Читать книгу Staatsrecht I - Ute Mager - Страница 64
2.3.2Die Umrechnung der Wählerstimmen auf die Verteilung der Parlamentssitze
Оглавление114Maßgeblich für die Verteilung der Parlamentssitze sind die Ergebnisse der Verhältniswahl. Im Falle einer reinen Verhältniswahl in einem Einheitsstaat wäre die Umrechnung der Wählerstimmen für die einzelnen Parteien auf die Verteilung der Parlamentssitze eine verhältnismäßig einfache Proportionalrechnung, auch wenn diese nach unterschiedlichen Verfahren mit unterschiedlichen Auswirkungen für die jeweiligen Reststimmen, die sich nicht zu einem Parlamentssitz summieren, durchgeführt werden kann.84 Unabhängig von den Proportionalverfahren kompliziert sich die Berechnung allerdings erheblich dadurch, dass zum einen die Zuteilung der Sitze innerhalb einer Partei nach Maßgabe der auf die jeweiligen Landeslisten entfallenden Stimmen, zum anderen die Personalisierung, also die Anrechnung der durch Direktwahl errungenen Wahlkreise, erfolgen muss.
115Bis 2008 fand die Zuteilung der Sitze in dem Zweischritt „Oberverteilung“ und „Unterverteilung“ statt. Zunächst wurden die gemäß § 1 Abs. 1 BWahlG vorgeschriebenen 598 Sitze gemäß dem von den Parteien errungenen bundesweiten Anteil auf diese verteilt (Oberverteilung). Sodann wurden die einer Partei zugewiesenen Sitze auf deren Landeslisten verteilt (Unterverteilung). Auf die Zahl der Sitze wurden die durch Direktwahl in den Wahlkreisen dieses Bundeslandes errungenen Mandate angerechnet. Hierbei konnte sich ergeben, dass eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate gewonnen hatte als ihr Sitze nach den landesweit abgegebenen Zweitstimmen zustanden. Diese Überhangmandate blieben bestehen.
116Die Gründe für die Entstehung solcher Überhangmandate sind vielfältig.85 Grundsätzlich lässt sich sagen, dass die Wahrscheinlichkeit der Entstehung von Überhangmandaten steigt, wenn eine Partei mit einer verhältnismäßig geringen Zahl von Erststimmen Direktmandate erringen kann, denen gemessen am Bundesdurchschnitt verhältnismäßig wenig Anteile an den Zweitstimmen gegenüberstehen. Dies kann etwa eintreten infolge von Stimmensplitting, geringer Wahlbeteiligung oder bevölkerungsarmen Wahlkreisen sowie durch die Zunahme der Kandidatenzahl im Wahlkreis.
117Das Auftreten von Überhangmandaten nahm seit 1990 in erheblichem Umfang zu und führte auch zu dem Effekt des negativen Stimmengewichts: Ein Zuwachs an Zweitstimmen nützt nichts, solange diese nur auf die ohnehin vorhandenen Direktmandate angerechnet werden. Im Verhältnis der Landeslisten derselben Partei zueinander kann eine Verringerung der Stimmen der einen Landesliste aber zu einem zusätzlichen Sitz einer anderen Landesliste führen. Solange die Stimmenzahl nicht für die Bundesverteilung zwischen den verschiedenen Parteien relevant wird, kann auf diese Weise ein zusätzliches Mandat (ein Überhangmandat) durch Verschiebung eines Parlamentssitzes von einer Landesliste in eine andere Landesliste erreicht werden.86 Derartige Effekte sind nicht ohne weiteres planbar, lassen sich also nur sehr begrenzt strategisch einsetzen87, treten aber auch nicht nur ganz ausnahmsweise auf.88 Fest steht, dass sie sowohl gegen den Grundsatz der Erfolgswertgleichheit wie auch gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl verstoßen.89
118Unabhängig von dem Effekt des negativen Stimmengewichts ist es nicht mit dem Charakter der Verhältniswahl vereinbar, wenn Überhangmandate dazu führen, dass die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag nicht den Mehrheitsverhältnissen nach den Zweitstimmen der Wähler entsprechen.90 Das Bundesverfassungsgericht hat zudem – dezisionistisch und deshalb nicht wirklich überzeugend91 – eine Obergrenze festgesetzt, bei deren Überschreiten das Auftreten von Überhangmandaten nicht mehr mit dem Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit vereinbar sein soll. Diese Obergrenze entspricht etwa der Hälfte der Fraktionsstärke.92
119Nachdem die vom Gesetzgeber gesuchte Lösung des Problems – sehr vereinfacht gesprochen – durch Umkehrung von Oberverteilung und Unterverteilung93 – sich als untauglich erwies und daher wiederum vor dem Bundesverfassungsgericht scheiterte,94 griff der Gesetzgeber mit der Wahlrechtsnovelle vom 3.5.2013 nunmehr zum Mittel der Ausgleichsmandate, womit eine Vergrößerung des Bundestags in Kauf genommen wurde.
