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Die mystischen Fundamente christlicher Gelehrsamkeit

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Im Unterschied zur am Primat liturgisch geprägter Alltagspraktiken orientierten christlich-orthodoxen Tradition, erliegen moderne Versuche, die mystischen Fundamente christlicher Gottesrede zu rekonstruieren, häufig der Versuchung, die Erkenntnis der Verborgenheit Gottes mit einer Entzugserfahrung zu verwechseln – als entspränge die Unbegreiflichkeit Gottes aus der mystischen Erfahrung seiner Abwesenheit.31 Dabei wird verkannt, dass der Gebrauch von Bejahungen (kataphasis) und Verneinungen (apophasis) nur den Charakter einer „second order language“ hat. Die reflexive Sprache mystagogischer Bejahungen und Verneinungen ist nicht ablösbar von ihrem präreflexiven Fundament: der orthodoxen Überzeugung, dass unser Sprechen von Gott aus der Teilhabe an dem erwächst, was Hans-Urs von Balthasar im Anschluss an Maximus Confessor als „kosmische Liturgie“32 bezeichnete. Das theologische Sprechen entfaltet sich in einer mystagogischen Spiralbewegung, die sich in Sprechakten des Sagens (kataphase) und Ent-Sagens (apophase) artikuliert, um sich schließlich in der höchsten und zugleich ursprünglichsten Form kreatürliche Gottesrede zu vollenden, dem sprachlosen Lob Gottes, „wo die Stille des Schweigens eine Weise des Sprechen ist“ (ubi silere est loqui).33

Bereits Thomas von Aquin hatte diesen doxologischen Modus der Gottesrede, in den Spuren von Dionysius Areopagitas’ Synthese der biblisch-patristischen Tradition christlicher Orthodoxie,34 als die höchste Form von Wissenschaft bezeichnet (scientia dei and beatorum).35 Nikolaus von Kues folgte dieser Spur, als er in einem der letzten bedeutenden |70|Versuche, den symbolischen Realismus der Vormoderne über die Schwelle der Neuzeit zu retten, die höchste Form wissenschaftlichen Denkens im Gotteslob verortete: „Die Höchste Wissenschaft besteht im Lobpreis Gottes, der alles aus seinen Lobpreisungen und zu seinem Lobpreis gebildet hat.“36.

Der Stellenwert dieser erkenntnistheoretischen Verortung des Lobpreises wird erst begreiflich, wenn man sich mit Cusanus klarmacht, dass wir etwas nicht deshalb preisen, weil wir es als wahr, gut oder schön beurteilen. Es ist vielmehr umgekehrt: Wenn unser Lobpreis genuin ist, und nicht bloß aus einem Herdeninstinkt entspringt, dann beurteilen wir etwas als wahr, gut oder schön, weil es uns in Staunen versetzt und unseren Lobpreis hervorruft, ohne dass wir einen Gedanken darauf verschwenden müssen, warum wir das tun.37 Ähnliches gilt für Thomas von Aquin.38 Liturgische Akte des Lobpreisens und Danksagens überschreiten die „second order language“ bewertender Reflexion. Um einen modernen Ausdruck zu gebrauchen: Die Wissenschaft des Lobes hat ein prä-reflexives Fundament.

Dieses Phänomenon erlaubt uns, die Differenz zwischen der affirmativen Sprache des Lobpreises und der dialektisch zwischen Bejahungen und Verneinungen unterscheidenden „second order language“ theologischer Reflexion etwas präziser zu bestimmen. Unser Lobpreis stützt sich nicht auf wahre oder falsche Urteile. Wir beurteilen vielmehr etwas als wahrhaftig, vollkommen oder schön, weil es unseren Lobpreis motiviert, und jeder Versuch, dies nachträglich, basierend auf propositionalen, zwischen wahr und falsch unterscheidenden Sätzen zu rechtfertigen, ist zumindest in letzter Instanz zu verneinen.

Aus diesem Grund sind wahrheitsfunktionale Propositionen auf Gott nicht anwendbar. Sein Wesen ist uns doch nur durch dessen Wirkungen erschlossen: Allein die Herrlichkeit (doxa) Gottes legitimiert unseren doxologischen Lobpreis und allein das authentisch Lob ist in der Lage, dieser elementarsten Form von Gotteserkenntnis Ausdruck zu verleihen.

