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Das eigenständige Verständnis der Christologie in der „Kirche des Ostens“
ОглавлениеAntiochien war die erste Stadt, in der es Christen gab, die sowohl aramäisch als auch griechisch dachten und mehrheitlich keine Juden waren. Theologisch haben sich dabei von Antiochien aus verschiedene theologische Überzeugungen entwickelt. Im Folgenden gilt die Konzentration einer Weiterentwicklung dieses theologischen Denkens, das unter dem Begriff „antiochenische Schule“ bzw. „antiochenische Theologie“ gefasst wird. Diese Weiterentwicklung gelang durch die Aufnahme des Heiligen Geistes in ihr Denken. Diese sogenannte „antiochenische Theologie“ wurde zur Grundlage des Denkens der „Kirche des Ostens“.
Im 3. Jahrhundert wurde dann Edessa zum Zentrum einer bestimmten Art von Christentum19. Die Eroberung Antiochiens durch die Sassaniden im Jahr 260 hatte diese Entwicklung mit beschleunigt. Die meisten Klöster und Gemeinden der „Kirche des Ostens“ lagen außerhalb des römisch-byzantinischen Reiches und waren dem machtpolitischen Einfluss von Byzanz entzogen. Isoliert von ihrer Heimat, haben diese Christen im fernen Persien ihre Christologie weiterentwickelt, ohne dass es zu theologischen Auseinandersetzungen mit den westlichen Christen gekommen wäre. Das hatte erhebliche Konsequenzen für ihre Sicht der Christologie. Denn das ostsyrische Christentum war zunächst nicht direkt einbezogen in die christologischen Kontroversen, die im römisch-byzantinischen Reich stattfanden20. Diese weitgehend selbständige Entwicklung der „Kirche des Ostens“ durch die politische wie geographische Trennung von der Kirche im römisch-byzantinischen Reich ist nicht zu unterschätzen.
Theologisch und kirchenpolitisch geriet sie dennoch unter Druck21, weil sie die Verurteilung des der „antiochenischen Theologie“ nahe stehenden Bischofs Nestorius auf dem Konzil von Ephesus im Jahre 43122 nicht nachvollziehen konnte und deshalb nicht mitgetragen hat. Durch die Verurteilung des Nestorius mussten zahlreiche als „nestorianisch“ geltenden Theologen und Christen in den ostsyrischen Raum auswandern. Damit wurde die innerkirchliche Trennung noch verstärkt. Nestorius galt und gilt bis heute als wichtiger spiritueller Lehrer und Theologe der ostsyrischen Kirche23. Man sieht ihn nicht als Häretiker und falschen Lehrer an, sondern sieht ihn „als Märtyrer für die Sache der antiochenischen Theologie“24. In der Kirchengeschichte war er auch einer der ersten Theologen, die versuchten, die Inkarnation (die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus) wirklich so zu durchdenken, dass sie eine Lösung für die christologischen Probleme darstellte, die durch Arius und Apollinarius aufgekommen waren.
Diese „antiochenische Theologie“ lässt sich als eine Fortentwicklung und schließlich als Überwindung eines im 2. Jahrhundert in Syrien verbreiteten Denkens werten. Nach diesem Denken unterschied z.B. die apokryphe syrische „Apostelgeschichte des Thomas“ klar zwischen dem, was Jesus Christus als Mensch und was er als Gott tat25. Man konnte noch nicht die Beziehung zwischen Gott und Mensch tiefgründig genug beschreiben.
Lucian von Antiochien (um 300, dessen Denken später auch Arius geprägt hat) wird diese „Apostelgeschichte des Thomas“ und das „Thomasevangelium“ sowie weitere syrische Schriften gekannt haben. Hymnen aus diesen Schriften beschreiben die Notwendigkeit ethischer Bewährung zur Gewinnung des Heils: „Weil ich ihn, den Sohn, liebe, werde auch ich ein Sohn werden (…) Das ist der Geist Gottes, der nicht irren kann, der die Menschensöhne seinen Weg lehrt“. Auch die in dieser Zeit populären jüdisch-gnostischen „Oden Salomos“ besingen in poetischer Form das Heil des Individuums, wenn der Mensch mit dem Geist wie mit einem neuen Gewand bekleidet ist und sich zur Erlangung des Heils selbstverantwortlich bewährt.
Die Weiterentwicklung bestand vor allem darin, dieses ethisch-moralische Verständnis des Heils unter Zuhilfenahme des geschichtlichen Wirkens Gottes im Heiligen Geist zu überwinden. Im Folgenden wird das relational-existentielle Gottes- und Weltverständnis entfaltet, das – bei aller Unterschiedlichkeit – mit den syrischen Theologen Aphrahat, Theodor von Mopsuestia, Nestorius und Ephraem verbunden ist.
