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In der Geschichte der Bundesrepublik ist noch keine Bundestagswahl und bisher nur eine landesweite Wahl für ungültig erklärt worden. Das Hamburger Verfassungsgericht120 nahm wegen Verstoßes einer Partei gegen die Grundsätze einer demokratischen Wahl bei der innerparteilichen Aufstellung der Wahlkandidaten nicht nur – zutreffend – einen Wahlfehler an, sondern bejahte auch dessen Mandatsrelevanz für die Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses insgesamt mit der Folge von dessen Auflösung. Das Urteil ist wegen der Annahme dieser einschneidenden Rechtsfolge scharf kritisiert worden. In der Tat erscheint es problematisch, dass eine Partei durch innerparteiliche Organisationsfehler, die vom Wahlleiter unbeanstandet geblieben sind, eine Wahl ungültig machen kann. Darüber hinaus ließ sich eine Mandatsrelevanz mit Auswirkungen auf das gesamte Parlament tatsächlich auch in diesem Fall nicht überzeugend begründen.121

Literatur: G. Robbers, Verfassungsprozessuale Probleme in der öffentlich-rechtlichen Klausur, JuS 1994, 854 (856 f.); G. Roth, Zur Durchsetzung der Wahlrechtsgrundsätze vor dem Bundesverfassungsgericht, DVBl. 1998, 214.

Fallbearbeitungen: F. Shirvani/M. Schröder, „Unregelmäßigkeiten bei der Bundestageswahl“, Jura 2007, 143 (Wahlprüfungsbeschwerde).

Lösung zu Fall 2: Sperrklausel122

W könnte gegen die Entscheidung des Bundestages Wahlprüfungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht einlegen. Eine Wahlprüfung durch den Bundestag, der hierfür nach § 26 Abs. 2 EuWahlG zuständig ist, hat sie bereits veranlasst, ist damit aber erfolglos geblieben. Gegen die Entscheidung des Bundestages ist gemäß § 26 Abs. 3 Satz 1 EuWahlG die Beschwerde an das Bundesverfassungsgericht zulässig.123

Die Wahlprüfungsbeschwerde von W hat Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist.

I.Zulässigkeit

Die Zulässigkeit einer Wahlprüfungsbeschwerde bestimmt sich im Falle der Überprüfung einer Wahl zum Europäischen Parlament nach § 26 Abs. 3 EuWahlG.

1. Beschwerdegegenstand. Die Wahlprüfungsbeschwerde ist gemäß § 26 Abs. 3 Satz 1 EuWahlG taugliches Rechtsmittel gegen den Beschluss des Bundestages über die Gültigkeit einer Wahl. W wendet sich hier gegen den Beschluss des Bundestages, mit dem dieser ihren Einspruch gegen die Anwendung der 3 %-Sperrklausel bei der Umrechnung der abgegebenen Wählerstimmen auf die Verteilung der Mandate zurückgewiesen hat. Darin liegt gleichzeitig die Entscheidung über die Gültigkeit der Wahl. Es handelt sich um einen tauglichen Beschwerdegegenstand.

2. Beschwerdeführer. Gemäß § 26 Abs. 3 Satz 2 EuWahlG sind wahlberechtigte Personen, deren Einspruch vom Bundestag verworfen wurde, zur Wahlprüfungsbeschwerde berechtigt. Die Möglichkeit einer Verletzung in eigenen Rechten muss nicht geltend gemacht werden. W ist taugliche Beschwerdeführerin.

3. Antragsform. Gemäß § 26 Abs. 3 Satz 3 EuWahlG iVm. § 23 Abs. 1 BVerfGG muss die Wahlprüfungsbeschwerde schriftlich und mit einer Begründung versehen (§ 26 Abs. 3 Satz 2 aE. EuWahlG) beim Bundesverfassungsgericht eingehen. Diese Begründung muss so hinreichend substantiiert sein, dass sich aus ihr der Wahlfehler und die Mandatsrelevanz dieses Fehlers erkennen lassen.124 W macht die Verfassungswidrigkeit der Sperrklausel geltend, deren Mandatsrelevanz offensichtlich ist. Dem Begründungserfordernis ist genügt.

