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Als Karina die Seeberg-Klinik verlassen durfte, holte Hardy sie mit einem funkelnagelneuen Rollstuhl mit Sensorik und Steuer-PC ab.

Karinas Mann hatte sich von einem Fachmann beraten lassen, und dieser hatte ihm erklärt: „Das Gerät wurde in diesem Jahr auf der Hannover-Messe vorgestellt. Es unterstützt den Menschen bei der feinmotorisch sehr anspruchsvollen Aufgabe des Türdurchfahrens, indem bei der Annäherung an die Türöffnung zunächst allmählich abgebremst wird, während das Lenken vorerst noch dem Menschen überlassen bleibt. Kurz vor der Tür übernimmt dann der Rechner auch noch das Lenken und steuert das siebzig Zentimeter breite Gefährt sicher durch die Tür. Wenn Sie diesen Rollstuhl kaufen, erwerben Sie den größtmöglichen Komfort für Ihre behinderte Frau.“

Der letzte Satz hatte den Ausschlag gegeben.

Als Karina den Rollstuhl nun sah, brach sie in Tränen aus. Darin würde sie nun ihr ganzes Leben verbringen müssen. Es war hart für sie, sich an diese Aussichten zu gewöhnen.

Hardy half ihr in den Stuhl. Wie das intelligente Fahrzeug zu bedienen war, würde er ihr zu Hause erklären. Als er den Rollstuhl aus der Klinik schob, sagte er: „Daheim erwarten dich einige Überraschungen, Schatz.“

„Hast du im Keller einen Aerobic Raum für mich eingerichtet?“, fragte sie bitter.

Er ging nicht auf ihre gallige Bemerkung ein, schob sie zu seinem Wagen und brachte sie nach Hause. Er war hundemüde, Ließ es sich aber nicht anmerken.

Tag und Nacht hatte er gearbeitet. Jede freie Minute hatte er dafür verwendet, das Haus so zu gestalten, dass Karina auch ohne fremde Hilfe darin leben konnte.

Aus dem Wohnzimmer war ein Wohn-Schlafzimmer geworden, und der Vorratsraum neben der Küche war jetzt ein Bad mit tief gezogenem Spiegel und einem Waschbecken, dessen Höhe dem Rollstuhl angepasst war.

Auch die Handtuchhalter und die Haken für die Bademäntel waren so tief montiert, dass Karina sie vom Rollstuhl aus bequem erreichen konnte.

Das meiste hatte Hardy selbst gemacht. Stolz präsentierte er seiner Frau sein gelungenes Werk, und sie weinte dankbar und traurig.

Sie müssten beide lernen, mit Karinas Behinderung umzugehen. Anfangs erledigte Hardy noch zu viele Handgriffe für sie, doch mit der Zeit ließ er sie immer mehr selbst tun, weil er fand, dass das ihr Selbstbewusstsein stärkte.

Sie brauchte so viele Erfolgserlebnisse wie möglich, damit sie das Gefühl verlor, bloß weil sie im Rollstuhl saß, ein minderwertiger Mensch zu sein.

Karina handhabte ihren Rollstuhl immer besser, und sie wurde zusehends selbständiger. Sie kochte und hielt das Haus sauber, so gut es ging.

Was sie nicht konnte, erledigte Hardy, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Es war für ihn eine Selbstverständlichkeit. Und ihm ging das Herz auf, wenn es ihm hin und wieder gelang, seine geliebte Frau zum Lachen zu bringen.

Wenn er nicht unterrichtete, war er mit Karina zusammen. Er fuhr mit ihr durch den Englischen Garten, sie machten wie früher ihre Schaufensterbummel (nur dass Karina jetzt nicht mehr neben ihm ging, sondern im Rollstuhl saß) und sie fuhren gemeinsam zum Supermarkt.

Karina wirkte nach außen hin ruhig und ausgeglichen. Es hatte den Anschein, als habe sie sich mit ihrer Behinderung abgefunden, aber dem war nicht so.

