärte Lilli Melanie über die Ereignisse der vergangenen Nacht auf.
„Du nimmst irgendein fremdes Mädchen von der Straße mit? Vielleicht sucht sie jemand? Sie ist doch noch so jung!“ Melanie blickte vorwurfsvoll.
„Sie sagt, sie ist achtzehn!“, verteidigte sich Lilli.
„Ja, man merkt schon, dass du keine Kinder hast. Sie ist höchstens sechzehn!“ Melanie verdrehte ihre Augen.
„Ich glaube nicht, dass sie mit ihrem Ausweis herausgerückt wäre, wenn ich das verlangt hätte!“ Lilli war genervt. „Ich hab spontan reagiert! Ich konnte doch dieses Häufchen Elend nicht allein auf der Reeperbahn sitzen lassen!“ Sie starrte herausfordernd auf ihre Freundin.
Melanies Mutterinstinkt weckte andere Bedenken: „Sicher, du hast richtig gehandelt, aber vielleicht sucht ihre Mutter nach ihr?“ Melanie überkam plötzlich das dringende Bedürfnis, ihre eigenen Kinder anzurufen. Aber am Freitagvormittag waren Max und Simone in der Schule.
„Ich werde sie ein wenig ausfragen, wenn sie wieder herauskommt!“ Melanie bedachte die geschlossene Tür mit einem Röntgenblick.
„Nein, lieber nicht! Sonst sagt sie gar nichts mehr oder haut bloß ab.“ Lilli war gegenüber Melanies Verhörmethoden misstrauisch.
„Lass nur, ich bin schließlich Mutter! Ich weiß schon, wie das geht!“ Melanie schleuderte ihr Handtuch aufs Bett und bückte sich zu ihrem Koffer auf dem Boden, um nach Unterwäsche zu stöbern. Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihn auszupacken.
Lilli musste grinsen, als sie einen uneingeschränkten Blick auf Melanies nacktes Hinterteil und noch mehr sehen durfte. Daraufhin kramte Lilli ebenfalls in ihren Sachen. Sie fischte nach ihrer Lieblingsjeans und einem weißen Designer-Shirt. Melanie trug inzwischen eine schmale schwarze Stretchhose und zog sich eine schwarzweiß gemusterte Tunika über den Kopf. Lilli beobachtete, wie ihre Freundin große weiße Perlen in ihre Ohrlöcher steckte und ein passendes Armband überstreifte. Lilli fand, dass Melanie aus ihrem Typ das Beste machte.
Dann fiel Lilli ein, was sie noch wissen wollte. „Erzähl mal!“, forderte sie. „Wie war es gestern? Seid ihr noch lange geblieben?“
Melanie wirkte überrumpelt. Sie stammelte: „War noch super … viel Spaß …“, und musste auf einmal dringend etwas aus den Tiefen ihrer Handtasche fischen. Trotz des Ablenkungsmanövers registrierte Lilli die hektischen Flecken auf Melanies Gesicht. Sie grinste: „So, du Teenager! Und wie war es mit Jens?“
„Wir haben nur ein bisschen getanzt und noch was getrunken.“ Melanie blickte trotzig. „Weißt du, ich bin auch erwachsen!“
Lilli tätschelte besänftigend Melanies Schulter: „Weiß ich doch! Ich wollt dich nur ein bisschen …“ Sie verstummte, weil Laura gerade aus dem Bad kam.
Das Mädchen hatte ein Handtuch um sich geschlungen wie zuvor Melanie, nur bei ihr reichte es weit bis über die Knie. Sie schlich über den Teppichboden und hob ihre Kleidung auf, um ebenso leise wieder im Bad zu verschwinden.
„Brauchst du was Frisches zum Anziehen, Laura?“, rief Lilli ihr nach.
„Nein, danke!“, tönte es verhalten durch die geschlossene Tür.
Nach wenigen Minuten kam Laura fertig angezogen wieder heraus. Allem Anschein nach fluchtbereit, wollte sie in ihre Jacke schlüpfen, als Melanie ihr Vorhaben umsetzte. „Komm her, Laura, setz dich erst mal!“ Sie hatte sich auf das kleine Sofa sinken lassen, das nun noch bedenklicher durchhing. Trotzdem klopfte Melanie mit der Hand auf die Sitzfläche. Laura blieb nichts anders übrig, als sich neben sie zu quetschen. Sie musste sich schräg halten, um nicht mit ihrem Körper auf Melanie zu rutschen.
Melanie schien das nicht zu bemerken. Sie musterte Lauras Gesicht und legte sanft ihre Finger neben das verletzte Auge: „Wer hat dir das angetan?“ Ihre Stimme war streng und umsichtig zugleich. Lilli bewunderte sie dafür. Laura öffnete den Mund, schloss ihn aber gleich wieder. Lilli musste an einen Fisch im Aquarium denken. Doch Melanie gab nicht nach: „Na, sag schon, Laura! Von selbst ist das nicht gekommen.“ Sie intensivierte ihren forschenden Blick.