4. Beschwerdefrist. Die Beschwerde muss gemäß § 26 Abs. 3 Satz 2 EuWahlG innerhalb von zwei Monaten seit Beschlussfassung des Bundestages beim Bundesverfassungsgericht erhoben und begründet werden. Die Frist beginnt erst mit der Zustellung des Beschlusses mit Rechtsbehelfsbelehrung (vgl. § 26 Abs. 2 EuWahlG iVm. § 13 Abs. 3 WahlPrG).

5. Zwischenergebnis. Bei Wahrung der Frist ist die Wahlprüfungsbeschwerde zulässig.

II.Begründetheit

Die Wahlprüfungsbeschwerde ist begründet, wenn der Beschluss des Bundestages formell und/oder materiell rechtswidrig ist. Die Rechtsfolge im Falle eines Rechtsverstoßes hängt entscheidend von dessen Auswirkungen auf die Zusammensetzung des Parlaments (Mandatsrelevanz) ab. Im konkreten Fall könnte sich der Verstoß zudem bereits daraus ergeben, dass der Gesetzgeber die gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG bestehende Bindungswirkung des Urteils vom 26. Februar 2014 (BVerfGE 135, 259 ff.) ignoriert hat, wonach eine 3 %-Sperrklausel unzulässig ist.

1. Bindungswirkung des bundesverfassungsgerichtlichen Urteils. Die erneute Einführung der 3 %-Sperrklausel verstößt gegen die Bindungswirkung des bundesverfassungsgerichtlichen Urteils, wenn sich weder die rechtlichen noch die tatsächlichen Umstände geändert haben. In rechtlicher Hinsicht hat der Europäische Gesetzgeber inzwischen eine Sperrklausel mit einer Spanne von 2 %–5 % eingeführt. In tatsächlicher Hinsicht haben die vorangegangenen Wahlen zum Europäischen Parlament gezeigt, dass das Fehlen einer Sperrklausel zu einer Verdoppelung der im Europäischen Parlament vertretenen deutschen Parteien geführt hat, was erheblich zur Zersplitterung des Europäischen Parlaments beiträgt. Das Bundesverfassungsgericht hat selbst ausgeführt, dass sich eine abweichende verfassungsrechtliche Beurteilung ergeben kann, wenn sich die Verhältnisse wesentlich ändern. Für solche Änderungen liegen Anhaltspunkte vor. Damit ist das Gesetz nicht bereits wegen Verstoßes gegen die Bindungswirkung ungültig.

2. Prüfung der formellen Rechtswidrigkeit. Der Bundestag ist gemäß § 26 Abs. 1 und 2 EuWahlG iVm. § 1 Abs. 1 Wahlprüfungsgesetz für die Prüfung der Gültigkeit der Wahlen zum Europäischen Parlament zuständig.

Gemäß § 26 Abs. 2 EuWahlG gelten für das Wahlprüfungsverfahren die Bestimmungen des Wahlprüfungsgesetzes mit wenigen hier nicht relevanten Ausnahmen entsprechend. Verfahrens- (§ 2 ff. Wahlprüfungsgesetz) oder Formfehler (§§ 11 Abs. 1 Satz 1, 13 Abs. 3 Wahlprüfungsgesetz) sind nicht geltend gemacht und nicht ersichtlich.

