Читать книгу Glauben denken - Группа авторов - Страница 26

Weisheit und Wissenschaft: Zur Genealogie der Krise spätmodernen Wissens

Оглавление

Oberflächlich betrachtet scheint sich die moderne Forderung, das unscharfe Wissen alltäglichen Glaubens und Meinens Formen evidenzbasierten Wissens nachzuordnen, bereits bei Platon abzuzeichnen. So scheint die platonische Entgegensetzung von Meinen und Wissen, doxa und episteme, den modernen Mythos zu bestätigen, dass die Geschichte sich unausweichlich in Richtung einer fortschreitenden Rationalisierung unseres „vorwissenschaftlichen“ Alltagsverstandes bewege. Doch das platonische „Wissen“ um das im Modus kontemplativen Betrachtens erschlossene Gute, Vollkommene und Schöne fokussierte paradoxerweise genau auf das, was moderne Menschen als unwissenschaftliche Glaubensangelegenheiten betrachten würden, während das, was wir heute als science bezeichnen (das empirisch fundierte Wissen über wertneutrale Fakten) unter die platonische Kategorie bloßen „Glaubens und Meinens“ fallen würde.7

Dieses Paradox erhellt sich im Lichte einer der aufregendsten Entdeckungen jüngerer Forschung zur Genealogie der Moderne: Die moderne Fiktion einer autonomen Sphäre philosophischen oder empirisch-naturwissenschaftlichen Wissens ist nicht das Produkt heidnischer oder latent säkularer Unterströmungen abendländischer Philosophie, die |63|sich schließlich vom theologisch-metaphysischen Überbau einer kirchlich-klerikalen Weltordnung befreite. Sie ist vielmehr das Produkt eines (in der pastoralen Umsetzung zutiefst klerikalen) spätmittelalterlichen Holzwegs abendländischer Theologie.8

Für die dominierenden Ströme antiken Denkens gründete unser theoretisches Erkennen (theoria) in spirituellen und kontemplativen Praktiken intellektuellen Schauens, die sich dem Weisheitssucher (philo-sophos) durch eine Art von Offenbarung erschlossen. Aus diesem Grund sind Platon, „Aristotles und andere Platoniker“9 ungeeignet, den modernen Säkularisierungsmythos auf ein historisch ausweisbares Fundament zu stellen. Selbst materialistische Strömungen antiken Denkens verstanden sich primär als Repräsentanten einer asketisch-spirituellen Praxis und erst in zweiter Linie als Vertreter konkurrierender philosophischer Doktrinen.10

Die biblisch-patristische Tradition fügte sich bruchlos in diesen Kontext. Von daher war es nur ein kleiner Schritt, die klassisch-platonische Hierarchie von Glauben (doxa) und Wissen (episteme) umzukehren. Fokussierte die kontemplative Praxis des frühen Christentums im Gefolge des jüdischen Hellenismus auf das „Scheinen“, den „Glanz“ der „Herrlichkeit“ Gottes (doxa), der sich im Lobpreis Gottes (doxazein) performativ widerspiegelt,11 so trat nun an die Stelle des (bei Platon noch sekundären) „bloßen Scheins“ (doxa) der „wahre Schein“ (orthe doxa) der Herrlichkeit Gottes, der sich im Modus der „Doxologie“ offenbart: dem kontemplativen Gotteslob, in dem die Christliche Weisheitsliebe zur Ruhe kommt.

Es ist von daher kein Zufall, dass das Wort doxa in der christlichen Tradition zugleich die Herrlichkeit Gottes und die durch ihr Aufscheinen hervorgerufene Haltung antwortenden Verstehens bezeichnete. Der Adjektiv „orthodox“ hatte dementsprechend den Charakter einer Wegweisung: Er erinnerte an den „wahren Schein“ der Herrlichkeit Gottes, der den Gläubigen zum „aufrechten Lobpreis“ Gottes anleitet.