„Es … es war Jürgen! Der Scheißkerl! Ich hab ihm gesagt, er soll mich in Ruhe lassen. Da hat er mich angeschrien und gesagt, ich sei auch nur eine Schlampe wie meine Mutter und ich soll mich nicht so anstellen. Dann ist er auf mich zugekommen und ich habe eine Bierflasche nach ihm geworfen. Und dann hat er zugeschlagen … ins Gesicht und ich hab nach der alten Stehlampe gegriffen und sie ihm entgegengeschleudert … und dann waren überall Scherben. Ich bin abgehauen und ich hab nicht gewusst, wohin, weil Mama kann mir auch nicht helfen …, weil sie ein Junkie ist, und ich bin den ganzen Tag herumgelaufen, nie lang an einem Ort geblieben, damit mich Jürgen nicht findet … und ich hab gedacht, auf der Reeperbahn sind die ganze Nacht Leute unterwegs, da wird mir nichts passieren … und dann hat sie mich gefunden!“ Mit einem Aufschluchzen deutete Laura auf Lilli. Gleichzeitig gab sie den Sicherheitsabstand neben Melanie auf und sank in ihre fürsorglich ausgebreiteten Arme.
„Sch…sch…sch…“ Melanie wiegte sie wie ein Baby und streichelte über ihr Haar.
Lilli keuchte aufgebracht: „So ein Arsch und was ist das für eine Mutter, die ihr Kind nicht beschützt? Wir sollten sofort die Polizei informieren und …!“
Doch Lillis Tirade wurde von Laura unterbrochen: „Nein! Keine Polizei! Dann muss Mama ins Gefängnis und ich muss in ein Pflegeheim!“ Laura brach ab, weil ihr bewusst wurde, dass sie zugegeben hatte, mit ihrer Altersangabe gelogen zu haben.
„Kleine, glaubst du, ich habe dir die achtzehn Jahre abgenommen?“, stellte Melanie klar. „Wie alt bist du denn wirklich?“
„Sechzehn …“, gestand Laura kleinlaut.
„Egal, wie alt sie ist! Wir können doch nicht einfach nichts tun!“ Lilli trommelte mit den Fingern zornig auf den Nachttisch.
Bevor Melanie antworten konnte, wurde sie von einem Klopfen an der Tür unterbrochen. Lilli öffnete und ließ Marie, gefolgt von Emma, eintreten.
„Guten Morgen, alles in Ordnung?“ Marie blickte sich fragend um.
„Jaaa … so weit …“ Melanie schob Laura etwas von sich, strich ihr das tränenfeuchte Haar aus der Stirn und sagte: „Geh und wasch dir das Gesicht, danach gehen wir frühstücken.“ Laura nickte brav und verschwand mit einem unsicheren Seitenblick auf die zwei Neuankömmlinge im Bad. Melanie nützte die Gelegenheit, um Marie und Emma zu berichten, was sie von Laura erfahren hatte.
„Die arme Kleine!“, sagte Emma voller Mitleid.
„Glaubt ihr, es stimmt, was sie sagt?“ Marie hatte Bedenken.
„Warum sollte sie uns was vorlügen?“ Lilli schüttelte ihren Kopf. „Sie hat erst nicht mitkommen wollen und jemand muss sie schließlich geschlagen haben!“
„Ja, aber was jetzt?“, hob Marie an, „was sollen wir mit ihr machen? Hast du dir das schon überlegt?“
„Nein, Marie, ich hab keine Ahnung und keinen Plan!“ Lilli klang genervt, weil sie ahnte, dass ihr noch Diskussionen bevorstanden. Dafür hakte sie bei Maries Achillessehne nach: „Und? Hast du schon was von deiner Schwester gehört?“
„Emma hat mich schon aufgeklärt“, erwiderte Marie kühl. Das musste man ihr lassen: So schnell brachte sie nichts aus ihrer Ruhe.
Lilli bereute ihren Kommentar ohnehin und erklärte versöhnlich: „Ich habe bereits mit Sandra telefoniert. Sie ist mit Dimitri zusammen und kommt später.“
„Natürlich.“ Marie blickte gelassen auf ihre schön manikürten Fingernägel.
„Hauptsache, es geht ihr gut“, fand Emma versöhnliche Worte.
„Jetzt lasst uns erst mal frühstücken und dann überlegen wir weiter. Ich könnte ein ganzes Spanferkel verdrücken!“ Melanies Appetit nach einer durchzechten Nacht war legendär.
„Ich hoffe, dass es auch etwas anderes gibt“, meinte Marie lakonisch.
Melanie ignorierte Marie und rief in Richtung Badezimmer: „Laura? Alles okay? Komm, wir gehen frühstücken!“
Die Tür öffnete sich und Laura schlüpfte heraus: „Bin schon da!“ Sie hatte sich die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und machte, abgesehen von ihrem rot umrandeten Auge, einen ganz passablen Eindruck. Melanie legte einen Arm um Lauras Schulter und erklärte dem verwundert dreinblickenden Mädchen: „Na dann los, das Spanferkel wartet!“