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Chorprobe I

„Halleluuuuujaaaaa …“

„Mensch, Lilli, brüll nicht so! Du klingst, als wärst du ein Reintreiber auf dem Rummelplatz!“ Melanie zupfte genervt an den Saiten ihrer Gitarre, bereute es aber umgehend. „Autsch! Ich glaub, ich krieg wieder einen Riss auf der Kuppe! Bin froh, dass ich nächste Woche beim A-cappella-Wettbewerb nicht spielen muss.“ Sie tauchte ihren Daumenin das Glas mit Prosecco und steckte ihn in den Mund: „Desinfizieren“, nuschelte sie in die Runde.

„Ich glaub, das nennt sich eher betäuben“, kicherte Sandra in ihr Glas.

„Wieso kreisch ich? Du hast doch gesagt, zum Schluss müssen wir anschwellen!“, beschwerte sich Lilli.

Melanie schnaubte: „Zwischen Anschwellen und Kreischen ist aber ein Unterschied! Du hast von Natur aus eine laute Stimme. Sing einfach leiser, dann klingt’s schöner.“

„Aber …“ Lillis Erwiderung wurde von einem „Plopp“ unterbrochen. Emma schenkte aus einer neuen Flasche Prosecco nach.

„Bitte nicht so voll! Ich muss noch fahren“, sagte Marie. Sie wirkte heute abwesend und streifte eine undisziplinierte Haarsträhne hinter ihr Ohr zurück.

Nachdem sich alle mit einem Schluck Prosecco gestärkt hatten, spielte Melanie die ersten Takte, bevor die Freundinnen das Lied anstimmten.

„Now I`ve heard there was a secret chord, that David played and it pleased the …“

Auf einmal, als wären vier Batterien gleichzeitig leer gelaufen, verstummte eine Stimme nach der anderen, bis nur noch ein bestürztes Schweigen über dem Tisch hing. Alle Augenpaare waren auf Marie gerichtet, die nicht mitgesungen hatte. Sie hielt sich die Hände vors Gesicht und ein dumpfes Schluchzen drang zwischen ihren Fingern hervor. Das Ticken der alten Kaminuhr mischte sich mit Maries Weinkrampf, während über dem Tisch fassungslose Blicke getauscht wurden. Und wahrscheinlich, weil ausnahmsweise keine ihrer Freundinnen einen Ton herausbrachte, berichtete Marie mit erstickter Stimme, was sie eigentlich niemandem erzählen wollte.

„Johannes … hat … w…w…will mich … verlassen! Er hat es mir heute ge… gesagt, er übernachtet bei einem Freund!“ Marie schniefte und kramte in ihrer Prada-Handtasche nach einem Taschentuch. Dann schnäuzte sie sich alles andere als damenhaft.

„Was? Wie? Verlassen! Warum?“ Obwohl ihre übliche Redegewandtheit zu wünschen übrig ließ, fand Lilli noch vor den anderen, die mit offenen Mündern auf Marie starrten, ihre Sprache wieder.

„Johannes meint, wir hätten uns entfremdet, und er will eine Auszeit, damit wir uns beide Gedanken darüber machen können, wie es weitergehen soll.“ Marie hatte sich wieder gefangen und versuchte, ihre verbliebene Würde mit einer aufrechten Sitzposition zu untermauern.

„Eine Auszeit nehmen! Aber wovon?“, hakte Lilli nach.

„Wir sind jetzt fünfzehn Jahre zusammen! Da lebt man sich schon mal auseinander!“ Marie schaute trotzig auf ihre ungebundene Freundin.

„Jaaa, aber warum?“ Lilli ließ sich nicht so leicht einschüchtern. Sie hob ihre Augenbrauen und blickte vielsagend in die Runde.

Marie kräuselte die Lippen und schnippte einen imaginären Fusel von ihrer eleganten Bluse. „Du glaubst, er hat eine andere?“ Ihre Stimme klang eisig. Sie konnte in den Gesichtern ihrer Freundinnen lesen, dass jede von ihnen den gleichen Gedanken hegte.

„Nein! Das glaube ich nicht!“, stieß Marie hervor. Sie hatte alles, was ein Mann sich nur wünschen konnte: gutes Aussehen, Stilsicherheit, gute Umgangsformen. Warum sollte er eine andere wollen?

