Читать книгу Staatsrecht I - Ute Mager - Страница 60
2.2.4Gleichheit der Wahl
Оглавление106Von größter praktischer Bedeutung ist der Grundsatz der gleichen Wahl. Während der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl den Zugang zur Wahl, das „Ob“ des Wahlrechts betrifft, bezieht sich die Wahlrechtsgleichheit auf die Art und Weise, das „Wie“ des Wählens und Gewähltwerdens. Jeder soll sein aktives und passives Wahlrecht in möglichst gleicher Weise ausüben können.45 Verboten sind insbesondere Differenzierungen in der Stimmenzahl oder Stimmengewichtung nach Einkommen, Vermögen oder Höhe der Besteuerung, wie dies etwa nach dem preußischen Drei-Klassen-Wahlrecht bis 1917 der Fall war.46 Wahlrechtsgleichheit verlangt daher in Bezug auf das aktive Wahlrecht zumindest den gleichen Zählwert für jede Wählerstimme. Zur Sicherung der Zählwertgleichheit müssen Wahlen auf Wahlfälschungen und Stimmauszählungsfehler überprüft werden können.47 Der Einsatz von manipulierbaren Wahlcomputern stellt daher eine verletzungsgleiche Gefährdung des Grundsatzes der Wahlrechtsgleichheit dar.48
107Weitere Anforderungen hängen von dem jeweiligen Wahlsystem ab: In einem Mehrheitswahlrecht erstreckt sich die Gleichheitsanforderung auf den Zuschnitt der Wahlkreise;49 in einem Verhältniswahlrecht muss jeder Stimme grundsätzlich auch der gleiche Erfolgswert zukommen.50 In Bezug auf den Erfolgswert erlaubt allerdings auch das Verhältniswahlrecht Einschränkungen, sofern sich diese „aus der Natur des Sachbereichs der Wahl der Volksvertretung ergeben“.51 Die 5 %-Sperrklausel gemäß § 6 Abs. 3 Satz 1 BWahlG, wonach bei der Verteilung der Sitze auf die Landeslisten nur die Parteien berücksichtigt werden, die mindestens 5 vom Hundert der im Wahlgebiet abgegebenen gültigen Zweitstimmen erhalten haben, soll der Zersplitterung des Parlaments in viele kleine Gruppen entgegenwirken und ist daher zur Sicherung der Arbeitsfähigkeit des Parlaments gerechtfertigt. Dies gilt jedenfalls für ein Parlament, auf dessen mehrheitliche Unterstützung die Regierung für ihre Arbeit angewiesen ist. Die Einführung einer Eventualstimme für den Fall, dass die über die Hauptstimme mit Priorität gewählte Partei die Sperrklausel nicht überwindet, führt zu Problemen im Hinblick auf die Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl und zu einer erheblichen Verkomplizierung des Wahlvorgangs, so dass sie verfassungsrechtlich nicht geboten ist.52 Im Zusammenhang mit Kommunalwahlen hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Eigenschaft als Landesverfassungsgericht für Schleswig-Holstein (Art. 93 Abs. 1 Nr. 5, 99 GG) die landesrechtliche 5 %-Sperrklausel dagegen für verfassungswidrig erklärt. Wesentlicher Gesichtspunkt war dabei, dass mit der Einführung der Direktwahlen für Bürgermeister und Landräte ein entscheidender Grund für die wahlrechtliche Sicherung stabiler Mehrheitsverhältnisse entfallen war. Da daneben keine hinreichende Wahrscheinlichkeit für die Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit von Gemeindevertretungen oder Kreistagen plausibel gemacht werden konnte, gab es keine Rechtfertigung für die Beeinträchtigung der Erfolgswertgleichheit.53
Die im Rahmen des EP-Direktwahlakts54 durch das Europawahlgesetz geregelte Wahl zum Europäischen Parlament sah ebenfalls eine 5 %-Sperrklausel vor. Diese hielt das Bundesverfassungsgericht zunächst mit dem bekannten Argument, die Sperrklausel sei zur Sicherung der Funktionsfähigkeit des Parlaments erforderlich, für verfassungsgemäß.55 Dieser Entscheidung aus dem Jahr 1979 lag allerdings noch keine Erfahrung hinsichtlich der Arbeitsweise und Arbeitsfähigkeit des gewählten Europaparlaments zugrunde. In seiner Entscheidung aus dem Jahre 2011 führte die Anwendung desselben Maßstabs auf dieselbe Rechtsfrage, namentlich Art. 21 Abs. 1 GG iVm. Art. 3 Abs. 1 GG, da Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG nur auf Bundestagswahlen Anwendung findet, nunmehr unter Verweis auf die bestehenden Erfahrungen mit der Arbeitsweise des Europäischen Parlaments zu einer anderen Bewertung. Angesichts stabiler überparteilicher Fraktionsbildungen einerseits und der Präsenz von mehr als 160 Parteien andererseits führe die Aufhebung der 5 %-Klausel in Deutschland nicht zu einer Zersplitterung, welche die Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments gefährden könnte. Eine geringfügige Erschwernis genüge nicht. Dies gelte umso mehr, als das Europäische Parlament nicht die Funktion habe, eine Regierung zu bilden und laufend zu stützen.56 Mit der gleichen Begründung verwarf das Bundesverfassungsgericht auch die vom Gesetzgeber daraufhin erlassene 3 %-Sperrklausel für die Wahl zum Europäischen Parlament.57 In den Sondervoten zu beiden Entscheidungen wird zurecht kritisiert, dass die tragende Mehrheit dem Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers zu enge Grenzen zieht58, zumal der EP-Direktwahlakt in Art. 3 Satz 2 den Mitgliedstaaten die Einführung einer Sperrklausel bis zu 5 % ausdrücklich erlaubt.59
