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3.1Allgemeine Bedeutung des Art. 21 GG

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128Die repräsentative Demokratie ist ohne Parteien nicht zu realisieren, im Falle eines Verhältniswahlrechts geradezu undenkbar. Dennoch stellt es eine Besonderheit dar, dass das Grundgesetz in Art. 21 GG den Parteien einen eigenen Artikel einräumt. Noch in der Spätphase des Konstitutionalismus schrieb kein geringerer als Georg Jellinek (1851–1911), die Parteien seien als „gesellschaftliche Bildungen“ zu begreifen, „die als solche nicht Gegenstand der Staatsrechtslehre selbst sind… In der staatlichen Ordnung … hat der Begriff der Parteien als solcher keine Stelle.“1 In der Weimarer Reichsverfassung tauchten die Parteien – trotz der verfassungsrechtlichen Entscheidung für das Verhältniswahlrecht und der tatsächlichen Bedeutung der Parteien – nur negativ-abwehrend in Art. 130 Abs. 1 WRV auf, wo es hieß: „Die Beamten sind Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei.“ Gustav Radbruch (1878–1949) bemerkte zu diesem schamhaften Umgang des Staatsrechts mit den Parteien, es gelte auch für sie der Wahlspruch aller Prüderie, man dürfe nicht vor keuschen Ohren nennen, was keusche Herzen nicht entbehren können.2 Der Staats- und Völkerrechtler Heinrich Triepel (1868–1946)3 stellte dann in seiner noch heute viel zitierten Rede „Die Staatsverfassung und die politischen Parteien“4 im Verhältnis zwischen Staat und Parteien eine Stufenfolge fest: Zunächst habe der Staat die sich neu formierenden Parteien verfolgt (Stadium der Bekämpfung), in einer zweiten Phase habe er sie ignoriert (Stadium der Ignorierung), in einer dritten Phase habe er sie anerkannt und legalisiert (Periode der Anerkennung und Legalisierung) und schließlich habe er sie in seine Verfassung inkorporiert (Ära der verfassungsmäßigen Inkorporation). An eine mögliche fünfte Stufe, nämlich die der Identität von Partei und Staat, der Einverleibung des Staates durch die Parteien oder durch eine Partei, dachte Triepel damals nicht.

129Das Verhältnis von Staat und Parteien in der Bundesrepublik Deutschland entspricht der vierten Stufe. Die Parteien sind durch Art. 21 GG in die Verfassung des Staates inkorporiert. Sie sind nicht – wie in vielen anderen Verfassungen – durch das Grundrecht auf Vereinigungsfreiheit mitgeschützt, sondern sie haben eine eigene verfassungsrechtliche Regelung außerhalb des Grundrechtskatalogs im Abschnitt über die grundlegenden Strukturen des Staates erhalten. Die Vorschrift erlegt den Parteien spezifische Pflichten auf (Art. 21 Abs. 1 Satz 3 und 4 GG), gewährt dafür aber auch Privilegien gegenüber gewöhnlichen Vereinigungen (Art. 21 Abs. 2 Satz 2 GG).5 In Bekräftigung des Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG heißt es in § 1 Abs. 1 Satz 1 des Parteiengesetzes „Die Parteien sind ein verfassungsrechtlich notwendiger Bestandteil der freiheitlichen demokratischen Grundordnung.“ Das Bundesverfassungsgericht hat sie als „verfassungsrechtliche Institution“6 bezeichnet, die für das Funktionieren einer modernen parlamentarischen Demokratie unabdingbar ist. Diese Bezeichnung darf nicht dahin missverstanden werden, dass die Parteien selbst Bestandteil der organisierten Staatlichkeit wären. Sie wurzeln vielmehr in der gesellschaftlichen Sphäre7 und haben eine privatrechtliche Rechtsform als nicht eingetragener oder eingetragener Verein. Ihre verfassungsrechtlich anerkannte Funktion besteht aber darin, das notwendige Bindeglied vom Volk zur organisierten Staatlichkeit zu bilden. (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.)

130Die Aufgabe der Parteien ist laut Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG die Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Volkes.8 Die Verwendung des Plurals „Parteien“ ist ebenso bedeutsam wie die Verwendung des Begriffs „mitwirken“. Art. 21 GG schreibt mit dem Plural ausdrücklich ein Mehrparteiensystem vor. Folgerichtig garantiert Art. 21 Abs. 1 S. 2 GG die Gründungsfreiheit der Parteien. Eine Parteiengründung bedarf keiner staatlichen Erlaubnis. Das Vereinsrecht gilt nicht. Tatsächlich hat es in der Geschichte der Bundesrepublik immer wieder erfolgreiche Parteineugründungen gegeben. Der Begriff des „Mitwirkens“ macht deutlich, dass die Parteien kein Monopol auf die politische Willensbildung des Volkes besitzen. Hierzu berufen sind auch Bürgerinitiativen, Gewerkschaften, die Kirchen, die Medien sowie jeder einzelne, indem er von seiner Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG) oder Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) Gebrauch macht. Nichtsdestotrotz ist durch Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG die herausragende Stellung der Parteien für die Willensbildung des Volkes anerkannt.

Eine nähere gesetzliche Regelung des Parteienrechts, wie sie heute Art. 21 Abs. 5 GG vorsieht, ist durch das ParteienG9 aus dem Jahre 1967 erfolgt. Das Gesetz ist vielfach geändert worden; dies gilt insbesondere für die Regelungen der Parteienfinanzierung.

Literatur: S. Augsberg, Die politischen Parteien als zentrale Akteure des demokratischen Wettbewerbs, Jura 2018, 1110; H.H. von Arnim, Parteien in der Kritik, DÖV 2007, 221; P. Badura, Die politischen Parteien in der Mediendemokratie, Fs. für Richard Bartlsperger, 2006, S. 3; P.M. Huber, Parteien in der Demokratie, Fs. 50 Jahre BVerfG II, 2001, S. 609; Ph. Kunig, Parteien, HStR III, 3. Aufl. 2005, § 40; M. Morlok, Parteienrecht als Wettbewerbsrecht, Fs. Dimitris Tsatsos, 2003, S. 408; M. Morlok, Parteiengesetz, 2. Aufl. 2013.

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