Der biblisch-patristische Sprachgebrauch machte damit auf einen liturgischen Grundzug unseres Wirklichkeitsverstehens aufmerksam. Praktiken des wertschätzenden Lobens (encomium) und Segnens (eulogia), des feierlichen Lobes (hymnein) und der „Doxologie“, |64|des staunenden Lobpreises (logos) angesichts der alles Begreifen übersteigenden Herrlichkeit (doxa) Gottes sind kein übernatürliches Beiwerk, das unsere Vertrautheit mit dem Sein (ens) der Welt ästhetisch überhöht. Wie jüngere phänomenologische Debatten im Gefolge von Marcel Mauss, Jacques Derrida und Jean-Luc Marion gezeigt haben, ist die Logik des Schenkens, Dankens und Lobens gnoseologisch, ökonomisch und politisch fundamental.12 Doch die theologische Diskussion des angelsächsischen Sprachraums bewegte sich rasch über diese phänomenologischen Debatten hinaus. Die Logik des Schenkens und Lobens erwies sich als Schlüssel zum Verständnis jener orthodoxen Traditionen christlichen Denkens, welche die in der Begegnung mit dem fleischgewordenen Schöpfungswort Gottes offenbar gewordene Botschaft von der Verherrlichung (theosis) des Menschen in seiner uneingeschränkten, kosmologischen und ontologischen Tragweite auszubuchstabieren versuchten.

Im Unterschied zur vermeintlich wertneutralen, konstruktivistischen Rationalität objektivierender Wissenschaften ist unser natürliches Wirklichkeitsverstehen nicht ablösbar von Akten des wertschätzenden Lobes. Die eucharistische theoria des Christentums fügt dem streng genommen nichts hinzu, sie leitet lediglich dazu an, die doxologischen Züge unseres Weltverstehens als theologisch, ontologisch und gnoseologisch fundamental zu beglaubigen, und damit jene durch das Christusereignis ausgelöste kosmologische Konversionsbewegung nachzuvollziehen, welche die Kirchenväter, im Gefolge der Paulinischen Theologie, als Anakepalaiosis (Rekapitulation) und Apokatastasis (wiederherstellende Neuordnung der Schöpfungsordnung) bezeichneten.13

Wie die jüngste Forschung nahelegt, kulminierte dieses biblisch-patristische Konversionsprogramm in der Thomanischen Synthese augustinischen, dionysischen und aristotelischen Denkens.14 Das ist umso bemerkenswerter, als die ersten bedeutenden Vorläufer des modern-rationalistischen Versuchs, die doxologischen Züge unseres Wirklichkeitsversterstehens zu neutralisieren, nahezu zeitgleich mit der Philosophie des Dominikaners in der westlichen Philosophiegeschichte aufzutreten begannen, und zwar in Gestalt einer im wesentlichen franziskanischen Bewegung, deren Erkenntnisinteresse latent heterodoxen theologischen Motiven entsprang.15

Die philosophische und wissenschaftsgeschichtliche Tragweite dieses theologisch motivierten Bruchs wird erst im Zuge der wissenschaftlichen Revolutionen des 17. Jahrhunderts manifest. Exemplarisch hierfür sind die in gewisser Weise paradigmatischen |65|Denksysteme von Galileo Galilei, Locke und Descartes (der immerhin noch „Meditationen“ schrieb). Indem man das kontemplative Fundament wissenschaftlichen Erkenntnisstrebens durch das Laboratorium eines neutralen Repräsentationsraums ersetzt, wird die Wissenschaft praktisch. Das Ideal theoretisch-betrachtender Naturerkenntnis (scientia), das bereits bei Platon kontemplative Praktiken des Lobpreises einschloss,16 wird durch die „Kunst“ verdrängt, die Natur mittels Strategien praktisch-technischer Manipulation zu „überlisten“. Eine technokratische Schwundstufe der mittelalterlichen ars tritt an die Stelle der einstigen scientia.17 Als „wissenschaftlich“ gilt von jetzt an nur, was sich im Labor kontrolliert reproduzieren lässt, und damit hört die Rose auf als ein Ens zu erscheinen. Technische Strategien, die Natur zu überlisten, um sie menschlichen Interessen dienstbar zu machen, erscheinen nicht mehr als zweitrangig gegenüber der interessenlosen Wesensschau der Wissenschaften. Das Design wissenschaftlicher „Theorien“ wird dem Interesse an Naturbeherrschung nachgeordnet.