3. Prüfung der materiellen Rechtswidrigkeit. Während der Bundestag im Rahmen des Wahlprüfungsverfahrens auf die Überprüfung der rechtmäßigen Anwendung des geltenden Rechts beschränkt ist, ist es Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, nicht nur die Rechtmäßigkeit der Rechtsanwendung zu prüfen, sondern auch die Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Vorschriften, die der Wahl zugrunde liegen. W rügt keine Fehler bei der Anwendung des EuWahlG, sondern den Verstoß der 3 %-Sperrklausel des EuWahlG gegen die Verfassung. Dies liegt im Rahmen der verfassungsgerichtlichen Prüfungskompetenz.

a) Prüfungsmaßstab

aa) Unionsrechtlicher Rahmen. Außerhalb des verfassungsgerichtlichen Prüfprogramms liegen die verbindlichen unionsrechtlichen Vorgaben für die Wahl zum Europäischen Parlament. Art. 8 Abs. 1 des unionsrechtlichen Direktwahlaktes bestimmt, dass sich das Wahlverfahren in den Mitgliedstaaten vorbehaltlich der Regelungen des Direktwahlaktes nach den innerstaatlichen Vorschriften bestimmt. Nach Art. 1 Abs. 1 des Direktwahlaktes ist die Wahl zum Europäischen Parlament als Verhältniswahl durchzuführen. Art. 3 des neuen Direktwahlaktes bestimmt, dass Mitgliedstaaten, die über mehr als 35 Sitze im Europäischen Parlament verfügen, für die Sitzvergabe eine Sperrklausel von mindestens 2 % festlegen müssen und eine Sperrklausel bis zu maximal 5 % einfügen können. Mit dieser Regelung ist die Einführung einer Sperrklausel von 2 % verbindlich vorgegeben und bis zu 5 % erlaubt. Daraus folgt, dass die 3 %-Sperrklausel nach dem EuWahlG auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz überprüft werden kann und muss.

bb) Wahlrechtsgleichheit. Die Wahlrechtsgrundsätze gemäß Art. 38 Abs. 1 GG sind nach ihrem ausdrücklichen Wortlaut nur auf die Wahlen zum Bundestag anwendbar. Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl folgt für die Durchführung der Wahlen zum Europäischen Parlament jedoch aus der Gleichheit aller Wahlberechtigten gemäß Art. 3 Abs. 1 GG. Aus dem Demokratieprinzip folgt, dass die Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger bei der Stimmabgabe eine streng formale Gleichheit ist. Im Rahmen eines Verhältniswahlsystems bedeutet dies, dass jede Stimme den gleichen Zählwert und grundsätzlich auch den gleichen Erfolgswert haben muss. Entsprechende Gleichheitsanforderungen folgen auch aus dem Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien gemäß Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG.

b) Verletzung

aa) Beeinträchtigung der Erfolgswertgleichheit. Die 3 %-Sperrklausel bewirkt, dass die Wählerstimmen für Parteilisten, die im Ergebnis nicht mindestens 3 % aller abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen konnten, ohne Auswirkung auf die Sitzverteilung bleiben. Sie sind zwar zunächst mit gleichem Gewicht wie alle anderen Stimmen gezählt worden, ihr Erfolgswert liegt aber bei null. Darin liegt im Rahmen eines Verhältniswahlsystems eine Ungleichbehandlung.

bb) Rechtfertigung

(1) Maßstab. Trotz der strikten Anforderungen der Wahlrechtsgleichheit in Verbindung mit der Chancengleichheit der Parteien ist nicht jegliche Differenzierung ausgeschlossen. Erlaubt sind solche Ausnahmen, die im Blick auf das Ziel der Wahl, ein funktionsfähiges Parlament zu schaffen, unabdingbar sind. An diese Prüfung ist ein strenger und konkret auf die Funktionen des jeweiligen Parlaments bezogener Maßstab anzulegen, der sich an der politischen Wirklichkeit zu orientieren hat und ggf. veränderten Umständen anzupassen ist. Verfolgt eine Regelung ein unzulässiges Ziel oder ist sie zur Verfolgung eines zulässigen Ziels ungeeignet oder nicht erforderlich, so ist sie verfassungswidrig. Mit einer Sperrklausel wird das legitime Ziel verfolgt, eine Zersplitterung des Parlaments zu vermeiden und zur Sicherung der Meinungs- und Mehrheitsbildung im Parlament beizutragen. Eine Sperrklausel ist zur Verfolgung dieses Zwecks grundsätzlich geeignet. Einer genauen und die jeweiligen tatsächlichen Umstände konkret berücksichtigenden Prüfung bedarf jedoch die Erforderlichkeit der Höhe der Sperrklausel im Blick auf das verfolgte Ziel. Es genügt nicht die pauschale Behauptung, die Funktionsfähigkeit des Parlaments werde verbessert. Die Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit muss vielmehr mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein. Allerdings ist dem Gesetzgeber insoweit auch ein Einschätzungsspielraum zuzugestehen.