Sie trug die Hölle in sich, wurde mit ihrem Leben im Rollstuhl einfach nicht fertig. Sie sah jeden Tag Menschen, denen es gegönnt war, auf ihren gesunden Beinen durchs Leben zu gehen, ohne sich dieser unschätzbaren Gnade überhaupt bewusst zu sein. Es war eine Selbstverständlichkeit für sie.

Aber das ist es nicht, dachte Karina todunglücklich. Es ist absolut keine Selbstverständlichkeit, gehen zu können! Doch das weiß man erst, wenn man, wie ich, im Rollstuhl sitzt.

Sie zwang sich, sich und allen andern etwas vorzuspielen. Sie war nur noch ganz tief in ihrem Inneren sie selbst. Jeder, der mit ihr sprach, gewann sehr schnell den Eindruck, sie hätte sich und ihr Leben im Rollstuhl bestens im Griff, und man bewunderte ihre Stärke.

Karina Evers ist eine Frau, die sich nicht unterkriegen lässt, hieß es allgemein. An der kann man sich ein Beispiel nehmen, die gibt sich nicht geschlagen.

Es war eigentlich ganz leicht, ihre Umwelt zu täuschen. Sogar ihr Mann merkte es nicht. Aber ihre Seele befand sich in einer katastrophalen Verfassung.

Am meisten litt sie darunter, dass sie ihrem jungen Mann keine vollwertige Frau mehr sein konnte. Hardy beklagte sich zwar nie, aber er war gesund und jung ...

Fehlt ihm tatsächlich nichts?, fragte sich Karina immer wieder zweifelnd. Wie lange wird er wohl auf Sex verzichten können? Wie lange wird es wohl dauern, bis er diese erzwungene Enthaltsamkeit nicht mehr durchsteht und hinter meinem Rücken mit einer anderen Frau ... O Gott! Es wäre schrecklich für mich. Ich könnte es nicht ertragen.

Manchmal, wenn er ihren Rollstuhl durch die Straßen schob, glaubte sie zu sehen, wie er heimlich attraktiven Frauen nachschaute. Oder bildete sie es sich nur ein? Himmel, wenn sie doch nur Gewissheit gehabt hätte. Früher war sie mit ihrer Eifersucht gut klargekommen. Früher hatte sie aber auch nicht das Gefühl gehabt, minderwertig zu sein. Früher hatte sie mit jeder anderen Frau konkurrieren können.

Inzwischen war sie jedoch nur noch Ausschuss, und höchstwahrscheinlich blieb Hardy nur noch aus zwei Gründen bei ihr: Erstens, weil schwere Schuldgefühle ihn plagten, und zweitens, weil er Mitleid mit ihr hatte.

An einem Freitagnachmittag fuhren sie zum Supermarkt. Ein kleines Grillfest war geplant. Karinas Eltern und ihre Schwester waren eingeladen und wenn Nina gerade einen Freund hatte, durfte sie auch den mitbringen.

Karina hatte mit ihrem Mann eine Einkaufsliste erstellt, und sie schwärmten im großen Supermarkt in alle Richtungen aus, um zusammenzutragen, was sie benötigten. Treffpunkt war immer wieder der Einkaufswagen, den Hardy alle paar Minuten ein Stück weiterschob.

Zum Nachtisch würde es Vanilleeis mit heißen Sauerkirschen geben. Karina legte die Eis-Großpackung und zwei Gläser mit dunkelroten Sauerkirschen zu den bereits im Wagen liegenden Lebensmitteln.

Hardy kam aus der anderen Richtung mit Mixed Pickles, Senf und Essiggurken. „Und jetzt hole ich einen Kasten Bier“, sagte er.

„Und drei, vier Flaschen Mineralwasser“, wies Karina ihn an.

„Wird gemacht, Chef“, sagte Hardy lächelnd.

„Ich kümmere mich um das Knabbergebäck.“

„In Ordnung“, sagte Hardy und stellte sich hinter den Einkaufswagen. „Neuer Treffpunkt: Frischfleischtheke.“

Karina holte Kartoffelchips, Salzstangen, Popcorn und gesalzene Erdnüsse aus dem Regal. Als sie sich mit ihrem Rollstuhl umdrehte, gab es ihr plötzlich einen schmerzhaften Stich. Sie zog die Luft scharf ein. Ihr war, als wäre ihr Herz mit einer glühenden Nadel durchbohrt worden. Ihre Augen weiteten sich und sie wurde blass.

