Читать книгу Der Arztroman Koffer Oktober 2021: Arztroman Sammelband 10 Romane - A. F. Morland - Страница 35

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Dieser sonnige Montag war ein sogenannter Fenstertag, eingebettet zwischen einen Sonntag und einen Feiertag. Viele von Dr. Sven Kaysers Patienten hatten sich frei genommen und das lange Wochenende für einen Kurzurlaub genutzt. Sie waren ihrem grauen Alltag entflohen und nach Österreich, in die Schweiz oder nach Italien ausgeschwärmt und verbrachten in den Bergen, an irgendeinem See oder am Meer eine schöne Zeit.

Selten war das Wartezimmer im Grünwalder Arzthaus so leer. Während Schwester Marie-Luise in einem Nebenraum die schmerzende Schulter einer Patientin mit Ultraschall behandelte, unterhielt sich Schwester Gudrun mit Frau Marmann, einer langjährigen Patientin des praktischen Arztes.

Frau Marmann schien Sorgen zu haben. Gudrun Giesecke hatte sie darauf angesprochen, und die Patientin hatte deprimiert gesagt: „Ach, Schwester, bei mir daheim hängt zur Zeit der Haussegen ziemlich schief.“

„Wieso denn dat?“, fragte die korpulente Berlinerin überrascht. „Ick hatte bisher immer den Eindruck, Se würden sich mit Ihrem Mann blendend vastehen. Kleene Reibereien kommen in jeder Ehe vor, die darf man nich überbewerten.“

„Das tue ich auch nicht ...“ Die neunundfünfzigjährige mollige Frau brach ab und seufzte schwer.

Gudrun Giesecke senkte ihre Stimme. „Wat hat’s denn jejeben?“, fragte sie in vertraulichem Ton.

„Ich habe das unansehnliche Porzellan der Großmutter meines Mannes zerschlagen.“

„Absichtlich?“

„Nicht absichtlich. Mir ist beim Tapezieren des Wohnzimmers die Leiter in die Schrankvitrine gefallen, und dabei ging das gesamte Geschirr zu Bruch.“

„War wohl sehr wertvoll, wa?“

„Nicht besonders. Es hatte mehr ideellen Wert.“

„Für Ihren Mann.“

Lotte Marmann nickte. „Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir uns schon vor Jahren von diesem hässlichen Geschirr getrennt, aber mein Mann war dazu nicht zu bewegen.“

„Und nu nimmt er offenbar an, Se hätten die Leiter absichtlich in die Vitrine jestoßen, um dat alte Zeug loszuwerden.“

„Genauso ist es“, bestätigte die Patientin. „Er ist wütend auf mich. Und weil er mir meine Unschuldsbeteuerungen nicht glaubt, bin ich wütend auf ihn. Wir sprechen nicht mehr miteinander ...“

Die korpulente Arzthelferin rümpfte die Nase und schüttelte den Kopf. „Dat is nich jut.“

„Was wir einander unbedingt mitteilen müssen, schreiben wir auf Zettel ...“

„Bitte vastehen Se mir nich falsch, Frau Marmann, aber is dat nich ’n bisscken kindisch?“

„Natürlich ist es das“, gab Lotte Marmann unumwunden zu, „und ich würde diese unerquickliche Situation auch gerne beenden, aber mein Mann hält störrisch daran fest.“

Die Tür zu Dr. Kaysers Sprechzimmer öffnete sich. Ein Mann mittleren Alters erschien. Der Grünwalder Arzt gab ihm die Hand. „Auf Wiedersehen, Herr Speiser“, sagte er. „Wir sehen einander in vierzehn Tagen wieder. Lassen Sie sich von Schwester Gudrun gleich einen Termin geben. Und vergessen Sie nicht, Ihre Medikamente regelmäßig einzunehmen.“

„Danke, Herr Doktor“, sagte der Patient und wandte sich an die alte Sprechstundenhilfe.

„Na, dann wollen wa mal sehen, wat wa für Se tun können, Herr Speiser“, sagte die Berlinerin freundlich. Sie nickte Lotte Marmann zu. „Jetzt sind Sie dran.“

Die Patientin betrat das Sprechzimmer des Grünwalder Arztes. Dr. Kayser forderte sie auf, sich zu setzen. Er nahm hinter seinem Schreibtisch Platz und fragte Frau Marmann, was er für sie tun könne.