(2) Subsumtion. Nach den Angaben im Sachverhalt ist auf der Grundlage der bisherigen Erfahrungen bei Senkung der 3 %-Klausel auf 2 % nur mit einer Erhöhung der Zahl der erfolgreichen Parteien um 2 weitere Parteien zu rechnen. Auch sind im Europäischen Parlament ohnehin bereits mehr als 200 Parteien vertreten, darunter insbesondere aus den kleineren Mitgliedstaaten eine große Anzahl mit nur sehr wenigen Abgeordneten. Diese Vielzahl von Parteien wird zur Zeit in acht Fraktionen gebündelt, von denen die beiden größten nach wie vor die absolute Mehrheit erreichen. Es gehört zudem nicht zu den Aufgaben des Europäischen Parlaments, eine Regierung dauerhaft zu stützen. Die Ausübung der Kontrollfunktion des Parlaments bedarf ohnehin keiner Mehrheitsbildung, sondern ist als Minderheitsrecht ausgestaltet. Die mögliche Beeinträchtigung gerade deutscher Interessen durch Zersplitterung des deutschen Sitzkontingents im Europäischen Parlament stellt zwar ein gewichtiges politisches Interesse dar, ist jedoch verfassungsrechtlich ohne Bedeutung.

Auf der anderen Seite kommen dem Europäischen Parlament in fast allen Regelungsbereichen des Unionsrechts Mitwirkungsbefugnisse im Wege des ordentlichen Gesetzgebungsverfahren zu. Es ist nicht garantiert, dass die beiden größten Fraktionen sich stets einigen, so dass es gerade bei besonders wichtigen Gesetzesvorhaben zu Blockaden kommen kann. Auch ist nicht auszuschließen, dass eine Absenkung der Sperrklausel auf 2 % angesichts der zunehmenden Zersplitterung der Parteienlandschaft dazu führt, dass eine deutlich größere Anzahl die 2 %-Hürde überspringt. An die konkrete Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments sind insoweit geringere Anforderungen zu stellen, als sich das Europäische Parlament aus den Abgeordneten aller Mitgliedstaaten zusammensetzt, und damit die Ausgestaltung des Wahlrechts in Deutschland von vornherein nur sehr vermittelt Auswirkungen auf dessen Funktionsfähigkeit haben kann. Insoweit muss es genügen, dass das Europäische Parlament selbst Gefahren für seine Funktionsfähigkeit sieht und für die Bekämpfung den Mitgliedstaaten einen Spielraum gewährt. Mit der moderaten Erhöhung der Mindestsperrklausel von 2 % auf 3 % hat der Bundesgesetzgeber seinen Einschätzungsspielraum nicht überschritten.

3. Ergebnis. Es liegt kein Verstoß gegen die Wahlrechtsgleichheit der Bürgerinnen und Bürger und die Chancengleichheit der Parteien vor.125

4. Ergebnis. Die Einführung der 3 %-Sperrklausel ist verfassungsgemäß.

III. Ergebnis

Die Wahlprüfungsbeschwerde der W ist zulässig, aber unbegründet.

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