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Der Rest der Hochzeitsnacht war grauenvoll für Hardy. An Schlaf war nicht zu denken. Er lief orientierungslos im Haus umher, weinte, schrie und tobte und wurde schließlich ganz still. Als es draußen endlich hell wurde, stand er am Fenster und sah zu, wie die Sonne aufging.

Ein neuer Tag brach an. Ein grauenvoller Tag. Hardy hasste ihn, und er hasste die Sonne, die für alle Menschen schien – nur nicht für Karina und ihn.

Unsere Tage werden von nun an immer trist und grau sein, dachte er verzweifelt. Und ich habe das verschuldet! Hardy Evers, dich hasse ich am allermeisten. Das alles hast du ihr eingebrockt. Und was für eine Strafe bekommst du dafür? Keine. Hast dir nicht mal was gebrochen, nichts verstaucht, nichts geprellt und nichts verrenkt, während Karina ... Ist das nicht teuflisch ungerecht?

Er sah sich an, er trug noch immer seinen Hochzeitsanzug. Heute hätten ihre Flitterwochen beginnen sollen. Karibik. Jamaika. Sonne. Sand. Meer. Grenzenloses Glück ... Er zog den Anzug aus, ging ins Bad, duschte, rasierte sich. Du darfst dich nicht gehenlassen, ermahnte er sich, darfst deine Frau in der Seeberg-Klinik nicht bartstoppelig und ungekämmt besuchen.

Er stutzte. Läutete das Telefon? Er öffnete die Tür und trat aus dem Bad. Ja, das Telefon läutete. Wie oft schon? Hatte es noch einen Sinn, an den Apparat zu eilen?

Er rannte los, doch kurz bevor er das Telefon erreichte, hörte es auf zu läuten. Er riss dennoch den Hörer an sein Ohr und rief: „Hallo!“

Nichts. Stille. Die Leitung war tot. Hardy ließ den Hörer auf den Apparat fallen und machte sich fertig. Anschließend zwang er sich, Kaffee zu trinken. Essen konnte er nichts. Keinen Bissen hätte er runtergebracht.

„Karina“, flüsterte er niedergeschlagen. „Du hast dich so sehr über deinen Job gefreut, warst so glücklich, dass Rolf Stokowski dich als neue Turnlehrerin akzeptierte ... Und nun ... Aus der Traum ... Eine Turnlehrerin im Rollstuhl...“ Er schleuderte die leere Kaffeetasse an die Wand. Sie zerplatzte in Hunderte von Scherben. „Verdammt! Verdammt! Verdammt!“, brüllte er verzweifelt.

Sobald er sich einigermaßen beruhigt hatte, sammelte er die Scherben und Splitter ein und warf sie in den Abfalleimer. „Karinas Eltern ...“, murmelte er konfus. „Ihre Schwester ... Es weiß noch niemand von dem furchtbaren Unglück. Ich muss es ihnen sagen. Ich muss es allen sagen.“

Er rief seine Schwiegereltern an, und es ging beinahe über seine Kräfte, sie zu informieren. Er brach zwischendurch immer wieder in Tränen aus und war nicht zu verstehen.

Anschließend rief er Nina an und Tante Dolly und Onkel Edi und nahezu alle, die an der ausgelassenen Hochzeitsfeier teilgenommen hatten.

Etwas zwang ihn, sich auf diese Weise an den Pranger zu stellen und sich selbst zu geißeln. Er beschönigte nichts, erfand keine Entschuldigungen, übernahm für das Verbrechen, das er an seiner gesunden Frau begangen hatte, die volle Verantwortung.

Als er schließlich die Seeberg-Klinik aufsuchte, sehnte er Gottes Zorn auf sich herab und hoffte, von einem Blitz aus heiterem Himmel erschlagen zu werden, doch nichts geschah.

Das grausame Schicksal ließ ihn am Leben und leiden.

Es zerriss ihm beinahe das Herz, als er Karina erblickte, und ihm war, als würde ihm eine eiskalte Hand die Kehle zudrücken, so dass er keinen Ton herausbrachte.