Sie sah Hardy. Er sprach mit einer jungen Frau, lächelte, strahlte sie an. Er schien sie zu kennen. Karina jedoch wusste nicht, wer sie war.

Es missfiel ihr, dass die andere bildhübsch war. Ihr langes Haar war blond und glänzte wie Seide. Sie trug ein Kleid, in dem sie auf jeder Cocktailparty hätte erscheinen können, und ihre Beine waren lang und wohlgeformt. Karina sah in ihr sofort eine gefährliche Rivalin.

Wenn sie will, kann sie mir meinen Mann jederzeit abspenstig machen, dachte sie. Wenn sie es darauf anlegt, kann sie mir meinen Mann ganz leicht wegnehmen. Die Enthaltsamkeit hat Hardy bestimmt schon sehr schwach gemacht, und es wird mit Sicherheit von Tag zu Tag schwieriger für ihn, mir treu zu bleiben ...

Hardy sagte etwas. Die Blonde lachte übertrieben herzlich. Ihr gefiel Hardy ganz offensichtlich. Es wäre ihm garantiert nicht schwergefallen, sich mit ihr zu verabreden.

Vielleicht hatte er es schon mal getan, oder er tat es in diesem Augenblick. Karina hätte zu gerne gewusst, was die beiden miteinander redeten.

Ob ich näher an sie heranfahren soll?, ging es ihr durch den Sinn. Sie sind so sehr aufeinander fixiert, dass sie mich nicht bemerken würden. Ich könnte sie eventuell, geschützt vom Weinregal, belauschen ... Karina schüttelte sich. Schäbig, überhaupt daran zu denken! wies sie sich energisch zurecht. Schäm dich, Karina Evers. So etwas ist deiner nicht würdig.

Das Gespräch fand einen heiteren Ausklang, die Blonde lachte noch einmal, schob ihren Einkaufswagen (sein Inhalt ließ darauf schließen, dass sie allein lebte) dann weiter und verschwand in Richtung Backwaren.

Karina fuhr zu ihrem Mann. Ihr Herz hämmerte aufgeregt, und sie hatte Mühe, sich nicht anmerken zu lassen, wie die Eifersucht sie quälte.

„Wer war das?“, fragte sie mit belegter Stimme.

„Wer?“, fragte Hardy zurück.

Musste er den Ahnungslosen spielen, wenn er ein reines Gewissen hatte?

„Die blonde Frau“, sagte Karina, innerlich vibrierend.

„Ach, die.“

„Wer war das?“, wollte Karina wissen.

„Sandra Schütt“, sagte Hardy.

„Und wer, bitteschön, ist Sandra Schütt?“

„Eine neue Kollegin. Sie unterrichtet Biologie, ist erst seit drei Wochen an unserer Schule.“

„Ist sie nett?“

„Sie ist noch zu weich, kann sich bei den Schülern noch nicht richtig durchsetzen.“

„Sie ist nicht verheiratet, nicht wahr?“

„Sie ist ledig, ja.“

„Wie sie aussieht, wird sie das wohl nicht mehr lange bleiben“, sagte Karina.

„Sie hat eine schlimme Enttäuschung hinter sich, will vorläufig von Männern nichts mehr wissen.“

„So?“, sagte Karina spitz. „Diesen Eindruck hatte ich aber nicht.“ Ihre Augen wurden schmal. „Sie hat mit dir geflirtet.“

„Unsinn, das bildest du dir ein. Sie war bloß freundlich.“

„Gefällt sie dir?“

„Was soll die Frage, Liebes?“

„Sie hat wunderschöne Beine.“

„So genau habe ich sie mir noch nicht angesehen.“

„Gesunde Beine.“

„Ach, Karina.“

Sie senkte den Kopf, damit er die Tränen in ihren Augen nicht sehen konnte.

Der Arztroman Koffer Oktober 2021: Arztroman Sammelband 10 Romane

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