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Faktizität und Fiktionalität

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Ein Weiteres kommt hinzu: Durch die exegetische Arbeit seit Aufkommen der historisch-kritischen Methode und dann ihrer Zulassung auch im katholischen Bereich Mitte des letzten Jahrhunderts hat sich eine Problematik zusammengeballt, für die ich bislang in der systematischen Theologie kaum Sensibilität, geschweige denn eine ernsthafte Auseinandersetzung finden kann: die Frage von Faktizität und Fiktion. Was folgt denn daraus, dass es ausweislich des vollkommenen Fehlens archäologischer Spuren einen Exodus Israels aus Ägypten nie gegeben hat und vielleicht auch keinen historischen Moses, obwohl die Erzählung davon – inklusive der Sinaiereignisse – zu den Konstitutionsnarrativen der biblischen Traditionen, also auch des Christentums gehört? Und auch die kriegerische Einnahme des „gelobten Landes“ ist ausweislich der erhaltenen Spuren Fiktion, weil es sich in Wirklichkeit um ein langsames Einsickern nomadisierender Stämme in bereits sesshafte Populationen handelte. Der salomonische Tempel scheint nach heutigem Wissenstand 200 Jahre später als biblisch datiert errichtet worden und auch noch mit Gottesbildern, gar solchen von JHWH und seiner Aschera, ausgestattet gewesen zu sein. Und das babylonische Exil war so wenig das alttestamentlich schwarz in schwarz gemalte Jammertal, sodass nach seinem Ende offenkundig nur eine Minderheit den Rückweg Richtung Jerusalem antrat und die Mehrheit in der anscheinend so angenehmen Fremde blieb bis – sage und schreibe – bis zu dem Irakkrieg von 2003. Das ist noch nicht alles. Dieser Clash von Historie und Fiktion endet nicht an den Rändern des sogenannten Alten Testaments. Er betrifft genauso die Stiftungsurkunden des Christentums, die „Neues Testament“ heißen. Was ist wirklich historisch an den Erzählungen der Evangelien? Das diesbezüglich halbwegs Verlässliche – immer genommen selbstverständlich als Hypothese im Sinn der modernen Historiographie – dürfte auf eine Postkarte passen, meinte schon in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts der Fundamentaltheologe Eugen Biser. Die ganzen Kindheitsgeschichten Jesu nach Matthäus und Lukas entpuppen sich unter diesem historisch-kritischen Zugriff als theologische Narrative aus dem Geist der jüdischen Traditionen inklusive ägyptischer Motive. Für die Ostergeschichten gilt das Gleiche. Sind sie deswegen belanglos? Nur dann, wenn die Sachfrage in den fruchtlosen Antagonismus zwischen Historie und Poesie getrieben wird. Das dreibändige Jesus-Buch von Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. führt genau das – unerachtet der sprachlich-spirituellen Schönheit etlicher seiner Passagen – bis zum Exzess vor.4 Ein Kurt Flasch, ein |84|Peter Bieri oder ein Urs Widmer (um nur willkürlich Namen aufzurufen) entziehen sich dieser Aporie, indem sie die Poesie der „heiligen Texte“ zuhöchst schätzen und bewundern, ohne dass ihnen deswegen irgend ein Wahrheitsanspruch zugeschrieben würde. Die beiden Letztgenannten brachten das bei einer gemeinsamen Dichterlesung auf den Nenner, dass es sich bei Gott um eine menschliche Projektion handle, die wir Menschen bräuchten, weil wir es mit uns selbst nicht aushielten.5

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