Spätestens im Gefolge der Postmoderne, der ökologischen Krise und dem Siegeszug der Drittelmittelforschung lässt sich die Fragwürdigkeit dieser Fiktion selbst im Kontext wissenschaftstheoretischer und wissenssoziologischer Debatten kaum noch verheimlichen. Die spätmoderne Entdifferenzierung der gesellschaftlichen „Subsysteme“ klassisch moderner Gesellschaften und die damit einhergehende Nivellierung differenter (wissenschaftlicher, ökonomischer, ästhetischer usw.) Rationalitätsstandards konfrontiert uns heute mehr denn je mit einer neo-sophistischen Merkantilisierung des Wissenschafts- und Bildungsmarktes.18 Selbst medizinische Laborexperimente scheinen nunmehr stärker durch die interessengeleitete Selektivität von Novartis, Böhringer-Ingelheim oder der Margarineindustrie als von einem „neutralen Forschungsinteresse“ bestimmt so sein. So bleibt uns zuletzt nur „der huldvolle Gesang der A(u)ktio-näre als einzig lockende Litanei?“19 Wissenschaftliche Unvoreingenommenheit setzt eben doch mehr voraus als den klinisch abgedichteten Raum eines artifiziellen Labors.

Die vormoderne Tradition hatte demnach gute Gründe, das Streben nach interessenloser, kontemplativer Naturbetrachtung mit dem Streben nach dem Wahren, Guten und Schönen in eins zu setzen und in der Konsequenz manipulative Strategien der Naturbeherrschung als zweitrangig einzustufen. Das Schöne und Gute, das unseren Lobpreis |66|verdient, lehrt uns zu verstehen, was es heißt, etwas um seiner selbst willen zu betrachten oder zu tun. Und genau in diesem Sinne hat selbst das Ethos wissenschaftlichen Wahrheitsstrebens ein „liturgisches“ Fundament. Bleibt doch selbst die Anerkennung mathematischer Evidenzen an einen doxologischen Rest „glaubenden“ Verstehens gebunden.20 Das Ideal wissenschaftlicher Unvoreingenommenheit ist nicht ablösbar vom öffentlich zelebrierten Lobpreis dessen, was unser evidenzbasiertes Verstehen übersteigt, und sei es auch nur, dass wir die (wissenschaftlich niemals vollständig beweisbaren) Errungenschaften Darwins, Newtons oder Einsteins preisen, ohne damit einen Hintergedanken zu verfolgen.

Das Zeitalter von Google und Facebook hat uns diesen Grundzug alltäglichen Wirklichkeitsverstehens erneut in Erinnerung gerufen. Der Überfluss an Information lässt die Selektivität vorwissenschaftlichen und wissenschaftlichen Verstehens zu einem vorrangigen Problem avancieren. Der Wahrheitssuchende hat von Fall zu Fall zu entscheiden, welche „wahren Sätze“ wert sind, wieder erinnert zu werden: Wahr ist, was unsere öffentliche Wertschätzung verdient (im Facebook-Jargon Like), und damit kommt erneut der Lobpreis rational unableitbarer „Glaubensgewissheiten“ ins Spiel. Es gibt keine „natura pura“.21 Unsere Erkenntnis des „Natürlichen“ lässt sich nicht rückhaltlos von der Erkenntnis des „Übernatürlichen“ abkoppeln. Und wo man es dennoch versucht, mündet die humanistische Verherrlichung natürlichen Erkennens früher oder später ein in den post-humanistischen Fetischkult quantifizierbaren Wissens.

Die Scheidelinie zwischen „säkularen“ und „religiösen“ Lebensformen verläuft folglich nicht zwischen „Glaube“ und „Wissen“, sondern zwischen Lebensformen, die doxologische Praktiken des Glaubens und Wertschätzens rational kultivieren, und solchen, die sie der fideistischen Beliebigkeit subjektiver Glaubenspraktiken oder der Magie des post-modernen Fetischkults überlassen – sei es in Gestalt der pekuniären Wertschätzung des Marktes, sei es in Gestalt seines virtuellen Äquivalents, des symbolischen Kapitals akkumulierter Aufmerksamkeit in Gestalt von „Trefferquoten“.

Glauben denken

Подняться наверх