Читать книгу Staatsrecht I - Ute Mager - Страница 55
2.1Wahlsysteme
Оглавление92Alle Wahlen sind darauf gerichtet, Personen für die Ausübung von Staatsgewalt zu legitimieren. Dieses Hauptziel kann durch die Verfolgung verschiedener Unterziele angestrebt oder mit Nebenzielen verknüpft werden. Zu nennen sind etwa die Integration und Repräsentation des Staatsvolks, ggf. unter Berücksichtigung föderaler Elemente, die Repräsentation durch Persönlichkeiten, die Repräsentation politischer Anschauungen oder die Funktionsfähigkeit des Parlaments. Vor diesem Hintergrund wird der Satz „Die wichtigste Wahl ist die Wahl des Wahlsystems“5 verständlich. Die beiden Enden auf einer gleitenden Skala von Mischsystemen bilden das reine Verhältniswahlrecht auf der einen Seite, das reine Mehrheitswahlrecht auf der anderen Seite, wobei in Bezug auf letzteres weiter zu differenzieren ist zwischen dem Erfordernis einer absoluten Mehrheit (> 50 % der Stimmen) oder einer relativen Mehrheit (den höchsten Anteil der abgegebenen Stimmen).
93Ein reines Verhältniswahlrecht kommt mit einem Wahlkreis aus, benötigt aber Parteien. Die Verteilung der Sitze im Parlament auf die Vertreter der Parteien findet proportional zur Anzahl der jeweils auf die Parteien abgegebenen Stimmen statt. Dieses System ist besonders geeignet, die politischen Strömungen in einem Land abzubilden. Im Falle eines weit gestreuten Meinungsspektrums müssen ggf. Vorkehrungen gegen Zersplitterung getroffen werden, um die Arbeitsfähigkeit des Parlaments zu sichern (zB. durch eine Sperrklausel, siehe Rn. 107).
94Ein reines Mehrheitswahlrecht erfordert eine Aufteilung des Wahlgebiets in Wahlkreise, deren Anzahl der Zahl der Parlamentssitze entspricht. Diese Art der Wahl ist stärker personenbezogen. Sie fördert der Tendenz nach die Bildung von klaren Mehrheiten im Parlament. Infolge des systembestimmenden Grundsatzes „the winner takes it all“ kann es jedoch zu einer starken Verzerrung bei der Abbildung des im Staatsvolk vertretenen politischen Meinungsspektrums im Parlament kommen, bei entsprechendem Zuschnitt der Wahlkreise bis hin zu einer Umkehrung der eigentlichen Mehrheitsverhältnisse. In diesem Fall wäre allerdings zu prüfen, ob der Zuschnitt der Wahlkreise gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl verstößt.
95Anders als die Weimarer Reichsverfassung6 trifft das Grundgesetz keine Aussage über das Wahlsystem. Nach Art. 38 Abs. 3 GG bestimmt ein Bundesgesetz „das Nähere“ über die Bundestagswahl. Gemäß Art. 20 Abs. 3 GG ist der Gesetzgeber dabei an die Vorgaben der Verfassung gebunden. Dem Gesetzgeber kommt somit bei der Wahl des Wahlsystems Gestaltungsspielraum im Rahmen der Wahlrechtsgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG zu. Die Regelungen über die Bundestagswahlen finden sich im Bundeswahlgesetz sowie in der Bundeswahlordnung. § 1 Abs. 1 Satz 2 BWahlG wiederholt die Wahlrechtsgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG und bestimmt das Wahlsystem als eine mit der Personenwahl verbundene Verhältniswahl. Ein neues, bisher in zwei Bundesländern – Brandenburg und Thüringen – aufgetretenes Problem stellt die gesetzliche Verpflichtung der Parteien dar, ihre Listen geschlechterparitätisch zu besetzen.7 Hier ist durchaus zweifelhaft, welche Wahlrechtsgrundsätze betroffen sind: Freiheit, Gleichheit? Am stärksten ist wohl die passive Wahlrechtsgleichheit der Kandidatinnen und Kandidaten berührt.8 Die entscheidende Frage ist, ob die staatliche Pflicht zur Förderung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und zur Beseitigung bestehender Nachteile gemäß Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG geeignet ist, eine solche Vorgabe in Abwägung mit dem Selbstorganisationsrecht der Parteien zu rechtfertigen.9 Dies erscheint durchaus zweifelhaft.