Als Karina ihn sah, fing sie an zu weinen, und er weinte mit ihr. Er wollte ihr sagen, wie leid es ihm tat, was er getan hatte, wollte sie um Verzeihung bitten, doch kein Wort kam über seine Lippen.

Erst nachdem seine Tränen versiegt waren, fand er seine Stimme wieder, aber was sollte er sagen? Dass alles wieder gut werden würde? Wäre das nicht der Gipfel des Zynismus gewesen? Wie sollte denn alles wieder gut werden, wenn Karina gelähmt war? Wenn sie sich nur noch in einem Rollstuhl fortbewegen, wenn sie nie wieder einen Schritt tun konnte ...

„Verzeih mir, Karina“, flehte er bebend. „Ich, ich wollte das nicht! Wenn ich geahnt hätte ... Herrgott, wenn man das Rad der Zeit doch bloß zurückdrehen könnte ... Wenn ich das Unglück doch nur ungeschehen machen könnte ... Oder wenn ich wenigstens mit dir tauschen könnte ... Ich würde keine Sekunde zögern ... Der Himmel prüft uns sehr hart, Liebes. Wir müssen diese Prüfung bestehen. Ich werde für dich tun, was ich kann, werde immer für dich da sein ... Dieses furchtbare Ereignis hat nichts an meiner Liebe geändert. Wir gehören auch weiterhin zusammen ... Ich bin nach wie vor dein Ehemann, in guten wie in schlechten Zeiten will ich zu dir halten, das habe ich gelobt und daran werde ich mich halten ... Du kannst dich auf mich verlassen. Du bist nicht allein. Gemeinsam sind wir stark ...“ Aus Karinas Augen quollen wieder Tränen. „Ach, Hardy, ich hätte so gern gelebt ... Mit dir. Für dich.“

„Aber du lebst doch.“

„Nein, Hardy, ich bin tot.“

„Das, das darfst du nicht sagen.“

„Meine Beine sind tot. Mein Herz ist tot ...“

„Du wirst lernen, dem Leben dennoch schöne Seiten abzugewinnen.“ Hardy verlieh seiner Stimme einen kriegerischen Klang. „Wir werden uns nicht unterkriegen lassen, Liebes. Wir werden dem Schicksal trotzen und um unser Glück kämpfen.“

Für Karina schienen das nur leere Worte zu sein. Hardy hatte nicht den Eindruck, dass sie auf fruchtbaren Boden fielen, und dabei hätte er ihr so gerne Mut gemacht.

An diesem und an den folgenden Tagen bekam Karina Evers sehr viel Besuch, und es flossen immer wieder Tränen. Ihre Eltern und ihre Schwester versuchten sie zu trösten, doch es gelang ihnen ebenso wenig wie Hardy.

Karina verkroch sich in ihrem „toten“ Körper und ließ niemanden an sich heran. Nach drei Wochen hatte sie sich noch immer nicht mit ihrem Schicksal abgefunden. Was immer die Menschen, die sie liebten, sagten, um sie aufzumuntern und zu motivieren, es kam nicht bei ihr an.

In der vierten Woche sagte Dr. Seeberg, es bestünde eventuell die Möglichkeit, ihr mit einem chirurgischen Eingriff zu helfen. „Es ist zwar nur ein Strohhalm, aber ich meine, Sie sollten ihn ergreifen“, riet er der jungen Patientin.

„Wie stehen die Chancen, dass ich nach der Operation wieder gehen kann?“, erkundigte sich Karina Evers nüchtern. „Fünfzig zu fünfzig?“

Dr. Seebergs Blick verdunkelte sich. „Vierzig zu sechzig?“

Dr. Seeberg vermochte sich nicht festzulegen.