„Im Fernsehen heißt es immer: Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage und fragen Ihren Arzt oder Apotheker“, sagte Lotte Marmann. Sie hatte kinnlanges brünettes Haar und große dunkelbraune Augen. Das Kleid, das sie trug, war einfach geschnitten und sehr elegant. „Wie Sie wissen, habe ich Venenprobleme, und mir stach da kürzlich in einer Illustrierten eine Annonce ins Auge ... Warten Sie, ich habe sie ausgeschnitten und mitgebracht.“ Sie öffnete ihre Handtasche und holte das bedruckte Papier heraus. „Hilft bei Krampfadern. Fördert die Durchblutung. Strafft die Venen“, las sie vor. „Langes Sitzen und Stehen belasten die Beine. Das Bindegewebe erschlafft und das Blut staut sich in den Venen. Geschwollene und schwere Beine, Venenschmerzen und Krampfadern sind die häufige Folge. Hier hilft Antistax. Denn Antistax besitzt die Kraft des roten Weinlaubs in hochkonzentrierter Form. Antistax mit dem Extrakt des roten Weinlaubs entstaut und strafft die Venen, nimmt den Druck und lindert den Schmerz.“ Die Patientin schob Dr. Kayser die Anzeige über den Schreibtisch zu. „Antistax gibt es in Tropfen, als Kapseln und als Creme, und ich hätte von Ihnen gerne gewusst, ob Sie das Präparat kennen und was Sie davon halten, Herr Doktor.“

Sven Kayser kannte das Mittel nicht nur, er fand es aus medizinischer Sicht auch durchaus vertretbar, es der Patientin zu empfehlen.

„Dann werde ich es mir gleich heute aus der Apotheke holen“, sagte Lotte Marmann.

Als der Grünwalder Arzt sich nach ihrem Mann erkundigte, erfuhr auch er, zu welcher folgenschweren Katastrophe es im Hause Marmann gekommen war.

„Ich würde das dumme Zettelschreiben ja eine ganze Weile durchhalten“, sagte die Patientin und verdrehte die Augen, „aber diese leidige Angelegenheit findet zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt statt. Karina steckt mitten in den Hochzeitsvorbereitungen ...“

„Wie geht es Ihrer Tochter?“, warf Dr. Kayser ein.

„Sie hat eine Menge Stress und ist dankbar für jede Hilfe, die sie bekommen kann. Deshalb bin ich auch so oft wie möglich bei ihr und greife ihr unter die Arme. Wenn mein Mann weiter so stur bleibt, gefährdet er noch unsere gemeinsame Teilnahme an der Hochzeit.“

„Soweit dürfen Sie es nicht kommen lassen.“

Lotte Marmann hob abwehrend die Hände. „Es liegt nicht an mir. Ich habe mich für mein Missgeschick entschuldigt. Mehr kann ich nicht tun. Solange Josef mir nicht glaubt, dass ich die Leiter nicht absichtlich in die Vitrine gestoßen habe, bleiben die Fronten verhärtet.“ Die Patientin erhob sich.

Dr. Kayser stand ebenfalls auf. Er gab Lotte Marmann die Hand. „Ich wünsche Ihrer Tochter und deren zukünftigem Ehemann alles Gute“, sagte er.

„Ich werde es den beiden ausrichten.“

„Und Ihnen und Ihrem Mann wünsche ich eine rasche Versöhnung.“

„Die wünsche ich mir auch“, sagte Lotte Marmann niedergeschlagen und verabschiedete sich.

Sie verließ das Grünwalder Arzthaus und fuhr nach Hause. Unterwegs hielt sie kurz an, um sich das Venenmittel aus der Apotheke zu holen.

Daheim fand sie eine stille, leere Wohnung vor. Auf dem Küchentisch lag ein neuer Zettel: Bin geschäftlich in Nürnberg, komme spät nach Hause.

Josef Marmann war Versicherungsvertreter. Einer von denen, die ihren Kunden rund um die Uhr zur Verfügung standen. Man konnte ihn zu jedem Tag und Nachtzeit anrufen. Er war für alle jederzeit mit Rat und Tat zur Stelle.

Das wussten die Leute zu schätzen, und es wäre für sie undenkbar gewesen, bei neuen Versicherungsabschlüssen an einen anderen Versicherungsberater zu denken, wo sie mit Josef Marmann doch so sehr zufrieden waren.

