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3. Kapitel:Grundlagen und Grenzen der europäischen Integration
Оглавление75Zur Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland gehört wesentlich die europäische Integration. Bereits in der Präambel heißt es, dass das Deutsche Volk sich das Grundgesetz „von dem Willen beseelt“ gegeben habe, „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa“ dem Frieden der Welt zu dienen. Die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union hat inzwischen eine solche Intensität erreicht, dass die Integration – insoweit den Staatsstrukturprinzipien vergleichbar – das gesamte Verfassungsrecht prägt. Der Text des Grundgesetzes gibt die Verfassungswirklichkeit nur noch unvollständig wieder. Ohne Grundkenntnisse des Standes der europäischen Integration lässt sie sich nicht mehr erfassen.1 Vor diesem Hintergrund war es richtig und stimmig, im Zusammenhang mit der Ratifikation des Vertrages von Maastricht durch Neufassung des Art. 23 GG die Grundlagen und Grenzen der europäischen Integration ausdrücklich auszuweisen.2
76Die Strukturanforderungen des Art. 23 Abs. 1 GG erinnern an die Homogenitätsklausel, die Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG für die Länder enthält. Allerdings ist zu betonen, dass mit Art. 23 Abs. 1 GG keinesfalls bundesrepublikanische Staatsstrukturen zum Maßstab der weiteren Entwicklung der Europäischen Union gemacht werden sollen. Die Begriffe sind in europäischer Perspektive und nicht (inner)staatsrechtlich auszulegen. Trägt man diesem Unterschied Rechnung, ist der Vergleich insoweit zulässig, als es in beiden Fällen darum geht, die Vereinbarkeit von Verfassungsordnungen verschiedener Ebenen sicherzustellen.3
77Zusätzlich zu den in Art. 20 GG genannten Eigenschaften demokratisch, rechtsstaatlich, sozial und föderal (anstelle von Bundesstaat) nennt Art. 23 Abs. 1 GG das Subsidiaritätsprinzip, das für die Kompetenzverteilung zwischen EU und Mitgliedstaaten grundlegend ist4 (vgl. Art. 5 Abs. 3 EUV), sowie einen dem Grundgesetz im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz.5 Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG bestimmt zudem ausdrücklich, dass „für die Begründung der Europäischen Union sowie für Änderungen ihrer vertraglichen Grundlagen und vergleichbare Regelungen, durch die dieses Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt wird oder solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht, Art. 79 Abs. 2 und 3 GG“ gelten. Damit ist einerseits der Vorrang des Unionsrechts (Anwendungsvorrang) auch vor Verfassungsrecht anerkannt, andererseits dieser Vorrang an die Bedingung geknüpft, dass der grundgesetzliche Verfassungskern gewahrt6 und die Strukturanforderungen des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG von der Europäischen Union eingehalten werden. In der Entscheidung zum Vertrag von Lissabon spricht das Bundesverfassungsgericht von der Verpflichtung zur Wahrung der Verfassungsidentität.7 Für die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Integrationsgrenzen bei der Übertragung von deutscher Hoheitsgewalt auf die Europäische Union sind innerstaatlich aufgrund des Demokratieprinzips nicht nur die Bundesregierung, sondern vor allem auch der Bundestag und der Bundesrat verantwortlich (Integrationsverantwortung8).
Mit der Gestattung zur Übertragung von Hoheitsrechten enthält Art. 23 Abs. 1 GG also einerseits die Grundlage zur Mitwirkung an der Schaffung einer supranationalen, dh. autonomen und in den Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbaren Rechtsordnung;9 der Text verdeutlicht aber auch, dass es sich um eine auf den Bereich der übertragenen Hoheitsrechte begrenzte Rechtsordnung handelt.10 Während die Landesverfassungen und das Landesrecht sich nach Maßgabe und im Rahmen der Bundesverfassung und des Bundesrechts entfalten, enthält das europäische Primärrecht keinen Rahmen für die mitgliedstaatlichen Verfassungen.11 Vielmehr entfaltet sich die supranationale Rechtsordnung nach Maßgabe und im Rahmen der Kompetenzen, auf deren supranationale Ausübung die Mitgliedstaaten sich geeinigt haben. Die Mitgliedstaaten sind die Herren der Verträge.12 In diesem Sinne ist die supranationale Rechtsordnung abgeleitet und begrenzt auf die Gegenstände der vertraglichen Einigung.13 Hieraus folgt, dass es in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten Bereiche gibt, zu denen das supranationale Recht keinen Zugang hat. Der EU fehlt die „Kompetenz-Kompetenz“.14 Aus diesem Grund führt eine Kollision zwischen Unionsrecht und nationalem Recht auch nicht zur Unwirksamkeit, wie Art. 31 GG für das Verhältnis von kollidierendem Bundes- und Landesrecht anordnet, sondern nur zum Anwendungsvorrang im Einzelfall.15 Zu betonen ist aber auch, dass kein einzelner Mitgliedstaat in Bezug auf den Inhalt der Verträge die Interpretationshoheit hat.16 Insoweit ist die supranationale Rechtsordnung autonom.17