Zunächst nicht durch die hellenistische Theologie herausgefordert, konnte man ungebrochen auf „syrische Weise Christ sein“26. Die von Paul von Samosata (Bischof in Antiochien von 260–272) entwickelte Gottesvorstellung dürfte noch für viele syrische Gemeinden im 3. Jahrhundert bestimmend gewesen sein. Auch wenn die eigentliche Lehre Pauls nicht leicht zu rekonstruieren und wissenschaftlich umstritten ist, dürfte der Gedanke einer absoluten Transzendenz Gottes grundlegend für ihn gewesen sein. Danach offenbare sich dieser transzendente Gott durch den Gott-Logos in der Welt und wirke im Menschen Jesus als „unpersönliche göttliche Kraft“. Durch den auf ihm ruhenden Geist Gottes erreicht Jesus die Einheit mit der Liebe und dem Willen Gottes und wird „Herr“ und „Gott aus der Jungfrau“27. Jesus wurde also von Gott bzw. durch den Geist Gottes adoptiert und war nicht von Anfang an bei Gott. Weil er nach seinem Willen tat, was Gott wohlgefällig war, wurde er „Gottes Sohn“ genannt.
Der hier kurz beschriebene sogenannte Adoptianismus blieb letztlich (wie später bei Arius ebenso nachweisbar) bei einer „moralisch-ethischen“ Beziehung der beiden Naturen Christi stehen. Die Verbindung konnte nur im Gehorsam Jesu Gott gegenüber Ausdruck finden: Damit blieb sie aber hinter dem oben beschriebenen aramäischen (hebräischen) Denken zurück. Sie förderte ein Verständnis, nach dem der Mensch ohne sein eigenes Mittun keine Erlösung finden könne. Für das aramäische Denken ist hingegen die relational-existentielle Beschreibung der Beziehung zwischen Gott und der Welt bzw. der Menschheit wesentlich, durch die Gott sein Heil schafft. Eine relational-existentielle Weiterentwicklung der Christologie hat sich damit nicht erst aufgrund der hellenistischen Herausforderung ergeben, sondern hatte ihren wesentlichen Grund im aramäischen Denken selbst.
Folgerichtig blieb im Osten der Glaube im Großen und Ganzen gerade nicht so wie er war28. Die theologischen Beziehungen zum römisch-byzantinischen Reich waren ja nicht abgeschnitten. Dass sich die Verbreitung und Umsetzung der in griechischer Sprache verfassten Konzilsbeschlüsse von Nicaea innerhalb der syrischen Kirche nur langsam vollzogen hat, ist der komplexen religiösen und politischen Situation im Großraum Syrien geschuldet. Es war nicht zu erwarten, dass sich Konzilsbeschlüsse sofort in alle Regionen verbreiteten, waren doch die Teilnehmer solcher Treffen nur die Bischöfe und weitere Delegierte, die diese Entscheidungen erst mühevoll zu kommunizieren hatten.
Dabei ist eine eigenständige Weiterentwicklung der Christologie der „Kirche des Ostens“ zu beobachten, die durch das oben beschriebene aramäische Denken (diese „judenchristliche“ Grundhaltung) bestimmt war. Bereits auf ihrer Synode von Seleucia im Jahre 410 (also noch vor der Synode in Ephesus 431, auf der Nestorius verurteilt worden war!) hat die ostsyrische Kirche das Glaubensbekenntnis von Nicaea in einer syro-aramäischen Übersetzung angenommen und bestätigt und sich damit ausdrücklich gegen alle adoptianischen Lehren und insbesondere gegen Arius gestellt29. Das ist umso bemerkenswerter, da die Beschlüsse von Nicaea nur für alle Gemeinden im römisch-byzantinischen Herrschaftsbereich bindend waren und nicht außerhalb des Imperiums30. Es wird der noch zu schildernden komplexen Geschichte nicht gerecht, wenn man sagt, dass es vor allen Dingen ein vornicaenisches Christentum gewesen sei, dass sich im Osten verbreitete und den Islam in seiner Entstehung beeinflusst habe31.
Der syrisch-aramäische Charakter der ostsyrischen Theologie lag in ihrem speziellen Verhältnis zum göttlichen Geheimnis der Menschwerdung (Inkarnation) mit dem Akzent der Betonung der Transzendenz Gottes32. Wobei der Ausdruck „Transzendenz“ nur schlecht geeignet ist, „die unverfügbare Überlegenheit des in der Bibel bezeugten Gottes zu kennzeichnen, weil er im Gegensatz zu Immanenz formuliert ist und seinen Charakter von der geschichtslosen Gottheit der hellenistischen Antike bekommen hat“33. Mit dem Begriff „Transzendenz“ ist von daher auf hellenistischem Hintergrund die Weltferne und Distanzierung von der Welt verbunden, was gerade „das Gegenteil von dem (ist), was die Bibel aussagen möchte, wenn sie die Souveränität Gottes so kräftig unterstreicht (…) Diese Souveränität steht im Zeichen der Weltzuwendung“34, die in der Inkarnation am radikalsten zum Ausdruck kommt. Die Trennung Gottes von der Welt entsprach gerade nicht der Geschichtlichkeit des aramäischen Denkens.
Die Absicht war vielmehr, das Geheimnis Gottes zu wahren, dessen „Wesen“ insofern nicht mit dem von Jesus Christus identisch ist, da der eine Gott immer noch größer ist als das, was die Menschen in und durch Christus wahrnehmen können. Spekulationen über das „Sein Gottes an sich“ bzw. das „Sein Christi an sich“ waren vor diesem Hintergrund nicht wesentlich, mehr noch: Sie waren schädlich und sogar eine Anmaßung dem göttlichen Geheimnis gegenüber.