Wie die gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts geführte phänomenologische Kontroverse zwischen Jacques Derrida und Jean-Luc Marion über den Status doxologischer Sprechakte bei Dionysius Areopagita gezeigt hat, artikuliert diese hymnische Sprache keine Form propositionalen Wissen. Sie ist aber dennoch nicht ohne Bezug auf die propositionale Unterscheidung zwischen Wahrem und Falschem,39 denn sie macht |71|eine fundamentale Voraussetzung unseres Wahrheitsverstehens explizit. Die symbolische Sprache des Lobs ist „wissenschaftlich“ nicht im Sinne von „prädikativen“ Sprachformen, die auf endliche Erkenntnisgegenstände referieren, indem sie einem grammatischen Subjekt (x) Prädikate (P1, P2, P3…) zu (1) oder absprechen (0). Die Sprache der Liturgie antwortet auf ein elementareres Problem wissenschaftlichen Erkennens: Sie steuert unsere Aufmerksamkeit und entscheidet darüber, wie wir die Fragen interpretieren, auf die wahre oder falsche Sätze antworten.

Im Anschluss an Martin Heidegger, Ernst Tugendhat und Manfred Frank kann man an diesem Punkt zwischen zwei Modi des Wahrheitsverstehens unterscheiden.40 Wahrheitsfunktionale Propositionen, die in diskreter Weise zwischen „wahr“ und „falsch“ unterscheiden, haben den Charakter einer second order language, entsprechen also Wahrheit2. Im Unterschied dazu grenzt Wahrheit den Horizont ein, innerhalb dessen wahre oder falsche Antworten auf Fragen im Sinne von Wahrheit2 als sinnvoll erscheinen. Wenn wir z.B. über die Spuren eines Ereignisses nachdenken („Mama, warum brennt da eine Kerze in der Kapelle?“), dann steuert Wahrheit1 unsere Gabe zwischen sinnvollen („Sie brennt, weil dort gerade eine Beerdigung stattgefunden hat“) und sinnlosen Wahrheit2-Antworten („Sie brennt, weil Sauerstoff in der Kapelle ist“) auf unser denkendes Fragen zu unterscheiden.

Das Gotteslob überschreitet den Horizont diskursiven Verstehens, doch das hindert es nicht daran, als wahrheitsrelevant und sogar als konstitutiv für das Wahrsprechen der Wissenschaften zu erscheinen. Jenseits propositionaler oder dialektischer Entgegensetzungen hat es den Charakter einer analogen, nicht-prädikativen Wahrheit, die (im Sinne Martin Heideggers) den Verstehenshorizont prädikativen Wissens erschließt. Um Paul Klees berühmtes Kreatives Credo von 1920 zu paraphrasieren:41 Das Gebet gibt nichts wieder (Wahrheit2), es lässt sichtbar werden (Wahrheit1) Ohne dem Betrachtenden zu sagen, was „wahr oder falsch“ ist, erschließt es ihm einen Zugang zu dem, was als möglicher Gegenstand denkenden Fragens Beachtung verdient.

Nikolaus von Kues bezeichnete diesen Möglichkeitshorizont als das „Können-Sein“ (possest) oder auch das „Können Selbst“ (posse ipsum). Das Gotteslob bringt das „Können Selbst“ (posse ipsum)42 zur Sprache, die reine „Möglichkeit“ (possibilitas) all dessen, was sich als bedeutungsvoll und wahr zu erweisen vermag. In seiner Schrift Über den Gipfel der Kontemplation (1464) setzt Cusanus dieses, die Aufmerksamkeit des Forschenden auf sich ziehende, reine „Können“ (posse) mit dem unsichtbaren Licht der mystischen Theologie des Dionysius Areopagita gleich:

|72|„Das Können Selbst (posse ipsum) wird daher von einigen Heiligen Licht genannt – nicht das sinnliche wahrnehmbare oder das des Verstandes oder der Vernunft, sondern das Licht von allem das leuchten kann.“43

Dieses unsichtbare Licht gibt uns nicht „etwas“ (im Unterschied zu etwas anderem) zu sehen. Es lässt sichtbar werden, indem es unsere Bewunderung (admiratio) hervorruft, unsere Aufmerksamkeit aufreizt (attractio) und unser Erkenntnisstreben in eine Richtung lenkt, die unseren Verstehens- und Erwartungshorizont überschreitet.44 Kurz, das unsichtbare Licht reinen „Könnens“ manifestiert sich im Modus einer Theophanie, die uns selbst rational Undenkbares als „möglich“ erscheinen lässt.

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