78Das dargelegte Verhältnis zwischen den Rechtsebenen findet seine Entsprechung im Verhältnis zwischen dem Gerichtshof der Europäischen Union und dem Bundesverfassungsgericht. Das Bundesverfassungsgericht überprüft die Einhaltung des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG bei der Übertragung von Hoheitsrechten,18 also insbes. die Wahrung der Verfassungsidentität sowie das Bestehen eines im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutzes (Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG). Zur Wahrung der Grenzen der übertragenen Hoheitsrechte (vgl. Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG), dem unionsrechtlich das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 EUV korrespondiert, behält es sich zudem eine ultra-vires-Kontrolle vor, das heißt es beansprucht ggf. zu prüfen, ob sich Rechtsakte der EU im Rahmen der übertragenen Hoheitsrechte halten. Aus Gründen der Unionsfreundlichkeit nimmt das Bundesverfassungsgericht diese Kontrolle aber zurück auf „strukturelle Verschiebungen im Kompetenzgefüge zulasten der Mitgliedstaaten“.19 Zudem kommt dem Gerichtshof der Europäischen Union notwendig der Vorrang bei der Auslegung und Beurteilung des Unionsrechts zu, so dass dieser vorab Gelegenheit zur letztverbindlichen Auslegung und Entscheidung darüber haben muss, ob das von den Unionsorganen gesetzte Sekundärrecht die Grenzen des Primärrechts (der Verträge) wahrt.20 Zum Konflikt kann es kommen, wenn der Gerichtshof der Europäischen Union das Primärrecht, für dessen Auslegung er ebenfalls letztverbindlich zuständig ist, in einer Weise interpretiert, dass das Bundesverfassungsgericht dadurch die Verfassungsidentität beeinträchtigt oder die Grenzen der übertragenen Hoheitsrechte in relevanter Weise überschritten sieht, es also einen ultra-vires-Akt des Gerichtshofs annimmt.21 Dieser Konflikt ist auf der Ebene des Rechts nicht lösbar; er ist durch ein (informelles) Kooperationsverhältnis zwischen Europäischem Gerichtshof und nationalen Verfassungsgerichten vermeidbar und kann letztlich nur auf der politischen Ebene bereinigt werden.
79Auffällig ist, dass das Textänderungsgebot des Art. 79 Abs. 1 GG in Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG keine Erwähnung findet. Der Grund dafür ist schlicht Unmöglichkeit.22 Das europäische Primärrecht enthält in erster Linie Kompetenzgrundlagen für das Tätigwerden der Unionsorgane. Als solche beschränken sie die Kompetenzen, die im Grundgesetz niedergelegt sind, ohne diese jedoch zu beseitigen.23 Eine Integration von wesentlichen Teilen des Vertragstextes in das Grundgesetz ist jedoch angesichts der unterschiedlichen Regelungssystematik praktisch nicht durchführbar. Sofern allerdings ausnahmsweise unionsrechtliche Änderungen des Verfassungsrechts punktuell sind und daher im Verfassungstext ausgewiesen werden können, ist aus dem Rechtsgedanken des Art. 79 Abs. 1 GG durchaus eine entsprechende Verfassungspflicht zur Textänderung zu folgern.24 Tatsächlich haben durch Unionsrecht bewirkte Verfassungsänderungen an einigen wenigen Stellen des Grundgesetzes ausdrücklich Niederschlag gefunden:
– Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG – Auslieferung an einen Mitgliedstaat der Europäischen Union25,
– Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG – kommunales Wahlrecht für Unionsbürger (vgl. Art. 22 Abs. 1 AEUV),
– Art. 88 Satz 2 GG – Übertragung von Aufgaben und Befugnissen auf die Europäische Zentralbank (vgl. Art. 127 ff. AEUV).26
Hiervon zu unterscheiden sind die Regelungen, die der europäischen Integration organisatorisch und prozedural Rechnung tragen wie Art. 23 Abs. 1a–7, Art. 45, 50 und 52 Abs. 3a GG oder Art. 104a Abs. 6 GG.27
Rechtsprechung: BVerfGE 73, 339 – Solange II; 89, 155 – Maastricht; 113, 273 – Europäischer Haftbefehl; 123, 267 – Vertrag von Lissabon; 126, 286 – ultra vires; 129, 124 – Griechenlandhilfe Euro-Rettungsschirm; 134, 366 – OMT – Vorlagebeschluss; 140, 317 – Identitätskontrolle; 142, 123 – OMT-Urteil; 154, 17 – PSPP-Programm der EZB; EuGH, C-6/64, Slg. 1964, 1251 – Costa/ENEL.
Literatur: C. Herrmann, Der Vertrag von Lissabon – ein Überblick, Jura 2010, 161; F. Mayer, Der Vertrag von Lissabon im Überblick, JuS 2010, 189; M. Nettesheim, Die Integrationsverantwortung – Vorgaben des BVerfG und gesetzgeberische Umsetzung, NJW 2010, 177; M. Polzin, Das Rangverhältnis von Verfassungs- und Unionsrecht nach der neuesten Rechtsprechung des BVerfG, JuS 2012, 1; I. Schübel/K. Kaiser, Das Lissabon-Urteil des BVerfG vom 30.6.2009 – Ein Leitfaden für Ausbildung und Praxis, JuS 2009, 767; W. Weiß, Die Integrationsverantwortung der Verfassungsorgane, JuS 2018, 1046.
Fallbearbeitungen: K. Koch/T. Ilgner, Referendarexamensklausur – Öffentliches Recht: Mangold, Lissabon, Honeywell – Von der Rechtsfortbildung des EuGH zur Ultra-vires-Kontrolle durch das BVerfG, JuS 2011, 540.