120Die Umrechnung der Wählerstimmen auf die Sitzverteilung gemäß § 6 BWahlG sieht – vereinfacht dargestellt – nunmehr folgendermaßen aus:95 In einem ersten Schritt wird die Gesamtzahl der Sitze nach § 1 Abs. 1 BWahlG, also 598, im Verhältnis zu der jeweiligen Bevölkerungszahl auf die Bundesländer verteilt. Bei der Ermittlung der Bevölkerungszahl werden Ausländer nicht mitgezählt, Minderjährige aber schon, was unter dem Gesichtspunkt der Wahlrechtsgleichheit solange unproblematisch ist, wie keine Tatsachen die Annahme erschüttern, dass das Verhältnis von erwachsenen und damit wahlberechtigten Deutschen und minderjährigen und damit nicht wahlberechtigten Deutschen in den Bundesländern im Durchschnitt gleich ist.96 Sodann werden in jedem Land die abgegebenen Zweitstimmen den jeweiligen Landeslisten der Parteien nach dem Berechnungsverfahren Sainte-Laguë/Schepers zugeordnet. Entstehen hierbei Überhangmandate, so bleiben diese erhalten. Durch Zusammenrechnung sämtlicher Listenmandate plus etwaiger Überhangmandate ist die Mindestzahl der einer Partei zustehenden Bundestagssitze ermittelt. Dieses Ergebnis wird in einem zweiten Schritt an den bundesweiten proportionalen Zweitstimmenanteil jeder Partei angepasst. Maßgebend ist dabei die Partei mit den meisten Überhangmandaten. Die anderen Parteien erhalten die zur Herstellung des Proporzes nötigen Ausgleichsmandate. Steht auf diese Weise die Verteilung der Sitze auf die Parteien auf der Bundesebene fest, verbleibt die Aufteilung dieser Sitze auf die Landeslisten, wobei auf jede Partei in jedem Land mindestens so viele Sitze entfallen, wie sie Direktmandate errungen hat.
Zur Eindämmung der Überhangmandate sollen durch ein erneutes Änderungsgesetz folgende Modifikationen vorgenommen werden: Die Zahl der Wahlkreise wird von 299 auf 280 reduziert; mit dem Ausgleich von Überhangmandaten wird erst nach dem dritten Überhangmandat begonnen und durch Anrechnung von Wahlkreismandaten auf Listenmandate der gleichen Partei in anderen Bundesländern wird der Aufwuchs zusätzlich gedämpft.97
Literatur: H. Holste, Demokratie wieder flott gemacht: Das neue Sitzzuteilungsverfahren im Bundeswahlgesetz sichert das gleiche Wahlrecht, NVwZ 2013, 529; J. Krüper, Wahlrechtsmathematik als gesetzgeberische Gestaltungsaufgabe, Jura 2013, 1147; W. Schreiber, 50 Jahre Bundeswahlgesetz – Rückblick, Ausblick, DVBl. 2006, 529.