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§ 10. Sokrates

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Der philosophisch-theologische Grundzug bestimmt auch den weiteren Gang des griechischen Denkens. In der sophistischen Skepsis wird allerdings der Gedanke der Anwesenheit des Göttlichen in der Welt erst einmal fragwürdig, ja, die Götter werden sogar gelegentlich als bloße Erfindung von Menschen oder gar als Betrug der Herrschenden angesehen, 1 weshalb einige der Sophisten schon früh als ἂϑεοι, als „Atheisten“ bezeichnet werden.2 In dieser gefährdeten Situation aber wird die philosophisch-theologische Problematik von Sokrates erneut und in verwandelter Gestalt wieder aufgenommen.

Xenophon berichtet, Sokrates habe von dem „den ganzen Kosmos zusammenordnenden und zusammenhaltenden Gott“ 3, von dem „Göttlichen, das … zugleich alles sieht, alles hört, überall anwesend ist und zugleich für alles Sorge trägt“ 4, gesprochen. Das sieht auf den ersten Blick so aus, als schlösse sich Sokrates ohne weiteres der vorsokratischen Gotteslehre an. Und doch unterscheidet sich sein philosophisch-theologisches Denken schon im Ansatz von jener. Er kann nicht mehr hinter die Wende zurückgehen, die durch die Sophisten eingeleitet worden ist: daß nicht mehr unmittelbar vom Göttlichen gesprochen werden kann, sondern daß zuvor nach dem Wissen vom Göttlichen und nach der Gewißheit dieses Wissens gefragt werden muß. Hier ist das Denken der Sophisten an den Abgrund der völligen Ungewißheit gelangt. Charakteristisch dafür ist, was Protagoras sagt: „über Götter kann ich nicht wissen, weder daß sie sind, noch daß sie nicht sind, noch wie etwa an Gestalt; denn viel ist, was zu wissen hindert: die Verborgenheit und daß das Leben des Menschen kurz ist.“ 5 Solche Skepsis findet Sokrates als einen Grundzug des Denkens seiner Zeit vor. Aber inmitten ihrer findet er zu einer neuen Weise der Gewißheit.

Zunächst freilich scheint es, als sei auch für ihn das Nicht-Wissen, ja, das ausdrückliche Wissen um das Nicht-Wissen, das letzte Wort (A 21 b–e)6. Und doch erwächst ihm aus kaum faßbarem Ursprung eine Grundgewißheit. Denn einige Möglichkeiten des Tuns scheinen ihm unzweifelhaft gewiß zu sein: das Ausharren in Gefahr (A 28 d), die bedingungslose Suche nach der Wahrheit (G 526 d), der Vorrang des gerechten Lebens vor dem Leben überhaupt (K 48 b), die Einsicht, daß es besser ist, Unrecht zu leiden als Unrecht zu tun (K 49 a–e).

Diese Grundgewißheiten erwachsen dem Menschen aus seinem Inneren. Dieses ist überhaupt für Sokrates der Ort unmittelbarer Gewißheit, auch da, wo es nicht um ethisches Handeln im eigentlichen Sinne geht. In all seinem Tun vertraut er dem, was er in sich selbst als „Stimme“ hört (A 31 d). Hier, im Inneren, ist auch der Ort, an dem Sokrates das Göttliche erfährt. Denn er deutet jene innere Stimme als sein δαιμόνιον (A 31 c–d, 40 a). Das „Daimonische“ aber ist nach der Auffassung Platons „zwischen Gott und Sterblichem“, und zwar in der Weise, daß es zwischen beiden vermittelt (S 202 d–e). Sokrates kann daher auch die Gewißheit bringende, daimonische Stimme als „ein Göttliches“ bezeichnen (A 31 c). Damit gelangt er wieder in die Dimension, in der auch die Vorsokratischen Philosophen das Göttliche erfahren haben; er sagt ausdrücklich, das „Daimonische“ bewirke, „daß das All selber mit sich selber zusammengebunden werde“ (S 202 e). In einer Zeit, in der das Göttliche sich den Blicken zu entziehen droht, ist so das Daimonische die Weise, wie es gleichwohl in der Wirklichkeit anwesend ist. Aber in der Art, wie Sokrates zu dieser Einsicht gelangt, unterscheidet er sich von den Philosophen vor ihm. Nicht mehr aus der Betrachtung der welthaften Wirklichkeit (Ph 99 d), sondern aus der innersten Gewißheit des Selbst erwächst ihm das Wissen um den Weltgott. Damit wird Sokrates zu einem entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte der Philosophischen Theologie.

1 Kritias bei Diels, B 25.

2 Prodikos bei Diels, B 5.

3 Xenophon, Mem. IV 3, 13.

4 Xenophon, Mem. I 4, 18; vgl. das ganze Kapitel.

5 Protagoras bei Diels, B 4.

6 Zur Zitierweise vgl. § 11, Anm. 4.

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