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Fünftes bis achtes Bändchen
XXXIII
Wie die Karten immer Recht haben

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Der Bewachung des Pferdes überhoben, suchte Jean Robert umher tappend die Leiter, deren Lage ihm durch Salvator bezeichnet worden war, welcher ihn von der Polizei zurückkehrend zuerst beim Rendez-vous gefunden.

Wir könnten eine gute Anzahl Scherze über die Leitern, die Speicher und die Dichter machen; Jean Robert hatte aber, wie gesagt, ein Pferd, ein treffliches Halbblutpferd, das seine fünf Meilen in der Stunde zurücklegte. Jean Robert trat also aus der Kategorie der Dichter mit den Leitern und den Speichern heraus.

Beim Anblicke von Salvator hatte die Alte ihr Kartenspiel fallen lassen und einen tiefen Seufzer ausgestoßen; die Hunde waren in ihren Korb zurückgekehrt; die Krähe hatte wieder ihren Platz auf dem Balken eingenommen.

Als Jean Robert eintrat, sah er also nur eine Gruppe, welche als pittoresk das Malerauge seines Freundes Petrus ergötzt hätte und eben durch dieses Pittoreske sich unmittelbar seinen Dichterherzens bemächtigte.

Das war die Gruppe, welche aus der auf einem Schämel sitzenden alten Kartenschlägerin, aus Babolin, der zu ihren Füßen lag, und und Rose-de-Noël bestand, welche an ihrer Seite an den Pfeiler angelehnt war.

Die Brocante erwartete offenbar mit Bangigkeit, was Salvator sagen würde.

Die zwei Kinder lächelten diesem wie einem Freunde zu, jedes aber mit einem andern Ausdrucke.

Bei Babolin war dieses Lächeln das der Heiterkeit, bei Rose-de-Noël war es das Lächeln der Schwermuth.

Doch zum großen Erstaunen der Brocante schien Salvator dem, was vorgefallen, keine Aufmerksamkeit zu schenken.

»Ihr seid es, Brocante?« sagte er. »Wie geht es Rose-de-Noël?«

»Gut, Herr Salvator, sehr gut!« antwortete das Mädchen.

»Nicht Dich frage ich das, armes Kind, sondern diese Frau.«

»Sie hustet ein wenig,« erwiderte die Alte.

»Ist der Arzt da gewesen?«

»Ja, Herr Salvator.«

»Was bat er gesagt?«

»Wir müssen vor Allem diese Wohnung verlassen.«

»Er hat wohl daran gethan, Euch dies zu sagen; ich sage es Euch schon lange, Brocante.«

Sodann strenger und die Stirne faltend:

»Warum hat dieses Kind noch nackte Beine und und Füße?«

»Es will weder Strümpfe, noch Scheibe anziehen, Herr Salvator.«

»Ist das wahr, Rose-de-Noël?« fragte der junge Mann mit Sanftmuth, jedoch mit einem Tone, in dem ein gewisser Vorwurf lag.

»Ich will keine Strümpfe anziehen, weil ich nur grobe wollene Strümpfe habe; ich will keine Schuhe anziehen, weit ich nur plumpe lederne Schuhe habe.«

»Warum kauft Dir die Brocante nicht baumwollene Strümpfe und Schuhe von Ziegenfell?«

»Weil das zu teuer ist, Herr Salvator, und weil ich zu arm bin.«

»Du irrst Dich, das ist nicht theuer,« entgegnete Salvator, »Du lügst, Du bist nicht arm.«

»Herr Salvator!«

»Schweige! Und höre wohl, was ich Dir sage.«

»Ich höre, Herr Salvator.«

»Und Du wirst gehorchen?«

»Ich werde mich bemühen.«

»Und Du wirft gehorchen?« wiederholte der junge Mann mit gebietendem Tone.

»Ich werde gehorchen.«

»Wenn Du in acht Tagen, – Du hörst mich wohl? wenn Du in acht Tagen nicht ein Zimmer für Dich und Babolin, ein Cabinet mit Luft und Sonne für dieses Kind, und einen besonderen Stall für die Hunde gefunden hast, so nehme ich Rose-de-Noël von Dir.«

Die Alte umschlang mit ihrem Arme den Leib des Mädchens und drückte es an sich, als hätte Salvator seine Drohung auf der Stelle verwirklichen wollen.