„Dreißig zu siebzig?“

Dr. Seeberg hob die Schultern. Und Karina sagte: „Tut mir leid, Herr Doktor, ich bin kein Versuchskaninchen. Ich lasse mich von Ihnen nicht für nichts und wieder nichts aufschneiden.“

„Ich würde Ihnen keine Operation vorschlagen, wenn Sie überhaupt keine Chance hätten, Frau Evers.“

„Wie Sie sehen können, bin ich nicht gerade ein Glückskind, Herr Dr. Seeberg“, versetzte die junge Patientin emotionslos, „deshalb hätte es für jemanden wie mich auch wohl wenig Sinn, eine kaum vorhandene Chance wahrzunehmen.“

Am selben Tag sprach Dr. Seeberg mit Dr. Kayser über Karina Evers. Sie sahen sich die Röntgenbilder an, und Ulrich Seeberg erklärte seinem Freund, wie er der Patientin möglicherweise helfen könne. „Doch sie will bedauerlicherweise nichts von einem Eingriff wissen“, sagte der Klinikchef, der als Chirurg sogar über die Grenzen Deutschlands hinaus einen hervorragenden Ruf genoss.

„Du kannst ihr keine berauschend guten Aussichten anbieten“, sagte Dr. Kayser.

„Aber wenn sie rational abwiegt, was eventuell für sie drin ist, sollte sie nicht zögern, dieser Operation zuzustimmen.“

„Ich rede mit ihr“, entschied der Grünwalder Arzt und suchte das Krankenzimmer auf, in dem Karina lag. Er fragte, wie es ihr gehe.

„Wie soll es mir schon gehen?“, gab Karina bedrückt zurück. „Ich liege die meiste Zeit hier herum und kann meine Beine nicht bewegen.“

„Ich war gerade eben bei Dr. Seeberg“, erzählte Sven Kayser, um das Gespräch in die gewünschte Richtung zu lenken.

„Er möchte mich operieren.“

„Aber Sie haben abgelehnt ...“

Ein kleines Lächeln zuckte über Karinas Gesicht. „Dr. Seeberg ist Chirurg. Wenn er niemanden findet, der sich von ihm aufschneiden lässt, verliert er seine Daseinsberechtigung.“

„Sie haben nicht ganz unrecht, manche Chirurgen sind wirklich ein bisschen zu schnell mit dem Skalpell zur Hand, aber zu dieser Sorte gehört mein Freund mit Sicherheit nicht, das können Sie mir glauben.“

„Wenn die Chancen fünfzig zu fünfzig gestanden hätten, hätte ich mich operieren lassen“, sagte Karina Evers, „aber Dr. Seeberg hatte mir nur einen dünnen Strohhalm anzubieten, und nach dem zu greifen habe ich mich geweigert. Ich habe in meinem Leben schon an Hunderten Preisausschreiben teilgenommen und noch nie etwas gewonnen. Nicht einmal einen Trostpreis. Wenn bei einer Tombola jedes Los gewinnt, räume ich billige Taschenmesser, aus der Mode gekommene Damenschuhe und grauenvoll gemusterte Halstücher ab, während andere einen prächtigen Geschenkkorb, ein halbes Schwein oder einen Flug nach New York gewinnen. Was ich damit zum Ausdruck bringen möchte, ist, dass es für mich keinen Sinn hat, nach einem Strohhalm zu greifen, weil ich garantiert mit ihm untergehen würde. Ich habe kein Glück.“

„Das stimmt nicht“, widersprach Dr. Kayser der jungen Patientin.

„Wann hatte ich schon mal Glück?“, wollte sie von ihm wissen.

„Als Ihnen Hardy Evers begegnete“, antwortete Dr. Kayser, ohne nachzudenken. „Und wer weiß“, fuhr er fort, „vielleicht haben Sie wieder Glück, wenn Dr. Seeberg Sie operiert.“

Karina schüttelte entschieden den Kopf.

„Haben Sie Angst vor dem Eingriff? Fürchten Sie sich vor den Schmerzen?“

„Ich kann Schmerzen ertragen“, erwiderte Karina ernst. „Wovor ich Angst habe, ist es, enttäuscht zu werden. Zuerst weckt Dr. Seeberg eine kaum vorhandene Hoffnung in mir, und hinterher sagt er: ‘Tut mir leid, wir waren zum Zeitpunkt der Operation wohl beide nicht besonders gut bestrahlt.’ Nein, danke, darauf kann ich verzichten.“

Das war Karinas Standpunkt, und dabei blieb sie. Es war Dr. Sven Kayser nicht möglich, sie zur Einsicht zu bringen und umzustimmen.

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