Lotte zog sich um und fuhr zu ihrer Tochter Karina. Sie hatte noch eine zweite Tochter: Nina. Diese war zehn Jahre älter als ihre Schwester, also vierunddreißig, und dachte nicht im Traum daran, zu heiraten.

Ihr gefiel es, als Single zu leben, nach Belieben Freunde zu haben und diese jederzeit fortschicken zu können, wenn sie genug von ihnen hatte.

„Heiraten ist nicht mehr zeitgemäß“, pflegte sie zu antworten, wenn jemand sie fragte, ob sie nicht auch endlich mal Lust hätte, in den heiligen Stand der Ehe zu treten. Und sie bewies ihre Behauptung mit dem statistisch dokumentierten Argument, dass jede dritte Ehe geschieden wurde.

Aber sie riet ihrer Schwester deshalb nicht ab, Hardy Evers’ Frau zu werden, denn sie war der Meinung, dass jeder nach seiner Fasson glücklich werden solle, und sie konnte sich sogar vorstellen, dass die Ehe von Karina und Hardy halten würde, eine Ausnahme von der Regel.

Karina und Hardy waren in jedermanns Augen das ideale Paar. Wer die beiden sah, erkannte sofort, dass sie füreinander geschaffen waren.

Sie wohnten bereits zusammen in einem Haus, das der junge Mann von einer entfernten Tante geerbt hatte. Im Grunde genommen führten sie bereits seit einem Jahr so etwas wie eine Ehe, doch Hardy wollte, dass alles seine Ordnung hatte, und deshalb sollte ihre Beziehung demnächst mit einem Trauschein legalisiert werden.

Lotte Marmann stieg direkt vor dem Haus aus. Ihr fiel auf, dass ihr zukünftiger Schwiegersohn die Fensterläden frisch gestrichen hatte. Es gefiel ihr, dass der junge Mann so arbeitsam und ordentlich war.

Hardy Evers war Lehrer, wie Karina. Er unterrichtete Mathematik, Deutsch und Geschichte. Karina war in derselben Schule als Aushilfsturnlehrerin tätig gewesen, und seitdem die Kollegin, die sie vertreten hatte, nach ihrer Babypause zurückgekehrt war, war sie auf der Suche nach einer neuen Anstellung.

Lotte Marmann läutete an der Haustür.

„Es ist offen!“, rief drinnen Karina.

Ihre Mutter trat ein. Karina kam aus der Küche. Sie trug Jeans und ein Poloshirt von Hardy und sah trotz ihrer „Windstoßfrisur“ hübsch aus.

„Mama“, seufzte sie. „Schön, dass du da bist. Ich bin mal wieder nahe daran, die Nerven wegzuschmeißen. In diesem Haus geht es drunter und drüber. Wir hatten einen Rohrbruch. Der Installateur musste ein riesiges Loch in die Wand stemmen. Hardy ist nun dabei, es zuzumachen und neue Fliesen darüber zu kleben. Wir finden unsere Flugtickets nicht, und ich befürchte, dass mein Brautkleid nicht rechtzeitig fertig wird ...“

„Wieso findet ihr eure Flugtickets nicht?“

„Keine Ahnung.“ Karina zuckte mit den Schultern. „Sie sind einfach nicht mehr da. Ich frage mich, wie wir unsere Hochzeitsreise ohne sie antreten wollen.“ Die Frischvermählten wollten zwei Wochen in der Karibik verbringen, auf Jamaika.

„Man kann euch Ersatztickets ausstellen.“

„Leider haben sich nicht nur die Tickets, sondern sämtliche Reisepapiere in Luft aufgelöst.“

„Wer hat sie zuletzt gesehen?“

„Ich glaube Hardy. Hardy glaubt, dass ich sie zuletzt in der Hand hatte.“

„Wo habt ihr sie gesucht?“

„Überall. Wir haben das ganze Haus auf den Kopf gestellt.“

„Seit wann vermisst ihr sie?“

„Seit heute. Ich habe schon mal ein paar Sachen eingepackt ...“

„Dein Vater und ich waren mal mit Freunden auf Urlaub, die haben ihre Pässe mit eingepackt, ohne es zu bemerken ...“

Karina ließ ihre Mutter stehen und sauste wie ein Wirbelwind die Treppe hoch. Kurz darauf schrie sie erfreut auf, erschien am oberen Ende der Treppe und wedelte glückstrahlend mit den Reisedokumenten.