»Sie würden mir das Kind entziehen? mein Kind, das seit sieben Jahren bei mir ist?«

»Bei Allem ist es nicht Dein Kind,« erwiderte Salvator, »es ist ein von Dir gestohlenes Kind.«

»Gerettet, Herr Salvator, gerettet!«

»Gestohlen oder gerettet, Du wirst die Sache mit Herrn Jackal erörtern.«

Die Brocante schwieg, drückte aber das Kind nur um so stärker an sich.

»Uebrigens bin ich nicht deshalb gekommen,« fuhr Salvator fort; »ich bin wegen des armen jungen Mannes gekommen, den Du, als ich eintrat, zu plündern im Zuge warst.«

»Ich plünderte ihn nicht, Herr Salvator: ich nahm, was er mir freiwillig gab.«

»Den Du also täuschest?«

»Ich täuschte ihn nicht: ich sagte ihm die Wahrheit.«

»Woher mußtest Du die Wahrheit?«

»Durch die Karten.«

›Du lügst!«

»Die Karten haben aber . . . «

»Die Karten sind ein Mittel der Prellerei.«

»Herr Salvator, beim Haupte von Rose-de-Noël: Alles was ich ihm gesagt habe, ist wahr.«

»Was hast Du ihm gesagt?«

»Er liebe ein blondes Mädchen von sechzehn bis siebzehn Jahren.«

»Wer hat Dir das gesagt?«

»Das stand in den Karten.«

»Wer hat Dir das gesagt?« wiederholte gebietend Salvator.

»Babolin, der es im Quartier erfahren hat!«

»Das ist also das Handwerk, das Du treibst?« sprach Salvator zu Babolin.

»Verzeihen Sie, Herr Salvator, ich glaubte nicht, ich thue etwas Schlimmes, wenn ich dies Brocante mittheile; es ist im Faubourg Saint-Jacques bekannt, daß Herr Justin in Mademoiselle Mina verliebt war.«

»Fahre fort, Brocante. Was hast Du ihm noch gesagt?«

»Ich habe ihm gesagt, das Mädchen liebe ihn; es habe ein Heirathsproject stattgefunden, dieses Project sei aber durch eine unerwartete Geldsumme zerstört worden.«

»Wer hat Dir das gesagt?«

»Ei! Herr Salvator, der Kreuzzehn bedeutet Geld und der Schüppenacht gescheiterten Plan

»Wer hat Dir das gesagt?« wiederholte Salvator, der immer ungeduldiger wurde.

»Ein guter Pfarrer, Herr Salvator, ein guter alter Pfarrer, der gewiß Nicht log. Er sagte unter einer Gruppe von Leuten, die ihn befragten: ›Und wenn man bedenkt, daß eine Summe von zwölftausend Franken . . . »Ich weiß nicht, ob es zehn oder zwölf waren.«

»Gleichviel.«

›Und wenn man bedenkt,»sagte der gute alte Pfarrer, ›daß eine Summe von zwölftausend Franken, die ich gebracht habe, an diesem ganzen Unglück Schuld ist!«

»Gut, Brocante! Und was hast Du ihm dann noch gesagt?«

»Ich habe ihm gesagt, Mademoiselle Mina sei durch einen brünetten jungen Mann entführt worden.«

»Woher weißt Du das?«

»Herr Salvator der Schüppenbube13 war da, sehen Sie, und der Schüppenbube . . . «

»Woher weißt Du, daß das Mädchen entführt worden ist?« wiederholte Salvator mit dem Fuße stampfend.

»Ich habe es gesehen, mein Herr.«

»Wie, Du hast Es gesehen?«

»Wie ich Sie seh.«

»Wo dies?«

»Auf der Place Maubert.«

»Du hast Mina auf der Place Maubert gesehen?«

»Heute Nacht-.

Herr Salvator, heute Nacht . . . Ich hatte so eben die Rue Galande gemacht, ich machte die Place Maubert; plötzlich fährt ein Wagen so rasch vorüber, daß man hätte glauben sollen, er werde vom Winde getragen; das Fenster senkt sich; ich höre rufen: »Zu Hilfe! Herbei! zu Hilfe! man entführt mich!« und ein hübsches blondes Köpfchen, ein wahres Cherubsköpfchen kommt aus dem Schlage hervor. Zugleich erscheint ein zweiter Kopf . . . der eines brünetten jungen Mannes mit Schnurrbart. Er zieht die Schreiende zurück und schließt das Fenster wieder; doch diejenige, welche man entführte, hatte Zeit gehabt, einen Brief hinauszuwerfen.«