108Die Grundmandatsklausel des § 6 Abs. 3 Satz 1 Alternative 2 BWahlG, wonach unabhängig von der 5 %-Hürde auch die Parteilisten bei der Verteilung der Parlamentssitze zu berücksichtigen sind, die drei Wahlkreise (Direktmandate) errungen haben, ist zur „Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes“60 gerechtfertigt. Auch unvermeidbare und geringfügige Ungleichheiten im Erfolgswert, die aus der Entscheidung für ein bestimmtes Wahlsystem folgen, sind hinnehmbar, wenn die Wahl des Wahlsystems wiederum gute Gründe für sich hat. Dies entschied das Bundesverfassungsgericht zunächst auch für das Auftreten von Überhangmandaten als Folge der Entscheidung für ein personalisiertes Verhältniswahlrecht.61 Mit zunehmender Zahl von Überhangmandaten war das Phänomen allerdings immer schwerer zu rechtfertigen. Das Problem wird offensichtlich, wenn Überhangmandate in einer Zahl auftreten, dass sie nicht mehr nur die Mehrheit stärken, sondern sogar eine mehrheitsbildende Funktion erlangen können. Denn dann wird der Charakter der Verhältniswahl, wonach die Partei, welche die Mehrheit der Wählerstimmen erlangt hat, auch die Mehrheit der Parlamentssitze erhält, unterlaufen.62 Dennoch brachte erst die in keiner Weise zu rechtfertigende Ungleichheit im Erfolgswert durch den Effekt des negativen Stimmengewichts63 auch die Überhangmandate zu Fall. Da dieser Effekt im Zusammenhang mit Überhangmandaten zwar nicht gehäuft aber doch regelmäßig auftritt, erklärte das Bundesverfassungsgericht die Regelungen über die Umrechnung der Wählerstimmen auf die Sitzverteilung im Parlament nebst der Anrechnung der landesweit errungenen Direktmandate gemäß Art. 7 Abs. 3 Satz 2 aF. BWahlG für verfassungswidrig und gab dem Gesetzgeber auf, bis Ende Juni 2011 eine Neuregelung zu schaffen.64 Das daraufhin erlassene Wahlrechtsänderungsgesetz vom 25.11.2011 löste das Problem der Überhangmandate wie auch des negativen Stimmengewichts allerdings wieder nicht65 und wurde durch Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 25.7.2012 erneut aufgehoben.66 Mit dem Wahlrechtsänderungsgesetz vom 3.5.2013 versuchte der Gesetzgeber den negativen Folgen der Überhangmandate durch Ausgleichsmandate zu begegnen.67 Folge ist, dass der Bundestag der 19. Legislaturperiode statt der in § 1 BWahlG vorgesehenen 598 Abgeordneten aus 709 Abgeordneten besteht. Zum Vergleich: Das Europäische Parlament darf gemäß Art. 14 Abs. 2 EUV maximal aus 750 Abgeordneten bestehen. Inzwischen ist der Gesetzgeber erneut tätig geworden, was in Rn. 120 näher ausgeführt wird.
109Der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit gilt auch für das passive Wahlrecht und entfaltet nicht zuletzt Bedeutung bei der Wahlvorbereitung.68 Das Bundesverfassungsgericht spricht in diesem Zusammenhang vielfach von Chancengleichheit. Soweit es um den Wahlkampf von Parteien geht, zieht das Gericht auch den aus der Verankerung des Mehrparteiensystems in Art. 21 Abs. 1 GG folgenden Gleichbehandlungsgrundsatz heran, ohne eine klare Abgrenzung nach Reichweite oder Inhalt zwischen den beiden Vorschriften vorzunehmen.69 Richtigerweise gilt der wahlrechtliche Grundsatz der Chancengleichheit auch für die praktisch höchst bedeutsame innerparteiliche Kandidatenaufstellung gemäß den §§ 21 und 27 BWahlG.70
Gegen den Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit verstößt es auch, wenn die regierungsamtliche Öffentlichkeitsarbeit im Vorfeld einer Wahl nach Häufigkeit, Inhalt und Aufmachung zur Wahlwerbung mutiert.71 Insbesondere dürfen für Zwecke der regierungsamtlichen Öffentlichkeitsarbeit hergestellte Druckwerke nicht den regierungsnahen Parteien zur Wahlwerbung überlassen oder von diesen zur Wahlwerbung eingesetzt werden.72
Das in § 20 Abs. 2 und 3 BWahlG geforderte Unterschriftenquorum für die Kreiswahlvorschläge von Parteien, die nicht mit wenigstens fünf Abgeordneten im Bundestag oder in einem Landtag vertreten sind, stellt für kleine, ggf. neue Parteien gegenüber den etablierten Parteien zwar eine Ungleichbehandlung dar, ist aber gerechtfertigt, weil im Interesse der Durchführbarkeit der Wahl sichergestellt werden darf, dass nur ernsthafte und ernst zu nehmende Wahlvorschläge eingereicht werden.73