Marie fixierte die Tischplatte, als wären Tarotkarten darauf ausgebreitet. „Es wird sich wieder einrenken!“ Ihre Worte klangen wie eine Beschwörung und der Ausdruck auf ihrem Gesicht verriet, dass das Thema für sie erledigt war. Marie tupfte ihre Augenwinkel ein letztes Mal ab, dann steckte sie das feuchte Taschentuch wieder ein.

Ihre Freundinnen warfen sich ratlose Blicke zu, aber keine sprach aus, an was alle dachten. Die Ehe des scheinbar perfekten Johannes und seiner ebenso perfekten Marie war allen suspekt.

Emma fasste sich als Erste wieder: „Aber dann ist die Reise nach Hamburg ja genau das Richtige. Das tut dir gut – du wirst sehen.“ Ihre Stimme holte alle aus den Grübeleien. „Ja, Marie, wir lassen es uns gut gehen.“ Melanie hob aufmunternd ihr Glas. „Lass ihn doch, den Scheißkerl!“, wagte Lilli zu sagen und prostete Marie zu. „Dort gibt es sicher ganz tolle Männer!“, war Sandra zuversichtlich.

Während alle aus ihren Gläsern tranken, wurde die schlürfende Stille durch ein hohles Krächzen unterbrochen: „Emma! Aufs Klo …!“

Vier mitfühlende Augenpaare richteten sich augenblicklich auf Emma, die aufsprang, eine Taste auf dem Babyfon drückte und rief: „Mama, ich komm sofort!“ Das Gerät stand wie ein Fremdkörper auf der antiken Anrichte.

„Tut mir leid! Bin gleich wieder da, Mädels.“ Emma huschte hinaus.

„Wäh! Grausig! Ich könnte das nicht! Und dann noch in diesem Befehlston!“ Lilli blickte angewidert in die Runde.

„Ihre Mama ist dement, Lilli! Sie weiß wahrscheinlich nicht mal, wo sie ist. Aber es ist gut, dass sie noch Emmas Namen kennt“, erklärte Sandra, die erfahrene Krankenschwester. Aber auch sie war dankbar, wenn betreuungsintensive Patienten, so wie Emmas Mutter, wieder in ihre vertraute Umgebung entlassen wurden.

„Ja, und es haben auch nicht alle so ein Honigleben wie …“, wagte Melanie anzumerken, bevor sie demütig auf Lillis Ausbruch wartete.

„Du meinst, wie ich? Ja, ich habe keinen Mann und keine Kinder, um die ich mich kümmern muss, aber dafür eine depressive Mutter, das ist doch auch was!“ Sie funkelte Melanie empört an.

„Tut mir leid, Lilli, aber heute war zu Hause wieder die Hölle los! Max wollte partout nicht mit seinem blöden Computerspiel aufhören und Simone hat Manuel den Laufpass gegeben, obwohl sie immer noch in ihn verliebt ist. Sie hat die ganze Zeit geheult! Es ist so anstrengend, wenn Jakob einmal nicht da ist.“ Melanie seufzte und war froh, dass ihr Mann selten in die Zentrale von der Bank reisen musste, in der er arbeitete. Sie hob entschuldigend ihr Glas.

Lillis empörter Ausdruck verschwand: „Na gut! Trinken wir auf jede Menge Spaß in Hamburg, den können wir alle gut gebrauchen!“

Als Emma bald darauf wieder zurückkam, öffnete sie eine weitere Flasche Prosecco und die Freundinnen stießen zuversichtlich auf eine schöne Chorreise an.

Sie ließ sich beschwipst auf das Bett fallen. Es war spät geworden, aber sie war noch nicht müde. Durch das geöffnete Fenster strömte kühle Nachtluft ins Zimmer. Der Mond zauberte tanzende Schatten an die Wand, als der Wind durch die Zweige der alten Eiche vor dem Fenster fuhr.

Ihr war heiß, obwohl sie nackt war. Der Alkohol trieb ihr den Schweiß aus allen Poren. Sie warf die Bettdecke zur Seite und blickte auf ihre feuchten Schenkel, die hell im Mondlicht schimmerten.

Während sie seine Nummer wählte, schoben sich die Finger der anderen Hand an die pulsierende Stelle zwischen ihren Beinen. Ihre Lust ließ ihr keinen Platz für ein schlechtes Gewissen.

Und als hätte er auf ihren Anruf gewartet, nahm er sofort ab.

„Johannes, ich bin’s.“

„Ja, meine Süße.“

„Ich hab Sehnsucht nach dir. Magst du noch kommen?“

„Sicher, ich komm garantiert noch!“ Er lachte heiser: „… bis gleich.“

Prosecco~Wellen

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