»Und dieser Brief? . . . «

»Ist der, welcher mit der Adresse von Herrn Justin bezeichnet war.«

»Um wie viel Uhr war das, Brocante?«

»Es mochte Morgens um sechs Uhr sein, Herr Salvator.«

»Gut! Ist das Alles?«

»Ja, es ist Alles.«

»Beim Haupte von Rose-de-Noël?«

»Beim Haupte von Rose-de-Noël!«

»Warum hast Du nicht ganz einfach Herrn Justin die Sache erzählt, wie sie sich zugetragen?«

»Ich habe mich in Versuchung führen lassen: er wird sagen, was ihm begegnet ist, und das wird mir Kunden bringen!«

»Höre, Brocante, hier ist ein Louis d’or dafür, daß Du die Wahrheit gesprochen,« sagte Salvator; doch von diesem Louis d’or wirst Du dem Kinde drei Paar baumwollene Strümpfe und ein Paar Schuhe von Ziegenfell kaufen.«

»Ich will rothe Schuhe, Herr Salvator,« sagte Rose-de-Noël.

»Du wirst sie von der Farbe nehmen, die Dir beliebt, mein Kind,« erwiderte Salvator.

Und sich an die Brocante wendend:

»Du hast gehört, finde ich Dich in acht Tagen, auf den Tag, auf die Stunde, noch hier; so nehme ich Rose-de-Noël fort!«

»Oh! Oh!« murmelte die Alte.

»Und Du, Rose, wenn ich Dich noch mit nackten Füßen treffe, so lasse ich Dich kleiden, wie Du warst, als ich Dich vor fünf Jahren zum ersten Male sah.«

»Oh! Herr Salvator!« rief die Kleine.

Er näherte sich sodann zum letzten Male der Alten und sprach halblaut zu ihr:

»Brocante, vergiß nicht, daß Du mir für dieses Kind mit Deinem Kopfe haftest! Lässest Du es vor Kälte in Deinem Speicher sterben, so lasse ich Dich vor Kälte, Hunger und Elend in einem Kerker sterben.«

Nach dieser Drohung neigte er sich zu der Kleinen, welche ihrerseits ihre Stirne seinem Kusse entgegenbot.

Und die Stube verlassend, winkte er Jean Robert ihm zu folgen.

Jean Robert warf einen letzten Blick auf die Alte und die zwei Kinder und ging hinter Salvator hinaus.

»Was für ein seltsames Mädchen ist das?« fragte er Salvator, als sie auf die Straße kamen.

»Gott allein weiß es!« antwortete dieser.

Und während sie die Rue Copeau und die Rue Monffetard hinabgingen, erzählte er dem Dichter das Ereigniß der Nacht vom 20. August, und wie die Kleine, deren Schönheit eine so mächtige Wirkung auf ihn hervorgebracht, in die Hände der Brocante gefallen war und sich nun, eine Perle, mitten in diesem Misthaufen befand.

Die Geschichte war nicht lang, wie man weiß: als die zwei jungen Leute auf den Pont-Neuf kamen, war sie beendigt.

»Hier!« sagte Salvator, während er sich an das Gitter der Statue von Heinrich IV. anlehnte.

»Sie halten hier an?« fragte Jean Robert.

»Ja.«

»Warum halten wir hier an?«

»Um zu warten.«

»Worauf wollen Sie warten?«

»Auf einen Wagen!«

»Wohin soll er uns führen?«

»Oh! Mein Lieber, Sie sind sehr neugierig.«

»Aber . . . «

»Als dramatischer Dichter wissen Sie, daß es ein Talent ist, mit dem Interesse haushälterisch umzugehen.«

»Wie Sie wollen . . . Warten wir.«

Sie warteten übrigens nicht lange.

Nach zehn Minuten drehte sich ein mit zwei kräftigen Pferden bespannter Wagen um den Quai des Orfèvres und hielt vor der Statue von Heinrich IV. an.

Ein Mann von ungefähr vierzig Jahren öffnete den Schlag vom Innern aus, wo er saß, und sagte:

»Geschwinde, geschwinde!«

Die beiden jungen Leute stiegen ein.

»An den bewußten Ort,« sagte der Mann im Wagen zum Kutscher. Und der Wagen ging im Galopp ab, drehte sich am Ende des Pont-Neuf und eilte auf dem Quai de l’Ecole fort.

13

Schüppen-bube – die Spielkarte Pikbube’

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