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Wahrheit und Orthodoxie

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Die spätmoderne Renaissance platonischen Denkens erinnert vor diesem Hintergrund daran, dass bereits Platon sein philosophisch-spirituelles Aufklärungsprogramm als Antwort auf eine Form sophistischer Merkantilisierung des Wissens verstand. Das kontemplative Denken der platonisch-hellenistischen Tradition war, ebenso wie das liturgisch fundierte Aufklärungsprogramm der biblisch-abrahamitischen Tradition, |67|seit jeher darauf ausgerichtet, der dämonischen oder sophistischen Verselbständigung ungebremst flottierender Praktiken des Lobpreises zuvor zu kommen. „Ortho-dox“ zu sein bedeutete konsequenterweise im Gefolge der christlichen Metamorphose des hellenistischen Erbes vor allem eines: aufrechtes (orthos) Lob der Herrlichkeit (doxa) Gottes. Der Häretiker galt nicht als Anhänger verdrehter Ideologien. Der Häretiker galt als Heuchler, weil er den aufrechten Lobpreis in Idolatrie verkehrt, indem er symbolische Platzhalter der Herrlichkeit Gottes mit Gott selbst und den unbegreiflichen Namen Gottes mit den allzu begreiflichen Kreationen dogmatischer Gelehrsamkeit verwechselt.22

Wer sich in seinem öffentlichen Leben darauf beschränkt, die kulturellen Errungenschaften endlicher Kunstfertigkeit zu preisen, tut demzufolge nichts anderes als das, was die abrahamitische Tradition als Götzendienst und apophatische Philosophen wie Nikolaus von Kues (1401–1464) als Idolatrie bezeichneten: Er oder sie „gibt dem Bilde, was nur der Wahrheit gebührt.“23 Die orthodoxe Christin verehrt nicht die begrifflichen Kreationen und Projektionen ihres Intellekts. Sie betet an, was ihr Begreifen per definitionem übersteigt. Endliche Geschöpfe oder artifizielle Kreationen haben an der Unbegreiflichkeit Gottes in unterschiedlichen Graden teil (von daher die fundamentale Bedeutung des platonischen Partizipationsgedankens), doch nur das, was das narzisstische Verlangen nach kontrollierbarem Wissen übersteigt, verdient um seiner selbst willen angebetet zu werden. Nur die Herrlichkeit Gottes verdient unsere rückhaltlose Bewunderung. Quia ignoro adoro sagt der Christ zum erstaunten Heiden zu Beginn von Nikolaus von Kues’ Dialog De deo abscondito: Ich bete meinen Gott an nicht obwohl, sondern gerade weil er mein Begreifen übersteigt.

Genau aus diesem Grund hat der gelebte Glaube religiöser und weisheitlicher Traditionen den Charakter eines genuin-philosophischen Erkenntnisprinzips. Als angelsächsische Religionsphilosophen im vergangenen Jahrhundert in den Spuren Ludwig Wittgensteins den Zusammenhang von gelebtem Glauben und religiösem Wirklichkeitsverstehen systematisch zu erforschen begannen, wurden sie von philosophischer Seite als Anti-Realist(inn)en und von theologischer Seite als Fideist(inn)en verdächtigt. Es schien, als liefe dieses Projekt darauf hinaus, die übernatürliche Weisheit der Weltreligionen vom natürlichen Erkennen der Wissenschaften abzukoppeln. Erst in den beiden letzten Jahrzehnten wurde klar, dass Philosophen wie D.Z. Phillips damit nur einer Renaissance des philosophischen Realismus der Vormoderne den Weg bereiteten. Von Clemens von Alexandrien über Dionysius Areopagita bis hin zu Thomas von Aquin und Nikolaus von Kues hatte das philosophisch-theologische Denken des westlichen wie östlichen Christentums seinen Ort in einer liturgisch geprägten Lebensform.24 Prosper |68|von Aquitaniens notorische Kurzformel lex orandi lex credendi bilanzierte nur ein gnoseologisches Prinzip, das der Sache nach bereits für Platon unstrittig war. Dieses Prinzip als antirealistisch zu denunzieren wäre noch zur Zeit des Heiligen Thomas niemandem in den Sinn gekommen. Steht der kritische Realismus des Aquinaten dem Denken vermeintlicher Anti-Realisten wie D.Z. Phillips doch durchaus näher als dem naiv-repräsentationalistischen Realismus eines Richard Swinburne oder Alvin Plantinga.25

Wir sind wieder in der Wirklichkeit angekommen – an philosophischen Maßstäben gemessen hat der common sense-Realismus der Vormoderne seinen modernen Tod überlebt. Doch das bedeutet noch lange nicht, dass wir das klerikal-szientistische Umerziehungsprogramm der Moderne bereits hinter uns gelassen haben. Ist das, was man als einen liturgisch qualifizierten common sense-Realismus bezeichnen könnte doch weder mit einem „hausbackenen“26 puritanisch-pragmatischen common sense-Realismus im Stile von Reid, Rorty oder Plantinga zu verwechseln noch mit jenen rationalistischen Mythen des Alltags, die das kulturell ermüdete Abendland heute mehr denn je als „säkular“ erscheinen lassen.

Wie tief sich diese Mythen in den vorwissenschaftlichen Alltagsverstand eingegraben haben, zeigt sich nirgends deutlicher als in unserem alltäglichen Umgang mit der Gottesfrage. Um mit der Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong zu sprechen: „Heute meinen […] viele, sie könnten, bevor sie sich nicht von der Existenz Gottes überzeugt hätten, kein authentisches religiöses Leben führen. Das ist solides wissenschaftliches Denken: Bevor man ein Prinzip anwendet, muss man es zunächst beweisen. Für Buddha und Konfuzius war es genau umgekehrt.“27

Wie Armstrong am Beispiel des vermeintlichen „Rationalisten“ Anselm von Canterbury aufzeigt, gilt diese Umkehrung auch für das vormoderne Christentum: „Als Anselm von Canterbury betete: credo ut intellegam, gewöhnlich übersetzt als ‚Ich glaube, damit ich erkennen kann‘, meinte er nicht, dass er erst seinen Geist zwingen muss, die Glaubensartikel zu akzeptieren […] Man sollte die Wendung so übersetzen: ‚Ich engagiere mich, damit ich verstehe.“28 Nicht ohne Grund beginnt Anselms Proslogion mit einer doxologischen Anrede:29 Der betende Lobpreis ist die elementarste Form, sich zu engagieren – und natürlich auch die elementarste Form, einer Wirklichkeit treu zu bleiben, die den Horizont „virtueller Realitäten“ übersteigt.

Erst vor diesem Hintergrund wird begreiflich, warum die orthodoxe Tradition christlicher Theologie, in Ost und West, sich bis ins Hochmittelalter fraglos als mystische |69|Theologie verstand, und warum „apophatische“ (verneinende) Strategien das Unbegreifliche „apophantisch“ (enthüllend) sichtbar werden zu lassen keineswegs im agnostischen Dunkel erhabener Mysterien enden müssen.30

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