„Da sind sie!“, rief sie erleichtert. „Hardy! Hardy! Ich habe die Tickets gefunden!“

Hardy kam aus dem Bad, von Kopf bis Fuß mit Fliesenkleber beschmiert. Er bemerkte Lotte Marmann. „Oh, hallo, Mutter!“

„Tag, Hardy“, gab seine zukünftige Schwiegermutter zurück. Sie mochte den jungen, gutaussehenden Mann, hatte ihn in ihr Herz geschlossen wie einen leiblichen Sohn. Da er keine Eltern mehr hatte, hätte es sie glücklieh gemacht, wenn sie für ihn als Mutter hätte da sein dürfen.

Er schaute auf die Reisepapiere und fragte, wo sie gewesen waren. „Ich habe sie irrtümlich eingepackt“, gestand ihm Karina kleinlaut.

Er lächelte. „Hauptsache, sie sind wieder da. Leg sie bitte in die mittlere Lade des Wohnzimmerschranks, damit sie nicht noch mal verschwinden.“ Er rief Lotte Marmann zu sich hoch und zeigte ihr das Chaos im Bad.

„Zum Glück bist du handwerklich begabt“, sagte sie. „Wenn du auf einen Fliesenleger warten müsstest, wäre das Loch in einem Monat noch nicht zu. Wegen so einer relativen Kleinigkeit lässt sich niemand einen fetten Auftrag durch die Lappen gehen.“ Sie kehrte ins Erdgeschoss zurück. Karina hatte die Reisepapiere inzwischen in die Lade gelegt. Sie schüttelte den Kopf und sagte: „Was man in Gedanken so alles tut.“

„Hardy hat sich großartig verhalten“, befand Lotte Marmann. „Dein Vater hätte mir eine Szene gemacht ...“ Karina musterte ihre Mutter gespannt. „Ist zwischen euch wieder alles in Ordnung?“

Lotte Marmanns Miene verfinsterte sich. „Leider nein.“

„Wie kann Paps nur so unversöhnlich sein?“

„Er hat an dem alten Porzellan gehangen. Ich wusste gar nicht, wie sehr.“

„Ich möchte nicht, dass einer von euch meiner Hochzeit fernbleibt. Das ist der glücklichste Tag in meinem Leben. Den müsst ihr gemeinsam mit mir verbringen.“

Lotte Marmann ging nicht darauf ein. Sie schwieg einen Augenblick. Dann sagte sie: „Was war die zweite Hiobsbotschaft, mit der du mich vorhin empfangen hast? Ach ja. Du befürchtest, dass dein Brautkleid nicht rechtzeitig fertig wird.“

Karina ächzte. „Warum musste ich mir auch ein Maßkleid einbilden? Eines von der Stange hätte es doch auch getan. Schließlich habe ich eine ganz normale Figur. Und falls irgendwelche geringfügige Änderungen erforderlich gewesen wären, wären die in null Komma nichts erledigt gewesen.“

„Du wirst in deinem maßgeschneiderten Brautkleid wie eine Märchenfee aussehen.“

„Wir hätten damit nicht Tante Dolly betrauen sollen“, sagte Karina unglücklich. Dolly Dolores Haller war Vaters ältere Schwester und ging auf die Siebzig zu.

„Warum nicht?“, fragte Lotte Marmann.

„Sie ist alt, sieht schlecht, arbeitet langsam ... Sie ist damit einfach überfordert.“

„Wieso glaubst du das?“

„Ich habe heute mit ihr telefoniert.“

„Und was hat sie gesagt?“

„Dass das Kleid rechtzeitig fertig wird.“

„Na also.“

„Ja, aber du hättest hören sollen, wie sie das sagte. Sie schien sich dessen absolut nicht sicher zu sein. Ich sehe mich schon in irgendeinem schnell herbeigeschafften Second Hand-Fummel heiraten.“

„Mein liebes Kind, Tante Dolly ist zwar nicht mehr die Jüngste, ihre Augen sind nicht mehr die Besten, und sie mag auch nicht mehr so schnell arbeiten wie eine junge Schneiderin, aber das, was sie näht, kann sich noch immer sehen lassen, und wenn sie sagt, dass das Kleid rechtzeitig fertig wird, kannst du dich hundertprozentig darauf verlassen.“

„Dein Wort in Gottes Ohr“, stöhnte Karina.

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