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2.4.1Bedeutung der europäischen Integration für das Wahlrecht nach
Art. 38 GG

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122Gewicht und Bedeutung des Rechts, die Mitglieder des Deutschen Bundestages zu wählen, hängen maßgeblich von den Aufgaben und Kompetenzen dieses Staatsorgans ab. Auch das demokratischste Wahlverfahren wird zur Farce, wenn die Gewählten nichts zu entscheiden haben. Mit dem Argument einer substanziellen Entleerung ihres Wahlrechts machten Wahlberechtigte eine Verletzung des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG durch das Zustimmungsgesetz zu dem Vertrag von Maastricht geltend, mit dem die Europäische Union gegründet und eine neue Stufe der europäischen Integration betreten wurde, dessen sichtbarster Ausdruck die Einführung der gemeinsamen Währung war. Das Bundesverfassungsgericht hielt diesen Vortrag für so plausibel, dass es die Verfassungsbeschwerde zuließ. Auch Art. 23 GG, der die verfassungsrechtliche Grundlage für die Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland an dem Prozess der europäischen Integration enthält, lässt die Integration nur unter Wahrung des Demokratieprinzips zu (Art. 23 Abs. 1 Satz 3 verweist auf die Verfassungskernbestimmung des Art. 79 Abs. 3 GG, der wiederum Art. 20 GG in Bezug nimmt). Dementsprechend stellte das Bundesverfassungsgericht fest: „Im Anwendungsbereich des Art. 23 GG schließt Art. 38 GG aus, die durch die Wahl bewirkte Legitimation und Einflussnahme auf die Ausübung von Staatsgewalt durch die Verlagerung von Aufgaben und Befugnissen des Bundestages so zu entleeren, dass das demokratische Prinzip, soweit es Art. 79 Abs. 3 iVm. Art. 20 Abs. 1 und 2 GG für unantastbar erklärt, verletzt wird.“98 Das Gericht betont, dass auch im Falle der Übertragung von Hoheitsbefugnissen auf eine zwischenstaatliche Organisation deren Handeln durch Rückkoppelung an die Parlamente der Mitgliedstaaten legitimiert sein muss. Daraus folgt zum einen, dass der Umfang der jeweils übertragenen Hoheitsbefugnisse hinreichend bestimmt sein muss und dass wesentliche Änderungen im Inte­grationsprogramm einer erneuten parlamentarischen Zustimmung bedürfen. Dies bedeutet aber auch, dass „der Ausdehnung der Aufgaben und Befugnisse der Europäischen Gemeinschaften vom demokratischen Prinzip her Grenzen gesetzt“ sind. „Dem Deutschen Bundestag müssen Aufgaben und Befugnisse von substanziellem Gewicht verbleiben.“99 Im Ergebnis sah das Bundesverfassungsgericht diese Anforderungen des Demokratieprinzips durch den Vertrag von Maastricht nicht verletzt.

122aDie Entscheidung zum Vertrag von Lissabon vom 30.6.2009 konkretisiert erneut die aus dem Demokratieprinzip folgenden Integrationsgrenzen.100 Danach muss den Mitgliedstaaten ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse bleiben. Dies soll insbesondere für Sachbereiche gelten, „die die Lebensumstände der Bürger, vor allem ihren von den Grundrechten geschützten privaten Raum der Eigenverantwortung und der persönlichen und sozialen Sicherheit prägen, sowie für solche politischen Entscheidungen, die in besonderer Weise auf kulturelle, historische und sprachliche Vorverständnisse angewiesen sind, und die sich im parteipolitisch und parlamentarisch organisierten Raum einer politischen Öffentlichkeit diskursiv entfalten“.101 Daneben betont das Bundesverfassungsgericht erneut die Kompetenzgrenze (ultra-vires-Kontrolle)102 sowie die in dem Verweis des Art. 23 Abs. 1 GG auf Art. 79 Abs. 3 GG angelegte Grenze des „unantastbaren Kerngehalts der Verfassungsidentität des Grundgesetzes“.103 In Bezug auf die durch den Vertrag von Lissabon eröffneten begrenzten Möglichkeiten von Vertragsänderungen ohne Ratifikationsverfahren folgert das Gericht aus dem Demokratieprinzip eine Integrationsverantwortung der gesetzgebenden Körperschaften, dh. deren vorherige Beteiligung an solchen Vertragsänderungen.104 Einzelheiten finden sich im Integrationsverantwortungsgesetz.105 Darüber hinaus soll sich die Integrationsverantwortung der Staatsorgane und insbesondere des Bundestages im Sinne einer Rechtspflicht darauf erstrecken, aktiv gegen Kompetenzüberschreitungen der EU vorzugehen. Auch dies soll auf der Grundlage des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG einklagbar sein, um die Aushöhlung des Wahlrechts (s. oben Rn. 122) zu verhindern.106

Angesichts der entscheidenden Bedeutung der Finanzmittel für die politische Handlungsfähigkeit schützt das Wahlrecht auch vor einer Entleerung der finanziellen parlamentarischen Selbstbestimmung. Die nationale Haushaltsautonomie stellt dementsprechend eine „wesentliche, nicht entäußerbare Kompetenz der unmittelbar demokratisch legitimierten Parlamente der Mitgliedstaaten“ dar.107 Hieraus folgt, dass „völkervertragliche Mechanismen, die auf eine Haftungsübernahme für Entscheidungen anderer Staaten hinauslaufen, nicht begründet werden dürfen“.108 Unter Rücknahme der Prüfungsintensität auf „evidente Fälle“ und Gewährung eines Einschätzungsspielraums des Gesetzgebers entschied das Bundesverfassungsgericht, dass die Griechenland-Hilfe und der Euro-Rettungsschirm mit dem Grundgesetz vereinbar seien.

Rechtsprechung: BVerfGE 89, 155 – Maastricht; 123, 267 – Lissabon; 129, 124 – Euro-Rettungsschirm; 132, 195 – ESM-Vertrag; 134, 366 – OMT Vorlagebeschluss; 142, 123 – OMT-Programm; 146, 216 – PSPP- (EZB-)Vorlagebeschluss.

Literatur: W. Cremer, Lissabon-Vertrag und Grundgesetz, Jura 2010, 296; A. Haratsch, Zu den verfassungsrechtlichen Aspekten der Ratifikation des Vertrages von Lissabon, NJW 2009, 2267; B. Herz, Subjektives Recht gegen die europäische Integration? Zur Zulässigkeit einer Klage gegen das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon, JA 2009, 573; S. Piecha, Griechenland-Soforthilfe und Euro-Rettungsschirm, ZJS 2011, 544; M. Sachs, Unveräußerliche nationale Haushaltsautonomie, JuS 2012, 271.

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